Finanzgericht Niedersachsen
Beschl. v. 17.11.1999, Az.: 5 S 9/95 S

Anspruch auf Prozesskostenhilfe; Vorliegen widerstreitender Umsatzsteuerfestsetzungen; Voranmeldungen durch nichtexistente Person; Entstehung einer S.A. (Aktiengesellschaft) nach spanischem Recht; Bestimmung des Gesellschaftsstatuts nach Sitztheorie; Keine Rechtsmissbräuchlichkeit bei Wahl einer einfacheren Rechtsform eines EG-Mitgliedsstaates; Geltung der Gründungstheorie; Berücksichtigung der Niederlassungsfreiheit und des Diskriminierungsverbots; Begriff des steuerrechtlichen Sachverhalts; Zurechnung einer Leistung an Unternehmer; Unternehmereigenschaft des Strohmanns wegen getätigter Außenumsätze

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
17.11.1999
Aktenzeichen
5 S 9/95 S
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1999, 18001
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:1999:1117.5S9.95S.0A

Fundstellen

  • UR 2000, 283-286
  • UStB 2000, 168-169

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Im Falle einer Gesellschaftsgründung liegt in der Ausnutzung der weniger strengen Gründungsvorschriften in einem anderen Mitgliedstaat kein Missbrauch. Die Umgehung der inländischen Gründungsvorschriften ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) ausdrücklich zulässig, weil der EG-Vertrag die Gleichwertigkeit aller nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften zur Tätigkeit im ganzen Gemeinschaftsgebiet statuiert und die Ausübung eines EG-rechtlichen Grundrechts nicht als missbräuchlich qualifiziert werden kann.

  2. 2.

    Die bislang herrschende Sitztheorie ist daher nicht mehr anwendbar, es gilt die Gründungstheorie. Sie besagt, dass sich das Gesellschaftsstatut ausschließlich nach dem Ort richtet, an dem die Gesellschaft gegründet wurde, und nicht danach, wo die Gesellschaft ihre tatsächliche Geschäftstätigkeit ausübt.

  3. 3.

    Auch der nachhaltig tätige Strohmann ist aufgrund der von ihm unter seinem Namen getätigten Außenumsätze Unternehmer.

Gründe

1

I.

Der Antragsteller gründete 1987 mit seiner Ehefrau ... nach spanischem Recht die spanische Aktiengesellschaft "..." (...). Die Gesellschaft wurde im Handelsregister von ... unter Band 887 Abteilung 3 a Buch 699 Blatt 8.412-a eingetragen. Der Antragsteller wurde zum Vorsitzenden des Verwaltungsrates bestellt, seine Ehefrau zur Sekretärin und das weitere Gründungsmitglied ... zum stimmberechtigten Mitglied. Nach Art. 4 der Satzung hat die Gesellschaft ihren Sitz in ...). Sie kann nach vorherigem Beschluß des Verwaltungsorgans der Gesellschaft an jedem beliebigen Ort Niederlassungen, Zweigstellen und Außenstellen einrichten. Das Gründungskapital beträgt .... Gegenstand der Gesellschaft ist eine Tätigkeit im Bereich des Gaststättengewerbes, elektrische und elektronische Unterhaltungsmaschinen jeder Art und damit verbundene Tätigkeiten. Wegen der Einzelheiten des Organisationsstatus der Gesellschaft wird auf die Satzung verwiesen.

2

Die Gesellschaft gab in ... von einem ... Steuerberater erstellte Steuererklärungen ab. Eine wirtschaftliche Geschäftstätigkeit übte sie in ... nicht aus.

3

Am 12. Oktober 1989 wurde eine Zweigniederlassung der Gesellschaft ins Handelsregister ... eingetragen. Die Zweigniederlassung wurde am 10. August 1994 im Handelsregister gelöscht. Die Eintragung einer Zweigniederlassung ins Handelsregister von ... scheiterte.

4

Die Gesellschaft war in Deutschland als Automatenaufsteller tätig. Die mit dieser Tätigkeit verbundenen Geschäfte, wie Entleerung der Geldspielautomaten, Abrechnung mit Gastwirten und die Abwicklung der Bankgeschäfte und behördlichen Erfordernisse erledigte der Antragsteller. Für 1989 bis 1993 gab der Antragsteller Umsatzsteuervoranmeldungen für die ... S.A. ab. Die Umsatzsteuervoranmeldungen führten im wesentlichen zu Erstattungen von Vorsteuerüberhängen, denen der Antragsgegner zustimmte.

5

In der Zeit vom 28. Januar 1992 bis 10. Februar 1993 führte der Antragsgegner bei der ... S.A. eine Umsatzsteuersonderprüfung durch. Dabei kam der Antragsgegner zu dem Ergebnis, dass die ... S.A. nach deutschem Gesellschaftsrecht keine Rechtsfähigkeit erlangt habe und damit auch nicht Unternehmerin sei. Der Antragsgegner ging vielmehr davon aus, dass der Antragsteller als Einzelunternehmer unter dem Namen der ... S.A. tätig geworden sei. Zum Beweis dafür, dass der Antragsteller auch im eigenen Namen tätig geworden sei, legte der Antragsgegner von dem Antragsteller unterschriebene Abrechnungen mit Gaststätteninhabern aus den Jahren 1995 bis 1996 vor. Die Abrechnungen enthielten teilweise nur die Unterschrift des Antragstellers ohne den Stempel der... S.A..

6

Der Antragsgegner rechnete die von der ... S.A. in ihren Umsatzsteuervoranmeldungen erklärten Umsätze und Vorsteuern dem Antragsteller zu. Darüber hinaus erhöhte der Antragsgegner die Umsätze im Wege der Schätzung für 1989 um 3.000,00 DM und für 1990 bis 1992 um jeweils 36.000,00 DM, da nach den Aufzeichnungen der ... S.A. die Ausgaben höher waren als die Einnahmen und es der Antragsgegner für unglaubwürdig hielt, dass der Antragsteller der ... S.A. Darlehen in Höhe des Differenzbetrages zur Verfügung gestellt habe. Ferner rechnete der Antragsgegner dem Antragsteller die Umsätze von Frau ... zu. ... hatte am 14. August 1991 den Betrieb einer Spielhalle angemeldet. Hierfür hatte sie von der ... S.A. eine Spielhalle mit Spielgeräten in ... angemietet und auf ihren Namen eine Konzession zum Betrieb der Spielhalle vom Landkreis ... erhalten. Die Eröffnung des Unternehmens zeigte sie dem Antragsgegner an und gab unter ihrem Namen Umsatzsteuervoranmeldungen ab. Der Antragsgegner ging davon aus, dass ... nur als Strohfrau tätig geworden sei, tatsächlich aber der Antragsteller die Geschäfte geführt habe.

7

Insgesamt rechnete der Antragsgegner dem Antragsteller folgende Umsätze und Vorsteuern zu (Abkürzungen: ... S.A.: PA; ...: S.E.):

1989 / DM1990 / DM1991 / DM1992 / DM
Umsätze PA lt. Voranmeldung3.755,0063.820,0085.358,0052.085,00
Hinzuschätzung3.000,0036.000,0036.000,0036.000,00
Umsätze insgesamt6.755,0099.820,00121.358,0088.085,00
Umsatzsteuer 14 %945,7013.974,8016.990,1212.331,90
Vorsteuern PA lt. Voranmeldung953,079.965,1415.997,519.191,09
Summe I./. 8,004.009,00992,613.140,81
Umsätze S.E. lt. Voranmeldung10.642,0032.081,00
Hinzuschätzung10.000,0030.000,00
Umsätze S.E. insgesamt20.642,0062.081,00
Umsatzsteuer 14 %2.889,888.691,34
Vorsteuern lt. Voranmeldungen672,004.005,96
Summe II2.217,884.681,38
Summe I + II./. 8,004.009,003.210,497.826,19
8

Wegen der Einzelheiten der Feststellungen wird auf den Bericht über die bei der ... S.A. durchgeführte Umsatzsteuersonderprüfung vom 23. Februar 1993 (AB-Nr. USt 13/1992) verwiesen.

9

Mit Bescheiden jeweils vom 23. April 1993 setzte der Antragsgegner die Umsatzsteuer 1989 bis 1992 entsprechend den Summen I+II (abgerundet) gegen den Antragsteller fest. Die Umsatzsteuerbescheide wurden bestandskräftig.

10

Mit Bescheiden, jeweils vom 31. März 1993, hatte der Antragsgegner die Umsatzsteuer 1989 bis 1992 der ... S.A. und die Umsatzsteuer 1991 und 1992 von ... unter Hinweis auf die Prüfungsfeststellungen auf jeweils 0,00 DM festgesetzt. Gleichzeitig buchte der Beklagte alle Soll- und Istbeträge der ... S.A. und von ... auf die Steuernummer des Antragstellers um. Die Umsatzsteuerbescheide gegen ... wurden bestandskräftig. Die ... S.A. legte gegen die gegen sie ergangenen Umsatzsteuerbescheide Einspruch ein. Daraufhin hob der Antragsgegner die Umsatzsteuerjahresbescheide 1989 bis 1992 der ... S.A. vom 31. März 1993 durch Bescheid vom 29. September 1994 mit dem Hinweis auf, dass die Bescheide gemäß § 125 Abgabenordnung (A0) nichtig seien.

11

Mit Schreiben vom 10. Juni 1993 beantragte der Antragsteller die Aufhebung der Umsatzsteuerbescheide vom 23. April 1993 nach § 174 Abs. 1 A0. Er machte geltend, dass die Umsätze nicht ihm, sondern der ... S.A. und ... zuzurechnen seien. Zur Begründung verwies er auf das Einspruchsverfahren zur Umsatzsteuer 1989 bis 1992 der ... S.A.. Der gegen den ablehnenden Bescheid eingelegte Einspruch war erfolglos. Hiergegen richtet sich die Klage beim Niedersächsischen Finanzgericht in der Hauptsache (Az.: V 410/95) wegen Umsatzsteuer 1989 bis 1992, über die noch nicht entschieden ist.

12

Im Klageverfahren macht der Antragsteller geltend, nachdem der Antragsgegner die Umsatzsteuerbescheide 1989 bis 1992 vom 31. März 1993 für die ... S.A. durch Bescheid vom 29. September 1994 wegen angeblicher Nichtigkeit aufgehoben habe, gelte der Rechtszustand fort, der vor ihrem Erlaß bestanden habe. Danach seien der Besteuerung die in den Umsatzsteuervoranmeldungen für die ... S.A. angegebenen Umsätze zugrunde zu legen. Nach §168 A0 stünden diese Umsatzsteuervoranmeldungen gemäß § 164 Abs. 2 A0 Steuerfestsetzungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich. Solange der Antragsgegner diese Bescheide nicht aufhebe, lägen insoweit widerstreitende Steuerfestsetzungen i.S.d. § 174 Abs. 1 A0 vor.

13

Die gegen den Antragsteller gerichteten widerstreitenden Steuerfestsetzungen seien rechtswidrig und daher aufzuheben. Der Antragsgegner gehe zu Unrecht davon aus, dass die ... S.A. nicht wirksam gegründet worden und damit kein Unternehmer sei. Dies folge aus der Entscheidung des Oberlandesgerichts ... vom 18. August 1994 (Az.: 15 W 209/94). Aber selbst für den Fall, dass die ... S.A. nicht rechtsfähig sein sollte, sei gleichwohl sie und nicht der Antragsteller als Unternehmer tätig geworden. Ferner habe der Antragsgegner die Umsätze zu hoch bemessen, da er die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 5. Mai 1994 (Az.: R C - 38/93, BStBl II 1994, 548 f . ) hinsichtlich der Bemessungsgrundlage für die Umsätze des Betreibers von Geldspielgeräten mit Gewinnmöglichkeiten nicht berücksichtigt habe.

14

Der Antragsteller beantragt unter Vorlage einer Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse,

ihm für das Verfahren V 410/95 unter Beiordnung von Rechtsanwalt ...

Prozesskostenhilfe zu gewähren.

15

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

16

Der Antragsgegner macht geltend, der Antragsteller habe die ihm zugerechneten Umsätze getätigt.

17

Die Voraussetzungen nach § 174 Abs. 1 AO lägen nicht vor. Die Umsatzsteuervoranmeldungsbescheide der ... S.A. seien ebenso wie die Umsatzsteuerjahresbescheide nichtig, weil es sich um eine nicht existente Gesellschaft handele. Damit lägen keine widerstreitenden Steuerfestsetzungen vor.

18

Die Steuerfestsetzungen gegen den Antragsteller seien nicht rechtswidrig, weil die ... S.A. nach deutschem Gesellschaftsrecht nicht rechtsfähig sei. Die Rechtsfähigkeit einer ausländischen juristischen Person bestimme sich entsprechend der im deutschen Gesellschaftsrecht herrschenden Sitztheorie nach dem Recht desjenigen Staates, in welchem die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz habe. Für die Bestimmung des Verwaltungssitzes sei der Tätigkeitsort der Geschäftsführung und der Vertretungsorgane maßgebend. Dieser habe in ... und damit im Inland gelegen, da die grundlegenden Entscheidungen der ... S.A. in der dortigen Wohnung des Antragstellers getroffen worden seien. Dort seien sämtliche wirtschaftliche Aktivitäten koordiniert, ausgeführt und abgerechnet worden. Da der Verwaltungssitz danach im Inland liege, bestimme sich die Rechts- und Unternehmerfähigkeit der ... S.A. ausschließlich nach deutschem Gesellschaftsrecht, hier nach dem Aktiengesetz. Die Gründung der ... S.A. erfülle nicht die Anforderungen, die nach dem deutschen Aktiengesetz an die Gründung einer Aktiengesellschaft gestellt würden, da die nur von drei statt von fünf Personen, wie es § 2 des Aktiengesetzes vorsehe, gegründet worden sei. Ferner verfüge die auch nicht über das nach § 7 Aktiengesetz erforderliche Grundkapital von mindestens 100.000,00 DM. Da die ... S.A. nicht rechtsfähig sei, könnten auch nicht ihr, sondern nur dem handelnden Antragsteller die Umsätze zugerechnet werden.

19

Die Umsätze von ... seien dem Antragsteller zuzurechnen, weil nicht sie, sondern ausschließlich er die Umsätze getätigt habe. Ursprünglich habe die ... S.A. die Spielhalle in ... selbst betreiben wollen. Wegen Schwierigkeiten in der Person des Antragstellers habe der Landkreis ... jedoch die Erteilung einer Konzession für die ... S.A. abgelehnt. Erst daraufhin sei ... als Untermieterin und Konzessionsinhaberin der Spielhalle tätig geworden.

20

... sei dem Antragsteller aus vorangegangenen geschäftlichen Beziehungen verpflichtet. Als Geschäftsführerin sei sie lediglich dafür da, den Gästen "Kaffee zu kochen und Markstücke zu wechseln". Dies ergebe sich aus der eigenen Darstellung des Antragstellers. Dass tatsächlich der Antragsteller und nicht ... die Spielhalle betreibe, folge ferner aus dem Umstand, dass eine entgeltliche Nutzungsvereinbarung über die Spielgeräte ursprünglich nicht vorgelegt und vermutlich erst später erstellt worden sei. Auch sei der Antragsteller bei der Leerung der Automaten stets zugegen gewesen.

21

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Finanzgerichtsakte verwiesen. Dem Gericht haben die Steuerakten zu Steuernummer ... (Antragsteller), ... ( ... S.A.) und ... (...) vorgelegen.

22

II.

Der Antrag ist teilweise begründet.

23

Nach § 142 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 114 der Zivilprozeßordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. In dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist das Streitverhältnis darzustellen (§ 117 ZPO).

24

Die Rechtsverfolgung verspricht hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn bei summarischer Prüfung für seinen Eintritt eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Antragstellers aufgrund seiner Sachdarstellung und der vorhandenen Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist. Für die Gewährung der Prozesskostenhilfe kommt es wesentlich darauf an, ob bei summarischer Prüfung und Würdigung der wichtigsten Tatumstände der vom Antragsteller begehrte Erfolg eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat. Eine abschließende Prüfung der Erfolgsaussichten ist insoweit jedoch nicht erlaubt (BFH-Beschluss vom 23. Januar 1991 11 S 15/90, BStBl II 1991, 366 [BFH 23.01.1991 - II S 15/90] m.w.N.).

25

Die Rechtsverfolgung des Antragstellers verspricht bei summarischer Prüfung hinreichende Aussicht auf Erfolg, soweit den Umsatzsteuerfestsetzungen des Antragstellers Umsatzsteuerfestsetzungen der ... S.A. aufgrund ihrer Umsatzsteuervoranmeldungen entgegenstehen, die eine Umsatzsteuerschuld begründen. Insofern liegen widerstreitende Steuerfestsetzungen nach § 174 Abs. 1 Satz 1 AO vor. Im übrigen verspricht die Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.

26

Nach § 174 Abs. 1 Satz 1 AO ist ein fehlerhafter Steuerbescheid auf Antrag aufzuheben oder zu ändern, wenn ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden zu Ungunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen. Diese Voraussetzungen liegen bei summarischer Prüfung nach Aufhebung der Umsatzsteuerjahresbescheide der ... S.A. durch den Bescheid des Antragsgegners vom 29. September 1994 teilweise vor. Denn nach Aufhebung der Umsatzsteuerbescheide 1989 bis 1992 lebten die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Umsatzsteuervorauszahlungsbescheid der ... S.A. wieder auf (§ 124 Abs. 2 AO). Zu Ungunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden sind die Umsatzsteuervorauszahlungsbescheid, die keinen Vorsteuerüberhang, sondern eine Steuerfestsetzung ergeben.

27

Die Umsatzsteuerfestsetzungen gegen die ... S.A. aufgrund der von ihr eingereichten Umsatzsteuervoranmeldungen sind nicht nichtig, da die Voranmeldungen nicht von einer nichtexistenten Person eingereicht und die Umsatzsteuerbescheide nicht an eine nichtexistente Person adressiert sind. Denn die ... S.A. ist nach spanischem Recht und damit dem Recht eines Mitgliedsstaates der EG als Gesellschaft entstanden. Sie ist damit als Gesellschaft Steuerrechtssubjekt.

28

Der Antragsgegner weist zwar zutreffend darauf hin, dass das Gesellschaftsstatut, also das Recht, nach dem sich die gesellschaftsrechtlichen Beziehungen einer juristischen Person richten, in Deutschland und den meisten anderen europäischen Staaten (vgl. Lutter/Hommelhoff, GmbH-Gesetz, 14. Aufl. 1995, Einl. Rn. 23) von der bisher herrschenden Meinung nach der sog. Sitztheorie bestimmt wurde (vgl. BGHZ 53, 181, 183; BGHZ 97, 269, 271 = RIW 1986, 822; K Schmidt, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 1997, S. 27 m.w.N.). Die Sitztheorie stellt für das Gesellschaftsstatut auf den tatsächlichen Sitz der Hauptverwaltung der Gesellschaft ab. Verlangt wird somit neben der Rechtsfähigkeit einer juristischen Person, dass diese ihren Verwaltungssitz und damit ihre hauptsächliche Tätigkeit in dem Staat der Gründung hat. Die Sitztheorie erkennt deshalb Gesellschaften, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz im Inland haben, jedoch nach dem Recht eines fremden Staates gegründet wurden, nicht an (vgl auch Bay0bLG, Beschluss v. 26.08.1998, DB 1998, 2318 f.). Danach wäre zumindest zweifelhaft, ob die ... S.A. als Gesellschaft und damit Steuerrechtssubjekt entstanden ist.

29

Darauf kommt es jedoch nicht mehr an. Denn der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 09.03.1999 (- Rs. C-212/97; Centros Ltd./Erhvervs - og Selskabsstyrelsen, DB 99, 625) die Sitztheorie verworfen und entschieden, dass im Falle einer Gesellschaftsgründung in der Ausnutzung der weniger strengen Gründungsvorschriften in einem anderen Mitgliedstaat kein Missbrauch liege. Der EuGH erklärt in seiner Entscheidung die Umgehung der inländischen Gründungsvorschriften ausdrücklich als zulässig, weil der EG-Vertrag die Gleichwertigkeit aller nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeter Gesellschaften zur Tätigkeit im ganzen Gemeinschaftsgebiet statuiere und die Ausübung eines EG-rechtlichen Grundrechts nicht als missbräuchlich qualifiziert werden könne. Insbesondere tauge der Zweck des Gläubigerschutzes nicht als Rechtfertigung zur Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, denn auch eine tatsächlich im Ausland tätige und dort gegründete Kapitalgesellschaft biete den Gläubigern keine höhere Sicherheit. Durch die durch gemeinschaftsrechtliche Vorschriften (vgl. RL 78/660/EWG des Rates v. 25.07.1978; 11. RL 891666/EWG des Rates v. 21.12.1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassung) garantierte Transparenz sei vielmehr der Gläubigerschutz gegenüber ausländischen Gesellschaften mit inländischer Niederlassung allgemein hinreichend gesichert (EuGH, EWS 1999, 140 ff. Rn. 35). Der EuGH verweist das internationale Gesellschaftsrecht damit gemeinschaftsweit auf die sog. Gründungstheorie. Sie besagt, dass sich das Gesellschaftsstatut ausschließlich nach dem Ort richtet, an dem die Gesellschaft gegründet wurde, und nicht danach, wo die Gesellschaft ihre tatsächliche Geschäftstätigkeit ausübt (vgl. MüKo/Ebenroth, nach Art. 10 EGBGB Rn. 43 m.w.N.).

30

Unter Randnummer 34 seiner Entscheidungsgründe weist der EuGH ferner darauf hin, dass jede nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates gegründete Gesellschaft in allen anderen Mitgliedstaaten nicht nur ihren Verwaltungssitz nehmen kann, sondern dass sie auch allgemein nicht in diskriminierender Weise behindert werden dürfe. Nach ausländischem Recht gegründete Gesellschaften, auf welche Art. 52, 58 EGV Anwendung finden, haben also nicht nur das Recht, in Deutschland als rechtsfähig anerkannt zu werden; sie dürfen auch sonst nicht gegenüber nach deutschem Recht errichteten Gesellschaften diskriminiert werden. Dies gilt auch für das Steuerrecht (vgl. Meilicke, Anm. zum EuGH-Urteil, DB 99, 627).

31

Die Umsätze und Vorsteuern der ... S.A. sind damit sowohl in den Umsatzvoranmeldungen der ... S.A. wie auch in den Umsatzsteuerfestsetzungen gegen den Antragsteller erfasst. Damit liegen widerstreitende Steuerfestsetzungen i.S.d. § 174 Abs. 1 AO vor.

32

Die widerstreitenden Steuerfestsetzungen berücksichtigen den ihnen zugrunde liegenden Sachverhalt jedoch zu Ungunsten des Antragstellers nur, soweit sich aufgrund der Umsatzsteuervoranmeldungen der ... S.A. nach Saldierung der Umsatzsteuern und Vorsteuern Umsatzsteuerzahlungen ergeben. Maßgeblich für die Bestimmung der widerstreitenden Rechtsfolgen ist insofern der bestimmte Sachverhalt. Sachverhalt ist der einzelne Lebensvorgang, der insgesamt oder teilweise den gesetzlichen Steuertatbestand oder ein einzelnes Merkmal dieses Tatbestandes erfüllt (vgl. Tipke/Kruse, AO, § 174 Tz. 2, § 173 Tz. 3; BFH-Urteil vom 22. August 1990 I R 42/88, BStBl II 1991 S. 387 ff.). Bezogen auf den vorliegenden Rechtsstreit ist dieser bestimmte Sachverhalt der in den Umsatzsteuervoranmeldungen der ... S.A. erklärte Umsatzsteuertatbestand in dem betreffenden Monat, d.h. die in den betreffenden Monaten steuerpflichtig getätigten Umsätze einschließlich der damit im Zusammenhang stehenden und geltend gemachten Vorsteuern in Gestalt der Steuerfestsetzung.

33

Widerstreitende Steuerfestsetzungen zu Ungunsten eines Steuerpflichtigen liegen danach nur hinsichtlich der Umsatzsteuer-Voranmeldungen der ... S.A. für Januar, März bis Mai, September und November 1990, Januar, Mai, Juli, August und November 1991 und Januar bis März, Mai, Juni und Oktober 1992 vor.

34

Insofern widerstreitende Steuerfestsetzungen vorliegen, sind die Steuerfestsetzungen gegen den Antragsteller fehlerhaft und deshalb gemäß § 174 Abs. 1 Satz 1 AO zu ändern. Die Steuerfestsetzungen des Antragstellers sind fehlerhaft, weil ihm die Umsätze der ... S.A. nicht zuzurechnen sind.

35

Für die Frage, wem eine Leistung als Unternehmer zuzurechnen ist, stellt das Umsatzsteuerrecht darauf ab, wer dem Leistungsempfänger gegenüber als Schuldner der Leistung auftritt. Bei Automaten ist der Betreiber und Unternehmer entsprechend den zivilrechtlichen Leistungsbeziehungen regelmäßig derjenige, der auf dem dort angebrachten Schild (§ 15 a Gewerbeordnung) als Betreiber ausgewiesen ist ( vgl. BFH-Urteil vom 24. September 1987, V R 192/78, BStBl II 1988, 29 ff. [BFH 24.09.1987 - V R 152/78], BFH-Urteil vom 21. Februar 1991, Az. V R 11/91, BFH/NV 1991, 844). Im Streitfall sind die vereinbarten Leistungen unter dem Name der ... S.A. erbracht worden. Diese ist nach außen hin im behördlichen Verkehr, gegenüber dem Antragsgegner, bei wirtschaftlichen Abrechnungen gegenüber Kunden und gegenüber Banken unter ihrem Namen aufgetreten. Jedenfalls ergibt sich aus dem Akteninhalt und dem Vorbringen der Beteiligten nichts gegenteiliges. Die vom Antragsgegner vorgelegten Abrechnungen aus den Jahren 1995 und 1996 stellen keinen Beweis dafür dar, dass nicht die ... S.A., sondern der Antragsteller als Unternehmer aufgetreten ist. Deshalb sind der ... S.A. die aufgrund ihrer Leistungen erbrachten Umsätze auch zuzurechnen.

36

Dem Kläger können die Umsätze auch nicht unter dem Gesichtspunkt zugerechnet werden, dass es sich bei der Firma ... S.A. und ... um "Strohmänner"gehandelt hat. Denn auch der nachhaltig tätige Strohmann ist aufgrund der von ihm unter seinem Namen getätigten Außenumsätze Unternehmer (vgl. BFH, Urteil vom 28.01.1999 - V R 4/98, BStBl II, 1999, 628 ff.; Wagner, StuW 1995, 154, gegen: BFH, Urteil vom 15. September 1994 XI R 56/93, BStBl II 1995, 275 ff.).

37

Im übrigen liegen die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 174 Abs. 1 Satz 1 AO nicht vor.

38

Bei dem Antragsteller wirkten sich zu Ungunsten der ihm zugerechneten Umsätze der ... S.A. zwar ferner die Hinzuschätzungen aus. Diese erfolgten jedoch erst nach der bei der Gesellschaft durchgeführten Umsatzsteuer-Sonderprüfung und sind nicht Gegenstand der Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide. Insofern liegen widerstreitende Steuerfestsetzungen nicht vor.

39

Soweit dem Antragsteller die Umsätze von ... zugerechnet wurden, liegen die Voraussetzungen für eine Änderung ebenfalls nicht vor. Denn der Antragsgegner hat die Umsatzsteuerbescheide gegen ... nicht aufgehoben, sondern die Steuer auf 0,00 DM festgesetzt. Widerstreitende Steuerfestsetzungen liegen daher nicht vor.

40

Die weiteren Steuerfestsetzungen aufgrund der Umsatzsteuervoranmeldungen weisen für die ... S.A. Vorsteuerüberhänge aus. Im Streitfall sind Umsatzsteuerfestsetzungen mit Vorsteuerüberhängen sowohl in den Umsatzsteuer-Voranmeldungen der ... S.A. als auch in den Umsatzsteuerfestsetzungen des Antragstellers berücksichtigt; der dem Abzug der Vorsteuerbeträge zugrunde liegende Sachverhalt ist daher in unvereinbarer Weise mehrfach, und zwar zugunsten des Antragstellers berücksichtigt worden. Eine Änderung dieser Steuerbescheide des Antragstellers ist nicht möglich. Denn gemäß § 174 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 ist ein fehlerhafter Bescheid zwar aufzuheben oder zu ändern, wenn ein bestimmter Sachverhalt in unvereinbarer Weise mehrfach zugunsten eines Steuerpflichtigen berücksichtigt worden ist. Der fehlerhafte Bescheid darf nach § 174 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 jedoch nur dann geändert werden, wenn die Berücksichtigung des Sachverhalts auf einen Antrag oder eine Erklärung des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist, d.h., wenn der Steuerpflichtige selbst (allein oder überwiegend) die fehlerhafte Berücksichtigung verursacht hat (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH vom 22 September 1983 IV R 227/80, BFHE 139, 347, BStBl II 1984, 510 ; dazu auch Begründung zu § 155 des Regierungsentwurfs einer Abgabenordnung, BTDrucks VI/1982, S. 154; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 174 AO 1977, Tz. 9a). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, da der Antragsgegner die Umsatzsteuerfestsetzungen gegen den Antragsteller aufgrund einer unzutreffenden Rechtsansicht von Amts wegen und ohne Berücksichtigung der Erklärung des Antragstellers als Steuerpflichtigen vorgenommen hat.

41

Danach besteht hinsichtlich der gegen den Antragsteller gerichteten Steuerfestsetzungen insofern eine hinreichende Aussicht auf Erfolg, als die Umsätze und Vorsteuern um die Summen der genannten Umsatzsteuervoranmeldungen der Gesellschaft zu kürzen sind, die zu Umsatzsteuernachzahlungen führten. Die Umsatzsteuerfestsetzungen wären daher wie folgt zu ändern:

Umsatzsteuerfestsetzung 1990:
Umsätze bisher99.820,00 DM
./. Umsatzkorrektur
§ 174 Abs. 129.961,00 DM
Umsatz neu69.859,00 DM14 Prozent9.780,26 DM
Vorsteuer bisher9.965,14 DM
Vorsteuerkorrektur
§ 174 Abs. 13.016,88 DM6.948,26 DM
Umsatzsteuerfestsetzung 19902.832,00 DM
Umsatzsteuerfestsetzung 1991:
Umsätze bisher121.358,00 DM
./. Umsatzkorrektur
§ 174 Abs. 140.475,00 DM
Umsatz neu80.883,00 DM14 Prozent11.323,62 DM
Vorsteuer bisher15.997,51 DM
Vorsteuerkorrektur
§ 174 Abs. 13.989,77 DM12.007,74 DM
Umsatzsteuer neu./. 684,12 DM
+ Zurechnung
Umsatzsteuer Egyde2.217,88 DM
Umsatzsteuerfestsetzung 19911.533,76 DM
Umsatzsteuerfestsetzung 1992:
Umsätze bisher88.085,00 DM
./. Umsatzkorrektur
174 Abs. 131.718,00 DM
Umsatz neu56.367,00 DM14 Prozent7.891,38 DM
Vorsteuer bisher9.191,09 DM
Vorsteuerkorrektur
§ 174 Abs. 13.720,35 DM5.470,74 DM
Umsatzsteuer neu./. 2.420,64 DM
+ Zurechnung
Umsatzsteuer Egyde4.685,38 DM
Umsatzsteuerfestsetzung 19927.106,02 DM
42

Der Antragsteller ist aufgrund seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht in der Lage, die Kosten für die Prozessführung zu tragen. Einkünfte und Vermögensgegenstände Dritter - hier von anderen Firmen - sind dem Antragsteller nicht zuzurechnen.

43

Die Anordnung über die Beiordnung des Prozessvertreters beruht auf § 121 Abs. 2 ZPO.

44

Die Kostenentscheidung beruht auf § 1 Gerichtskostengesetz (GKG).