Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 10.08.2023, Az.: 16 U 44/23
Anspruch auf Schadensersatz wegen des Erwerbs eines PKW mit einer illegalen automatischen Abgasabschalteinrichtung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 10.08.2023
- Aktenzeichen
- 16 U 44/23
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2023, 52566
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Stade - 22.02.2023 - AZ: 4 O 187/22
Rechtsgrundlagen
- § 826 BG
- § 823 Abs. 2 BGB
Redaktioneller Leitsatz
Die für die Bemessung der Nutzungsentschädigung maßgebliche Gesamtlaufleistung eines Fahrzeugs ist nicht an der bei gesteigertem Erhaltungsaufwand technisch möglichen Leistungs(ober)grenze orientiert, sondern an der durchschnittlichen Gesamtlaufleistung, wie sie für ein hier vorliegendes Fahrzeug aus der Perspektive und dem mutmaßlichen Parteiwillen unter Berücksichtigung der gewöhnlichen Lebenserfahrung im Regelfall zu erwarten ist. Es kommt nicht darauf an, dass vergleichbare Fahrzeuge mitunter auch andere Laufleistungen erzielen.
Tenor:
- 1.
Der Streitwert für die Berufungsinstanz wird auf bis 16.000,00 EUR festgesetzt.
- 2.
Es wird erwogen, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Stade vom 22. Februar 2023 durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
- 3.
Der Kläger erhält Gelegenheit zur Stellungnahme und zur evtl. Rücknahme der Berufung aus Kostengründen innerhalb einer Frist von drei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses.
Gründe
Der Senat beabsichtigt nach vorläufiger Beratung, die Berufung des Klägers gemäß § 522 Abs. 2 ZPO als unbegründet zurückzuweisen. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern nicht eine Entscheidung des Berufungsgerichts. Eine mündliche Verhandlung ist nicht geboten. Zudem hat die Berufung nach vorläufiger Beurteilung aus folgenden Gründen offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg.
Gemäß § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die Entscheidung, die angegriffen wird, auf einer Rechtsverletzung gemäß § 546 ZPO beruht oder nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Zur Überzeugung des Senats liegen solche Berufungsgründe nicht vor. Das Landgericht hat die Klage vielmehr - jedenfalls im Ergebnis - zu Recht abgewiesen. Insoweit wird hinsichtlich eines geltend gemachten Anspruchs aus § 826 BGB auf die zutreffenden Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen. Die hiergegen von dem Kläger erhobenen Einwände greifen nicht durch.
Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin:
1. Es kommt zwar, wenn unter Täuschung im EG-Typengenehmigungsverfahren bewusst eine unzulässige Motorsteuerungssoftware verbaut wird, eine deliktische Haftung des Herstellers nach §§ 826, 31 BGB grundsätzlich in Betracht (vgl. BGH, Urteile vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, juris; vom 30. Juli 2020 - VI ZR 354/19, VI ZR 367/19, VI ZR 397/19 sowie VI ZR 5/20 und vom 19. Januar 2021 - VI ZR 8/20; jew. juris; vgl. auch OLG Celle, Urteile vom 20. November 2019 - 7 U 244/18, juris Rn. 26 ff. und vom 22. Januar 2020 - 7 U 445/18, juris).
2. Im Streitfall kann jedoch dahinstehen, ob die Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs gemäß § 826 BGB dem Grunde nach vorliegen. Denn jedenfalls fehlt es an einem erstattungsfähigen Schaden.
a) Der Kläger hat das Fahrzeug am 14. Januar 2020 zu einem Kaufpreis von 26.390,00 EUR erworben und mit einer Laufleistung von 256.000 km für 14.700 EUR verkauft.
Von dem Kaufpreis ist der Weiterveräußerungserlös in Höhe von 14.700,00 EUR in Abzug zu bringen.
Verlangt der geschädigte Fahrzeugkäufer in einem sog. Dieselfall vom Fahrzeughersteller Schadensersatz in Höhe des gezahlten Kaufpreises und hat er im Wege der Vorteilsausgleichung das erworbene Fahrzeug Zug um Zug an den Fahrzeughersteller herauszugeben und zu übereignen, tritt im Fall des Weiterverkaufs im Rahmen der Vorteilsausgleichung der erzielte marktgerechte Verkaufserlös an die Stelle des herauszugebenden und zu übereignenden Fahrzeugs (vgl. BGH, Urteile vom 20. Juli 2021 - VI ZR 533/20 und VI ZR 575/20, juris und vom 16. Dezember 2021 - VII ZR 389/21, juris).
b) Darüber hinaus sind die Nutzungsvorteile für die tatsächliche Nutzung des streitgegenständlichen Fahrzeugs der Klägerin in Höhe von 25.958,99 EUR in Abzug zu bringen und zwar ausgehend von dem Kaufpreis und einer Gesamtlaufleistung von 300.000 km.
aa) Bei der gemäß § 287 ZPO vorzunehmenden Bemessung der anzurechnenden Vorteile ist von folgender Berechnungsformel auszugehen:
Diese Berechnungsmethode hat der BGH nicht beanstandet (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 - VI ZR 354/19, NJW 2020, 2796 Rn. 12 f.). Die Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen Fahrzeugs schätzt der Senat auf 300.000 km. Insoweit macht der Senat von der Möglichkeit der Anspruchsschätzung nach § 287 ZPO Gebrauch. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats bei 3.0l-Motoren.
Die für die Bemessung der Nutzungsentschädigung maßgebliche Gesamtlaufleistung ist nicht an der bei gesteigertem Erhaltungsaufwand technisch möglichen Leistungs(ober)grenze orientiert, sondern an der durchschnittlichen Gesamtlaufleistung, wie sie für ein hier vorliegendes Fahrzeug aus der Perspektive und dem mutmaßlichen Parteiwillen unter Berücksichtigung der gewöhnlichen Lebenserfahrung im Regelfall zu erwarten ist (vgl. Eggert, in: Reinking/Eggert, Der Autokauf, 14. Aufl., Rn. 3568). Vor diesem Hintergrund kommt es nicht darauf an, dass vergleichbare Fahrzeuge mitunter auch andere Laufleistungen erzielen, die die vom Senat mit 300.000 km bemessene zu erwartende Gesamtlaufleistung bereits überschritten haben. Denn umgekehrt müssen auch diejenigen Fahrzeuge in die Wertbestimmung mit einbezogen werden, die bereits deutlich vor Erreichen der 300.000-km-Grenze "auf der Strecke" geblieben sind, um eine realistische Betrachtung zu erreichen. Anhaltspunkte dafür, dass auch unter Berücksichtigung letzterer Fahrzeuge die durchschnittliche Lebenserwartung eines entsprechenden Wagens mit mehr als 300.000 km zu prognostizieren wäre, sind weder ersichtlich, noch von dem Kläger im Rahmen seiner Ausführungen dargetan.
Die Bemessung der Schadenshöhe und damit auch die der Berechnung der Nutzungsentschädigung zugrunde zu legende zu erwartende Gesamtlaufleistung unterliegt dem Schätzungsermessen des Senats iSd § 287 ZPO. Dieser ist daher an die Beweisanträge der Parteien, etwa auf Einholung eines entsprechenden Sachverständigengutachtens, nicht gebunden. Eine Schätzung ist nur unzulässig, wenn die festgestellten Umstände keine genügende Grundlage für eine Schätzung abgeben und diese daher mangels greifbarer Anhaltspunkte völlig in der Luft hängen würde (BGH, Urteil vom 22. Mai 2003 - IX ZR 159/01, NJW-RR 2003, 1569, 1571). Davon kann im Streitfall jedoch keine Rede sein. Denn angesichts der umfangreichen, die Bemessung der Restlaufleistung von Fahrzeugen behandelnden Judikatur (vgl. Eggert, in: Reinking/Eggert, aaO Rn. 3574) bestehen genügend Anknüpfungspunkte für eine typenspezifische Bestimmung der Gesamtlaufleistung.
bb) Diesen Maßstab zugrunde gelegt ist vorliegend eine Nutzungsentschädigung in Höhe von 25.958,99 EUR zu berücksichtigen, die ebenfalls von dem Kaufpreis in Abzug zu bringen ist:
d) Dementsprechend sind im Ergebnis von dem Kaufpreis (36.390,00 EUR) einerseits der Weiterveräußerungserlös (14.700,00 EUR) und andererseits die Nutzungsvorteile (25.958,99 EUR) abzuziehen, so dass kein erstattungsfähiger Schaden mehr verbleibt (36.390,00 EUR - 14.700,00 EUR - 25.958,99 EUR = - 4.268,99 EUR).
3. Kein Anspruch auf Schadensersatz gem. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. europarechtlichen Schutznormen
Auch eine Haftung der Beklagten aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV bzw. Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46 i.V.m. Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 kommt nicht in Betracht. Der hier geltend gemachte Anspruch auf den sog. großen Schadensersatz (Kaufpreis abzüglich Nutzungsentschädigung und Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeuges) durch Abschluss eines ungewollten Vertrages und damit die Verletzung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts wird jedenfalls im Hinblick auf die hier maßgebliche Schutzgesetzverletzung nicht vom Schutzbereich des § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV bzw. Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46 i.V.m. Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 umfasst.
a) Dass unter Berücksichtigung der Entscheidung Bundesgerichtshofes vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21) ein Differenzschaden gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu gewähren sein kann, kann ebenfalls dahinstehen. Er ist nicht geltend gemacht. Aber selbst wenn, ergebe dieser keinen positiven Betrag. Mit der vorstehend zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofes beläuft sich dieser auf wenigstens 5 % und höchstens 15 % des gezahlten Kaufpreises. Allerdings sind darauf die Vorteile nach Maßgabe der Grundsätze anzurechnen, die der Bundesgerichtshof für die Vorteilsausgleichung auf der Grundlage der Gewähr kleinen Schadensersatzes nach §§ 826, 31 BGB entwickelt hat. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, Rn. 80 dazu ausgeführt:
"Dass für die Schätzung des Differenzschadens auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses abzustellen ist, schließt eine schadensmindernde Berücksichtigung später eintretender Umstände im Wege der Vorteilsausgleichung, deren Voraussetzungen der Fahrzeughersteller darzulegen und zu beweisen hat, allerdings nicht aus. Insofern gelten die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäbe zum "kleinen" Schadensersatz nach § 826 BGB sinngemäß (vgl. BGH, Urteil vom 6. Juli 2021 VI ZR 40/20, BGHZ 230, 224 Rn. 23 f.; Urteil vom 24. Januar 2022 VIa ZR 100/21, NJW-RR 2022, 1033 Rn. 17). Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs sind erst dann und nur insoweit schadensmindernd anzurechnen, als sie den Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags (gezahlter Kaufpreis abzüglich Differenzschaden) übersteigen (vgl. BGH, Urteil vom 24. Januar 2022, aaO, Rn. 22). (...) Die Vorteilausgleichung kann der Gewährung auch eines Schadensersatzes aus § 823 Abs. 2 BGB entgegenstehen, wenn der Differenzschaden vollständig ausgeglichen ist."
b) Beim kleinen Schadensersatz begehrt der Gläubiger den Betrag, um den er den Kaufgegenstand, gemessen am objektiven Wert von Leistung und Gegenleistung, zu teuer erworben hat (BGH, Urteil vom 24.01.2022 - VIa ZR 100/21, juris Rn. 9). Da auch beim Differenzschaden die Vermögenseinbuße in der Beeinträchtigung der jederzeitigen - wenn auch lediglich gefährdeten - Verfügbarkeit liegt, sind dabei wie vom Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 26. Juni 2023 angeführt ein Nutzungsausgleich und ein Restwert ebenfalls zu berücksichtigen. Denn nutzt der Käufer das Fahrzeug trotzt dieser (drohenden) Beeinträchtigung im Ergebnis ungehindert, hat sich diese Beeinträchtigung tatsächlich und wirtschaftlich nicht bzw. nicht vollständig realisiert. Insoweit ist auch ein im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblicher Restwert des Fahrzeuges in Ansatz zu bringen, weil auch dieser die tatsächliche Nutzung in Korrelation zur möglichen Beeinträchtigung wiederspiegelt.
Dies auf einen etwaigen Differenzschaden des Klägers übertragen, verbliebe ebenfalls kein positiver Betrag. Dabei spricht wenig für einen über 5 % des Kaufpreises hinausgehenden Differenzschaden, was jedoch ebenso wie weitere ggf. anrechenbare Vorteile (bspw. nachträgliche Verbesserung des Fahrzeugs durch ein Software-Update) dahinstehen kann. Denn selbst bei einem angenommenen, wenn auch fernliegenden Betrag in Höhe von 15 % des Kaufpreises, mithin 5.458,50 EUR, verbliebe keine Forderung.
c) Die Nutzungsvorteile in Höhe von 25.958,99 EUR und der Verkaufserlös des Fahrzeugs in Höhe von 14.700,00 EUR übersteigen den tatsächlichen Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags in Höhe von 30.931,50 EUR um einen Betrag in Höhe von 9.727,49 EUR.
In Höhe dieses überschießenden Betrages von 9.727,49 EUR erfolgt eine Anrechnung auf den höchst möglichen Differenzschaden in Höhe von 5.485,50 EUR (15 % des Kaufpreises), so dass ein etwaiger Differenzschaden vollständig aufgezehrt wird.
4. Keine sonstigen Ansprüche auf Schadensersatz
Schadensersatzsprüche im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Fahrzeugerwerb auf anderer Grundlage kommen für den Kläger nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BGH schon von Vorherein nicht in Betracht.
a) Insbesondere haftet die Beklagte wegen der fehlenden Stoffgleichheit zwischen einer etwaigen Vermögenseinbuße des Klägers und den denkbaren Vermögensvorteilen der Beklagten nicht nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB (BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 - VI ZR 5/20, juris Rn. 24).
b) Schließlich steht dem Kläger gegen die Beklagte auch kein Anspruch gemäß § 280, § 241 Abs. 2, § 311 Abs. 3 BGB wegen Inanspruchnahme besonderen Vertrauens oder Zusicherung einer Beschaffenheit im Zusammenhang mit der Übereinstimmungsbescheinigung zu. Dass der Hersteller des Fahrzeuges über die gesetzliche Pflichterfüllung nach §§ 6, 27 Abs. 1, 37 Abs. 1 EG-FGV und Art. 18 der Richtlinie 2007/46 hinaus in besonderem Maße Vertrauen in Anspruch nimmt oder eine Zusicherung abgeben will, erschließt sich weder nach dem Text der Bescheinigung noch nach deren Zweck. Eine irgendwie geartete Garantiezusage ist damit nicht verbunden. Insofern ist die Entscheidung des VIII. Zivilsenats des BGH (Urteil vom 15. Juni 2016 - VIII ZR 134/15, juris), in der es um eine Herstellergarantie ging, schon nicht einschlägig. Aus demselben Grund kann der Kläger den geltend gemachten Schadensersatzanspruch auch nicht auf einen selbständigen Garantievertrag gemäß § 443 BGB stützen.
5. Mangels Anspruchsgrundlage steht dem Kläger somit der von ihm geltend gemachte Zahlungsanspruch nicht zu.
6. Nach alledem hat die Berufung des Klägers keine Aussicht auf Erfolg, weshalb er erwägen sollte, diese zurückzunehmen.