Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 01.09.2021, Az.: 5 B 3845/21

Dublin; Italien; Systemische Mängel; Sytemische Schwachstellen

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
01.09.2021
Aktenzeichen
5 B 3845/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 71001
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Jedenfalls nach dem summarischen Prüfungsmaßstab im vorläufigen Rechtsschutz gibt es wesentliche Gründe für die Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in Italien systemische Schwachstellen aufweisen.
Dem Antragsteller droht nach der einschlägigen Berichtslage im Falle einer Rückkehr nach Italien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Obdachlosigkeit schon infolge der mangelhaften Ausstattung des italienischen Aufnahmesystems.

Tenor:

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Die aufschiebende Wirkung der am 27. April 2021 erhobenen Klage –F. – wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Anordnung seiner Abschiebung nach Italien im Rahmen eines sog. Dublin-III-Verfahrens.

Der 1995 geborene Antragsteller ist nach eigenen Angaben sudanesischer Staatsangehöriger. Er reiste am 7. Oktober 2020 über Libyen, Italien und Frankreich in das Bundesgebiet ein und stellte am 6. Januar 2021 seinen Asylantrag.

Ausweislich eines Treffers der Kategorie 2 in der EURODAC-Datenbank ist der Antragsteller bereits am 3. August 2020 in Italien erkennungsdienstlich behandelt worden.

In einer Anhörung vor dem D. der Antragsgegnerin am 18. Januar 2021 erklärte er, dass seine Ehefrau ebenfalls in Deutschland lebe und legte eine Heiratsurkunde vor. In einer weiteren Anhörung am selben Tag, gab er an, Sudan im Januar 2018 verlassen zu haben. Er habe zuvor in G. –H.– gelebt. Seine Eltern, Geschwister (zwei Brüder und zwei Schwestern) und Großfamilie (zwei Onkel, fünf Tanten) lebten noch in H.. Er habe fünf Jahre lang die Schule besucht und als Schneider gearbeitet. Am 1. Februar 2021 gab er an, er habe zu seiner kranken Frau nach Deutschland kommen wollen. er selbst habe ein Magengeschwür und nehme Omeprazol ein. Er habe 2011 oder 2012 im Alter von ca. 16 Jahren im Sudan geheiratet. Sie hätten nicht zusammengelebt. Auf Vorhalt, seine Ehefrau habe gegenüber der Antragsgegnerin angegeben, den Sudan mit sechs Jahren verlassen zu haben und dass ihr Ehemann verstorben sei, gab er an, er habe sie ein Jahr nach dem Tod ihres Ehemannes an einem 300km von seinem Dorf entfernten Ort geheiratet, weil dort die Morgengabe günstiger gewesen sei. Seine Frau sei zwischen Libyen und dem Sudan gependelt. Zu seinen Fluchtgründen trägt er vor, er habe sich nicht an Kämpfen beteiligt, sei nicht aufgefordert worden, sich einer Miliz anzuschließen und ihm sei auch sonst nichts passiert. Auf Nachfrage gibt er noch an, dass seine Familie nicht berichtet habe, dass seine Brüder irgendwie gefährdet seien. Seine kranke Ehefrau lebe in Deutschland und brauche ihn. Er legt eine Nachricht eines Arztes an eine Apotheke darüber vor, dass er chronische Gastritis habe und ihm ein entsprechendes Medikament verkauft werden solle.

Am 9. Februar 2021 stellte die Antragsgegnerin ein Übernahmeersuchen an Italien. Eine fristgerechte Reaktion erfolgte nicht.

Mit Bescheid vom I. lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Italien sowie ein Wiedereinreise und Aufenthaltsverbot von 15 Monaten ab dem Tag der Abschiebung an. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor. Zur Begründung wird ausgeführt, dass der Antrag unzulässig sei, weil Italien nach § 22 Abs. 7 Dublin III-VO für die Prüfung seines Schutzgesuchs zuständig sei. Das dortige Asylsystem weise keine systemischen Mängel auf; auch ansonsten seien Abschiebungsverbote nicht ersichtlich. Die vorgelegten ärztlichen Unterlagen genügten den Darlegungsanforderungen nicht. Ausweislich der Kopie einer Eheurkunde habe er am 5. Mai 2012 eine Stellvertreterehe geschlossen. Stellvertreterehen würden vom Bundesamt grundsätzlich nicht als wirksame Ehen anerkannt. Die mutmaßliche Ehefrau habe zudem angegeben, verwitwet zu sein. Ob tatsächlich eine Ehe bestehe, könne aber dahinstehen, denn die Verwandtschaft sei nicht geeignet, die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu begründen. Denn über den Asylantrag der mutmaßlichen Ehefrau sei bereits letztinstanzlich entschieden worden. Sie sei ausreisepflichtig. Nachweise für deren Hilfsbedürftigkeit oder auch nur Erkrankung habe der Antragsteller nicht vorgelegt. Es sei zumutbar, dass er sein Asylverfahren in Italien durchlaufe und in der Folge ggf. eine Familienzusammenführung mit seiner mutmaßlichen Ehefrau auf legalem Wege anstrebe. Sollte er in Italien internationalen Schutz erhalten, sei ein Visumverfahren für seine mutmaßliche Ehefrau gleichermaßen möglich. Würde auch sein Asylantrag abgelehnt, könne die Familieneinheit im Sudan hergestellt werden.

Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller am 27. April 2021 Klage erhoben und gleichzeitig und vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Er begehre die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil seine Ehefrau in der Bundesrepublik lebe und die Zustände in Italien unmenschlich seien. Es bestehe die ernsthafte Gefahr, dass der Antragsteller bei einer Rückführung nah Italien in die Obdachlosigkeit entlassen und damit extremer materieller Not ausgesetzt sein würde, die einer unmenschlichen und/oder erniedrigenden Behandlung gleichkäme. Nach Auskunft der SFH hätten Personen mit Schutzstatus in Italien grundsätzlich das Recht, bis zu sechs Monate nach ihrer Statusanerkennung in einer SIPROIMI-Einrichtung untergebracht zu werden. Dieses Recht dürfe dem Antragsteller mittlerweile entzogen worden sein. Hauptgrund für diesen Entzug sei das Verlassen des Zentrums ohne vorherige Ankündigung. Wem das Recht entzogen worden sei, dem drohe Obdachlosigkeit. Der Antragsteller könne nicht darauf verwiesen werden, wie andere Personen mit Schutzstatus, auf der Straße zu leben oder sich in eine „informelle Siedlung“ zu begeben.

Das Verfahren wurde am 17. Mai 2021 an das Verwaltungsgericht Hannover verwiesen.

Der Antragsteller beantragt

die aufschiebende Wirkung seiner am 27. April 2021 erhobenen Klage anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

II.

Die Entscheidung ergeht aufgrund von § 76 Abs. 4 AsylG durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin.

Der Prozesskostenhilfeantrag ist gemäß § 166 VwGO i. V. m. § 118 Abs. 2 Satz 4 ZPO abzulehnen, weil der Antragsteller innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist von einer Woche Angaben über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht gemacht hat.

Der zulässige Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ist begründet.

Das Verwaltungsgericht kann die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anordnen, wenn das Interesse des betroffenen Ausländers, von einem Vollzug der Abschiebungsanordnung vorläufig verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an dem gesetzlich angeordneten Vollzug der Abschiebungsanordnung überwiegt. Hier überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Denn nach der im vorliegenden Verfahren lediglich gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angeordneten Abschiebung des Antragstellers nach Italien.

Die Antragsgegnerin stützt ihre Entscheidung auf § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34 a Abs. 1 AsylG. Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von EU-Recht oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll, die Abschiebung an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.

1. Die erste dieser Voraussetzungen liegt vor. Weil der Antragsteller aus einem Drittstaat kommend nach Italien eingereist ist, ist Italien nach Art. 13 Abs. 1 i. V. m. Art. 22 Abs. 7 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (vom 29.6.2013, Abl. L 180) – Dublin III-VO –für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.

2. Der Abschiebung steht auch nicht entgegen, dass der Antragsteller behauptet, mit einer in Deutschland lebenden Sudanesin verheiratet zu sein. Denn die Voraussetzungen für ein Familienverfahren nach § 11 Dublin III-VO sind in mehrfacher Hinsicht nicht erfüllt. Zum einen hat der Antragsteller nicht gleichzeitig oder in großer zeitlicher Nähe zu der Sudanesin, mit der er verheiratet sein will, seinen Asylantrag gestellt. Zum anderen ist Voraussetzung für die Anknüpfung ein entsprechender Wille sowohl des Antragstellers als auch der Familienangehörigen, der aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit schriftlich kundzutun ist (Barden, in: Heusch/Haderlein/Feluß/Barden, Asylrecht, 2. Aufl., § 2 AsylG Rn. 416 = beckonline). Eine solche schriftliche Erklärung der besagten Sudanesin liegt hier nicht vor. Im Gegenteil gab diese gegenüber der Antragsgegnerin sogar an, verwitwet zu sein.

3. Es steht jedoch nicht fest, dass die Abschiebung im Sinne von § 34 a Abs. 1 AsylG durchgeführt werden kann, weil es jedenfalls nach dem summarischen Prüfungsmaßstab im vorläufigen Rechtsschutz im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in Italien systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung des Antragstellers mit sich brächten, und die Antragsgegnerin die angefochtene Abschiebungsanordnung getroffen hat, ohne vorher eine – substantiierte – Erklärung der italienischen Behörden einzuholen, eine solche Behandlung des Antragstellers wirksam auszuschließen.

Ein systemischer Mangel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 der Dublin III-VO und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil der Großen Kammer vom 14.11.2013 – Rs. C-4/11, Puid –, NVwZ 2014, 129 Rn. 30) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 4.11.2014 – Nr. 29217/12, Tarakhel –) ist eine Systemstruktur oder eine fehlende Struktur im staatlichen Asylverfahren, die als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dazu führt, dass Fälle, die diese Systemstelle durchlaufen, Rechtsverletzungen verursachen (vgl. eingehend Lübbe, ZAR 3/2014, S. 107). Das ist etwa dann anzunehmen, wenn die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren selbst an grundlegenden Mängeln leidet oder dass der Mitgliedsstaat während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbaren Weise befriedigen kann (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7.3.2014 – 1 A 21/12.A –, juris).

Art. 4 GRCh verbietet ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und hat mit seiner fundamentalen Bedeutung allgemeinen und absoluten Charakter (EuGH, Urteil vom 19.3.2019 – C-163/17 –, juris Rn. 78). Daher ist hinsichtlich in einem Mitgliedsstaat schutzsuchender Personen für die Anwendung von Art. 4 GRCh irrelevant, wann diese bei ihrer Rücküberstellung in den für ihr Asylverfahren zuständigen Mitgliedsstaat bzw. den Mitgliedsstaat, der ihnen bereits internationalen Schutz gewährt hat, einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wären, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Die Gewährleistung von Art. 4 GRCh gilt auch nach dem Abschluss des Asylverfahrens, insbesondere auch im Fall der Zuerkennung internationalen Schutzes (EuGH, Urteil vom 19.3.2019 – C-163/17 –, juris Rn. 88 f.; BVerfG, Beschluss vom 7.10.2019 – 2 BvR 721/19 –, juris Rn. 19 f.). Hat ein Schutzsuchender oder eine als schutzberechtigt anerkannte Person hinreichend dargelegt, dass tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ihm nach einer Rücküberstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, ist das mit der Rechtssache befasste Gericht – wie auch zuvor die mit der Sache befassten Behörden – verpflichtet, die aktuelle Sachlage aufzuklären und die deutschen Behörden haben gegebenenfalls Zusicherungen der Behörden des zuständigen Mitgliedsstaates einzuholen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 –, juris 15 f. und 18 f.). Das Gericht hat auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (EuGH, Urteil vom 19.3.2019 – C-163/17 –, juris Rn. 90). Solche Schwachstellen erreichen allerdings erst dann die für Art. 4 GRCh bzw. für den ihm entsprechenden Art. 3 EMRK besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, Urteil vom 19.3.2019 – C-163/17 –, juris Rn. 91 f.). Dies ist im Allgemeinen insbesondere der Fall, wenn die rückzuüberstellende Person in dem zuständigen Mitgliedstaat ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basis- bzw. Notbehandlung erhalten würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 4.7.2019 – BVerwG 1 C 45.18 –, juris Rn. 12).

Dem Antragsteller droht nach der einschlägigen Berichtslage im Falle einer Rückkehr nach Italien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Obdachlosigkeit schon infolge der mangelhaften Ausstattung des italienischen Aufnahmesystems.

Asylsuchende haben zwar nach dem im Dezember 2020 in Kraft getretenen Gesetz 173/2020 nun auch Zugang zum Zweitaufnahmesystem SAI (ehemals SPRAR, dann SIPROIMI). Eine Aufnahme ist aber nur im Rahmen der zur Verfügung stehenden Plätze möglich, eine Erhöhung der Anzahl der Plätze ist nicht vorgesehen. Die Anzahl der Plätze reicht immer noch bei Weitem nicht aus, um der Nachfrage gerecht zu werden. Priorität haben vulnerable Personengruppen. Der Zugang für Asylsuchende wie Dublin-Rückkehrer ist daher faktisch fast unmöglich (vgl. SFH, Bericht vom 10. Juni 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2055104.html). Daneben bestehen weiterhin die faktischen Hindernisse, dass Anträge auf Aufnahme in einem SAI-Projekt nicht von der betroffenen Person selbst gestellt werden können, sondern nur durch deren anwaltliche Vertretung oder die zuständige Behörde, und dass es für die zur Verfügung stehenden Plätze keine Warteliste gibt. Infolgedessen wird, wenn ein Antrag auf Unterbringung bewilligt wurde und es keinen freien Platz gibt, die betreffende Person nicht auf eine Warteliste gesetzt, sondern muss einen Monat später einen neuen Antrag stellen lassen, und zwar so lange, bis ein Platz für die jeweilige(n) Person(en) frei wird. In der Zwischenzeit steht der Person/den Personen keine Unterkunft zur Verfügung (vgl. Auskunft der SFH an den VGH Kassel vom 29.10.2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2041470.html).

Sodann wäre die Unterbringung in einer SAI gemäß Art. 38 (1) der (bisher nicht abgelösten) SIPROIMI-Richtlinien auf sechs Monate befristet, ohne dass im Anschluss eine Unterkunft gewährleistet wäre (vgl. SFH, Bericht vom 10. Juni 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2055104.html). Nach einem Bericht von ACCORD vom 18. September 2020 (https://www.ecoi.net//dokument/2043979.html) kann die vorgesehene Aufenthaltsdauer von sechs Monaten in einem SIPROIMI-Projekt für anerkannte Schutzberechtigte um insgesamt sechs weitere Monate verlängert werden, um Integrationsmaßnahmen (percorsi di integrazione) abzuschließen, oder wenn außergewöhnliche Umstände aufgrund gesundheitlicher Gründe vorliegen, außerdem wenn vulnerable Gruppen gemäß Artikel 17 des Gesetzesdekrets 142 vom 18. August 2015 betroffen seien. Zu den vulnerablen Gruppen zählen danach Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, schwangere Frauen, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfer von Menschenhandel, Menschen, die unter ernsthaften Krankheiten oder psychischen Störungen leiden, Opfer von Folter, Vergewaltigung und anderer schwerer Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt, Opfer von Gewalt in Zusammenhang mit ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität sowie Opfer von Genitalverstümmelung (Decreto legislativo n. 142, 18.8.2015, Artikel 17). Dass danach auch der Antragsteller eine verlängerte Unterbringung beanspruchen könnte, ist nicht ersichtlich.

Neben die tatsächlichen Hindernisse für Antragsteller, eine menschenwürdige Unterkunft zu finden, tritt als rechtliches Hindernis, dass schon dieses Minimum an Aufnahmebedingungen Antragstellern, die zur Ausreise aus Italien ihre Unterkunft verlassen haben, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit entzogen worden sein wird. Diese – gesetzlich im Aufnahmesystem Italiens vorgesehene – Praxis ist nach der aktuellen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (vgl. EuGH, Urteil vom 12.11.2019 – C-233/18 Haqbin –, juris Rn. 47) nicht mit Art. 20 Abs. 5 der Aufnahmerichtlinie vereinbar und steht dem Gebot des Art. 4 i. V. m. Art. 1 GRCh entgegen. Sie stellt damit einen systemischen Mangel im oben beschriebenen Sinne dar.

Nach Artikel 23 des Decreto legislativo Nr. 142/2015 kann die Aberkennung von Betreuungsmaßnahmen angeordnet werden, wenn der Antragsteller nicht zur Antragstellung oder zur Anhörung erscheint. Diese für die Aufnahmezentren CARA/CAS vorgesehene Regelung wird nach den Feststellungen der Schweizer Flüchtlingshilfe auch auf die SIPROIMI-Projekte sehr streng angewandt (vgl. SFH-Bericht vom Januar 2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2034578.html) und gilt auch nach deren Umbildung zu SAI fort (vgl. SFH, Bericht vom 10. Juni 2021, a. a. O.).

Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Minden wird diese Regelung wie folgt angewandt:

„Ist ein Asylsuchender für mehr als 72 Stunden unentschuldigt abwesend oder bezieht er eine ihm zugewiesene Unterkunft gar nicht erst, wird sein Name durch den Betreiber der Einrichtung der zuständigen Präfektur gemeldet. Daraufhin entzieht der Präfekt dem Asylsuchenden das Recht auf Unterbringung, indem er dessen Namen, ohne ihm dies mitzuteilen, auf eine bei der Präfektur geführte Liste setzt. Mit dem Entzug der Unterkunft verliert der Asylsuchende auch den Zugang zu allen weiteren in der Unterkunft erbrachten staatlichen Leistungen. Dieses Verfahren wird zur Überzeugung des Gerichts nicht nur im Einzelfall, sondern regelhaft durchgeführt, wenn ein Asylsuchender seine Unterkunft unentschuldigt verlässt oder dort nicht erscheint. Eine Studie, die auf Angaben von 58 der 100 italienischen Präfekturen aus den Jahren 2016 und 2017 beruht, ergab, dass in diesem Zeitraum allein in den an der Studie beteiligten Präfekturen circa 40.000 Asylsuchenden das Recht auf Unterkunft entzogen wurde. Zwar kann der Präfekt die Wiederaufnahme von Asylsuchenden in die Unterkunft verfügen, wenn diese sich auf höhere Gewalt, unvorhersehbare Umstände oder schwerwiegende persönliche Gründe berufen. Jedoch haben sowohl ein solcher Antrag als auch ein sich ggf. anschließendes Gerichtsverfahren nur äußerst geringe Erfolgsaussichten und dauern sowohl das behördliche als auch im Falle einer abschlägigen Entscheidung des Präfekten das gerichtliche Verfahren in Abhängigkeit von der jeweiligen Region mehrere Monate. In dieser Zeit hat der Asylsuchende kein Recht auf Unterbringung.“ (vgl. VG Minden, Urteil vom 13.11.2019 – 10 K 2221/18.A –, juris Rn. 81 - 83)

Diese Einschränkungen sind nach der Rechtsprechung des EuGH mit der Verpflichtung des Art. 20 Abs. 5 Satz 3 AufnahmeRL, einen würdigen Lebensstandard für den Antragsteller zu gewährleisten, unvereinbar. Danach ist auch ein nur zeitweiliger Entzug von sämtlichen im Rahmen der Aufnahme gewährten Leistungen in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung unzulässig, weil sie dem Antragsteller die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. EuGH, Urteil v. 12.11.2019 – C-233/18 – Haqbin, juris Rn. 47, a. A. noch Nds. OVG, Urteil vom 9.4.2018 – 10 LB 92/17 –, juris Rn. 59).

Dem Antragsteller droht aus diesem systemischen Mangel auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seiner Rechte. Der Zugang zur SAI Unterbringung ist wie ausgeführt für Asylsuchende wie Dublin-Rückkehrer faktisch fast unmöglich. Mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wird daher der Antragsteller nicht in der Lage sein, in tatsächlicher Hinsicht Zugang zu einer solchen Einrichtung zu erlangen.

Soweit das Verwaltungsgericht Minden davon ausgeht, dass diese Praxis jedenfalls Asylsuchende betrifft, die eine verbalizzazione geäußert haben und dies durch einen EURODAC-Treffer der Kategorie 1 belegen, hat das Gericht keinen hinreichenden Anhalt dafür, dass nicht auch der Antragsteller von dieser Praxis betroffen ist. Ob dies der Fall ist und der Antragsteller einem Empfangszentrum zugeteilt worden ist, wird die Antragsgegnerin im Hauptsacheverfahren unter Beteiligung des Servizio Centrale ermitteln müssen.

Es besteht mithin die ernsthafte Gefahr, dass der Antragsteller bei Rückführung nach Italien dort obdachlos würde, was mit seiner Menschenwürde und Art. 3 EMRK nicht vereinbar ist. Es stehen auch keine anderweitigen Möglichkeiten zur Verfügung, eine Unterkunft zu erhalten. Sozialwohnungen werden teilweise schon formal erst nach mehrjährigem Aufenthalt und im Übrigen aufgrund langer Wartelisten vergeben.

Zwar gibt es in Italien für obdachlose Personen teilweise Notschlafunterkünfte, die von den Gemeinden bereitgestellt werden. Diese Einrichtungen sind jedoch nur in der Nacht geöffnet, normalerweise ab 22 oder 23 Uhr, und müssen früh morgens wieder verlassen werden. Diese Plätze können nicht reserviert werden, sie werden der Reihe nach vergeben. Sie sind auch für italienische Obdachlose zugänglich, es gibt keine spezifisch für Begünstigte von internationalem Schutz reservierte Plätze (vgl. Auskunft der SFH an den VGH Kassel, S. 2). Die Zahl der Plätze in Notunterkünften hat sich im Zuge der COVID-19-Pandemie halbiert (vgl. SFH, Bericht vom 10.6.2021 – a. a. O.–). Obdachlosigkeit und der in diesem Zusammenhang verweigerte Zugang zu sonstigen staatlichen Leistungen wie der Bereitstellung von Mahlzeiten (vgl. Auskunft der SFH an den VGH Kassel, S. 3) würden zu physischer und psychischer Verelendung des Antragstellers führen.

Eine drohende Obdachlosigkeit stünde auch dem Zugang zum Asylverfahren entgegen, weil die Polizeidienststellen häufig den Nachweis einer örtlichen Wohnung verlangen und Personen, die vom öffentlichen Aufnahmesystem ausgeschlossen sind, schon an der Antragstellung gehindert werden (vgl. SFH, Bericht vom 10.6.2021 – a. a. O. –).

Es ist auch nicht zu erwarten, dass der Antragsteller in der Lage sein würde, seinen Lebensunterhalt einschließlich der Kosten für eine Unterkunft durch Erwerbsarbeit zu erwirtschaften. Nach der Einschätzung der Schweizer Flüchtlingshilfe ist es für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus weiterhin äußerst schwierig, eine auskömmliche Arbeit zu finden. Die wenigen Arbeitsplätze außerhalb des Schwarzmarkts sind schlecht bezahlt und befristet, der Lohn genügt in der Regel nicht, um eine Unterkunft zu bezahlen (vgl. SFH, Bericht vom 10. Juni 2021, a. a. O). Erschwerend kommt hinzu, dass Auswirkungen der COVID-19-Pandemie die für den Antragsteller ohnehin in Ermangelung von Sprach- und Ortskenntnissen, einer höheren Schul- und Berufsausbildung sowie persönlicher Kontakte und der bereits zuvor angespannten Arbeitsmarktlage in Italien sehr geringe Chance auf den Zugang zu legaler Arbeit (vgl. zur bisherigen Situation schon VG Minden, Urteil vom 13.11.2019 – 10 K 7608/17.A –, juris Rn. 117) weiter verringern werden. Verweist man anerkannt Schutzberechtigte zur Sicherung des Existenzminimums in Italien auf die Hilfe von karitativen Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen (so etwa VG Karlsruhe, Urteil vom 14.9.2020 – A 9 K 3639/18 –,juris Rn. 61) und die Zumutbarkeit irregulärer Beschäftigungsverhältnisse sowie die Möglichkeiten des informellen Sektors für unqualifizierte Arbeitskräfte, muss auch Beachtung finden, dass insbesondere die für anerkannt Schutzberechtigte sensiblen Lebensbereiche und Arbeitsmarktsegmente durch das Infektionsgeschehen und die Gegenmaßnahmen der Regierung schwer belastet werden (so auch VG Köln, Beschluss vom 27.8.2020 – 8 L 1429/20.A –, juris Rn. 53, und VG Gelsenkirchen, Gerichtsbescheid vom 25.5.2020 – 1a K 9184/17.A –, juris Rn. 64). Während die Jugendarbeitslosigkeit in Italien inzwischen ohnehin bereits bei etwa 30% liegt, treffen die Infektionsschutzmaßnahmen in Italien dazu noch am stärksten die prekären Arbeitsverhältnisse unqualifizierter Arbeitnehmer im tourismus- und gastronomienahen Dienstleistungssektor, Handel und Weinbau („Kein Land für junge Leute: Wie die Coronakrise das Jobproblem in Italien verschärft“, Handelsblatt vom 27.7.2020), von denen jüngere, unqualifizierte Geflüchtete wie der Antragsteller in besonderem Maße abhängig sind. Dass sich die Situation in absehbarer Zeit spürbar entspannt, ist angesichts erneut steigender Infektionszahlen unter der Delta-Variante des Sars-CoV-2-Virus nicht zu erwarten.

Selbst wenn der Antragsteller in der Lage wäre, seinen elementaren Lebensunterhalt im informellen Sektor zu decken, stünde der Beschaffung einer eigenen Unterkunft weiterhin entgegen, dass die meisten Vermieter die Vorlage eines Arbeitsvertrages und, wie auch die meistern Arbeitgeber, eines gültigen Aufenthaltstitels fordern, weil die Vermietung oder Beschäftigung sog. illegaler Ausländer strafbewehrt ist. Demnach spricht Überwiegendes dafür, dass der Antragsteller gezwungen wäre, zunächst auf der Straße zu leben und sich seinen Lebensunterhalt als Tagelöhner zu verdienen. Erkrankt er dabei, steht ihm unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen von einer Grund- und Notfallversorgung bei Krankheit oder Unfall abgesehen keine hausärztliche Versorgung und weitere medizinische Leistung zur Verfügung. Die allgemeine Gesundheitsversorgung des nationalen Gesundheitsdienstes setzt dagegen die Vorlage eines Wohnzertifikats und einer Aufenthaltsbewilligung voraus, die gerade Dublin-Rückkehrende häufig nicht vorlegen können, solange sie nicht Zugang zum Asylverfahren erhalten haben (vgl. SFH, Bericht vom Januar 2020 – a. a. O –).

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).