Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 25.01.2016, Az.: S 2 U 7/12

Berücksichtigung der Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit bei der Gewährung einer Erwerbsminderungsrente

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
25.01.2016
Aktenzeichen
S 2 U 7/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2016, 12339
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2016:0125.S2U7.12.0A

Tenor:

  1. 1.)

    Die Klage wird abgewiesen.

  2. 2.)

    Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Streitig ist, nach welcher Minderung der Erwerbsfähigkeit (= MdE) die dem Kläger gewährte Rente zu zahlen ist.

Aus den vorliegenden Unterlagen ergibt sich, dass der im Jahr 1967 geborene Kläger bereits vor den hier streitgegenständlichen Unfall vom 07.06.1996 unter diversen Erkrankungen gelitten und sich häufig in ärztliche Behandlung begeben hat. So bestehen nach seinen Angaben im Fragebogen zur Feststellung der Schwerbehinderung vom 16.12.2002 bei ihm u. a. ein Beckentiefstand seit seiner Geburt und eine Scheuermann'sche Erkrankung (Bl. 246 der Akte der Beklagten (=UA)). Seit 1983 wurden immer wieder Behandlungen der Burst- und Lendenwirbelsäule (= BWS/LWS) durchgeführt (Bericht J. vom 09.08.2004 [Bl. 26 der Akte des Sozialgerichts (= SG) Lüneburg S 1 RJ 295/03 (= SG-R)]). In den Berichten vom 25.04.1983 und 06.12.1983 führte der behandelnde Arzt, Dr. K., aus, dass "eine Wirbelsäulenfehlhaltung und Beinlängendifferenz" bzw. "eine deutliche Bewegungseinschränkung von BWS und LWS mit einer unzureichenden Unkrümmbarkeit des dorsolumbalen Übergangs" vorliegen würde und daher Krankengymnastik verschrieben worden sei (Bl. 234, 237 UA). Im Jahr 1987 erlitt der Kläger bei einem Unfall eine Sprunggelenksfraktur (Bl. 463 UA). Im Bericht vom 08.07.1992 diagnostizierte der behandelnde Arzt Dr. L. "eine Lumboischialgie bei Skoliose" (Bl. 239 UA). In einem weiteren Bericht von Dr. L. vom 18.03.1994 sind "eine beidseitige Brachialgie, LWS- und Kniebeschwerden" vermerkt (Bl. 239 UA). Im Bericht vom 18.08.2003 führte der behandelnde Arzt Dr. M. aus, dass der Kläger dort seit 1977 in Behandlung stehen würde. 1983 sei erstmals ein BWS- und LWS-Syndrom aufgetreten. Auch in den folgenden Jahren seien immer wieder Behandlungen erforderlich geworden, insbesondere wegen rezidivierenden Blockierungen des Iliosakralgelenks. 1994 sei eine Behandlung aufgrund eines HWS-Syndroms erfolgt und 1999 sei eine rechtsseitige Knie-Operation aufgrund eines Schadens im Innenmeniskus durchgeführt worden. Insgesamt seien durch die Vielzahl der Erkrankungen des Bewegungsapparates und die ständigen Beschwerden von wechselnder Intensität und wechselnder Lokalisation häufige Behandlungen dort erforderlich gewesen (Bl. 262 UA).

-

Von 1983 bis 1986 erlernte der Kläger den Beruf des Kfz-Mechanikers und war seither in unterschiedlichen Berufen tätig. Seit Juni 1996 bezog er Arbeitslosengeld und absolvierte nach seinen Angaben unter Förderung des Arbeitsamtes ein Praktikum bei einer Steinsetzer- und Straßenbaufirma.

Ab dem 15.04.1996 begann die Schwester des Klägers gemeinsam mit ihrem damaligen Lebensgefährten auf dem elterlichen Hof-Grundstück "A. " mit einem Bauvorhaben. Nach den Angaben des Klägers sollte der erste Stock des ehemaligen Viehstalls zur Wohnung für seine Schwester und ihres Lebensgefährten umgebaut werden. Hierbei hätten ihr neben ihm auch zahlreiche Bekannte geholfen. Er selbst habe seine Schwester schon viele Tage vor seinem Unfall immer wieder für einige Stunden bei ihrem Projekt unterstützt, wie z. B. beim Entfernen von in dem Gebäude gelagerten Gegenständen und Gerümpel, beim Gerüstaufbau sowie bei Maurer- und Dachdeckerarbeiten. Am 07.06.1996 erlitt der Kläger einen Unfall, als er bei Dachdeckerarbeiten im Rahmen des Bauprojekts seiner Schwester aus ca. 4 m Höhe vom Gerüst stürzte und sich im Wesentlichen "eine Kompressionsfraktur des 8. Brustwirbelkörpers (= BWK)" zuzog. Danach war er bis zum 08.12.1997 arbeitsunfähig krankgeschrieben (Bericht Dr. N. v. 09.08.2004 - Bl. 26 SG-R). Im Mai 1998 nahm er an einer Fördermaßnahme des Arbeitsamts teil. Im Anschluss daran absolvierte er eine betriebliche Umschulung zum Zweiradmechaniker, die er mit dem Gesellenbrief im Jahr 2001 abschloss. Im Jahr 2000 heiratete der Kläger, wobei er von 2000 bis 2001 mit seiner Ehefrau in viel Eigenarbeit ein Haus in unmittelbarer Nähe zum Hof seiner Eltern errichtet. Dabei handelte es sich um ein Holzhaus, wobei der Kläger die Wandverkleidungen, die Täfelung der Decken und den gesamten Innenausbau selbst bewerkstelligte (S. 3 des Gutachtens von Dr. O.).

Am 17.12.2003 beantragte der Kläger bei der LVA Hannover die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Nach dem Gutachten von Dr. P. vom 31.03.2003 berichtete der Kläger im Wesentlichen über dauerhafte Kreuzschmerzen wegen des angeborenen Beckenschiefstands, ein einschnürendes Gefühl im Brustkorbbereich mit gelegentlichen Ausstrahlungen in beide Oberschenkel sowie über Schulter-, Nacken- und Kniebeschwerden. Die Hausarbeit sei möglich. Sämtliche Gang- und Standversuche seien regelrecht durchführbar gewesen. Das Aufrichten aus sitzender und liegender Position sei zügig ohne Schmerzangabe erfolgt. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und als Zweiradmechaniker würde ein tägliches Leistungsvermögen von 6 Stunden und mehr bestehen (Bl. 491 UA). Mit dem Bescheid vom 16.04.2003 wurde die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente abgelehnt, der hiergegen erhobene Widerspruch mit dem Widerspruchsbescheid vom 27.11.2003 zurückgewiesen. Im nachfolgenden Klageverfahren beim SG Lüneburg (S 1 RJ 293/03) erstattete Dr. Q. unter dem 16.11.2004 ein weiteres orthopädisches Gutachten. Darin gelangte er zu dem Ergebnis, dass der Kläger täglich noch 6 Stunden leichte bis mittelschwere Arbeiten verrichten könne. Die Klage wurde am 24.03.2005 zurückgenommen.

-

Der Unfall vom 07.06.1996 wurde der Beklagten seinerzeit nicht zur Kenntnis gebracht. Darüber hinaus hatte die Schwester des Klägers zum damaligen Zeitpunkt weder eine Baugenehmigung beantragt noch die Bauarbeiten bzw. Helferstunden der Beklagten gemeldet. Eine Baugenehmigung wurde ihr vielmehr erst am 26.09.2002 nachträglich erteilt. Hiervon erhielt auch die Beitragsabteilung der Beklagten Kenntnis. Nachdem die Schwester des Klägers auf die Anforderung der Eigenbaunachweise nicht reagierte, erhob die Beklagte mit dem Bescheid vom 05.05.2003 Beiträge für nicht gewerbsmäßige Bauarbeiten i. H. v. 1553,58 EUR aufgrund einer amtlichen Einschätzung. In dem daraufhin eingereichten Meldebogen vom 24.04.2003 gaben die Schwester des Klägers und ihr damaliger Lebensgefährte 11 Helfer mit jeweils 10 bis 16 Helferstunden an. Der Kläger war als Bruder mit nur 4 Helferstunden aufgeführt. Auch aus diesem Anlass wurde der Unfall vom 07.06.1996 nicht gemeldet. Mit dem Bescheid vom 09.07.2003 änderte die Beklagte den Bescheid vom 05.05.2003 ab und verlangte unter Zugrundelegung der angegebenen Helferstunden nur noch einen Betrag i. H. v. 210,79 EUR.

Erst am 17.12.2003 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Anerkennung des Ereignisses vom 07.06.1996 als Arbeitsunfall. Er vertrat die Auffassung, dass er für seine Schwester wie ein Beschäftigter tätig geworden sei. Mit dem Bescheid vom 28.07.2004 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus Anlass des Unfalls vom 07.06.1996 ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass zum Unfallzeitpunkt eine Tätigkeit des Klägers für ein Bauprojekt seiner Schwester nicht erwiesen sei. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 30.11.2005 zurückgewiesen. Im nachfolgenden Klageverfahren beim SG Lüneburg (S 2 U 159/05) machte der Kläger weiterhin geltend, dass er für seine Schwester "wie ein Arbeitnehmer" tätig geworden sei. Die erbrachten Arbeiten hätten die Leistungen überstiegen, die unter Verwandten üblich seien. So habe er vor dem Unfall schon ca. 30 Tage auf der Baustelle gearbeitet. Mit dem Urteil vom 26.05.2010 hob das SG Lüneburg die angefochtene Entscheidung der Beklagten auf und stellte fest, dass das Ereignis vom 07.06.1996 ein Arbeitsunfall war. Die hiergegen zum Landessozialgericht (= LSG) Niedersachsen-Bremen erhobene Berufung (L 3 U 209/10) wurde am 06.12.2010 von der Beklagten zurückgenommen.

Im darauf folgenden Rentenfeststellungsverfahren erstattete zunächst Dr. R. ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten. Darin gelangte er zu dem Ergebnis, dass beim Kläger zum einen "eine chronisch therapieresistente somatoforme Schmerzstörung bei u. a. chronischem BWS-Syndrom nach Unfall 1996" und zum anderen "der Verdacht auf eine komplexe Persönlichkeitsstörung mit asthenischen und narzistischen Zügen einhergehend mit Abhängigkeitsaspekten und passiv aggressiven Elementen sowie psychosomatischem Funktionsniveau" bestehen würde. Die Schmerzen und Beschwerden hätten zwar ihren Ausgang im Rahmen des Arbeitsunfalls genommen. Bedingt durch die Persönlichkeitsstörung hätten sich jedoch therapieresistente somatoforme Schmerzstörungen sowie eine chronische Schmerzkrankheit entwickelt, die ihre Wurzeln unfallunabhängig in der gestörten Persönlichkeitsstruktur des Klägers hätten (Bl. 460 UA). In der ergänzenden Stellungnahme vom 09.05.2011 führte Dr. R. aus, dass aufgrund der Schmerzkrankheit zwar eine MdE i. H. v. 100 % vorliegen würde, diese jedoch als unfallunabhängig einzuordnen sei (Bl. 528 UA). In der nervenärztlichen Stellungnahme vom 31.05.2011 schloss sich der beratende Arzt der Beklagten, Herr S., diesem Votum an (Bl. 546 UA). Im unfallchirurgischen Gutachten vom 25.04.2011 wiesen die Dres. T. und Prof. U. vom Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus Hamburg zunächst darauf hin, dass der Kläger über Schmerzen am ganzen Körper berichtet habe. An Unfallfolgen seien jedoch nur "eine Fixierung der BWS in deutlicher kyphotischer Fehlstellung bei BWK-8-Fraktur in deutlicher Keilwirbelform und Bewegungs- und Belastungsinsuffizienz" verblieben, wobei die unfallbedingte MdE mit 20 % einzuschätzen sei. Auf dieser Grundlage gewährte die Beklagte dem Kläger mit dem Bescheid vom 10.08.2011 ab dem 01.01.1999 eine Rente nach einer MdE i. H. v. 20 %. Als Unfallfolgen wurden anerkannt:

- Bewegungs- und Belastungsinsuffizienz der BWS, - Fehlstellung der BWS mit Rundrückenbildung und Seitversatz nach knöchern mit deutlicher Höhenmin- derung fest verheiltem Stauchungsbruch des 8. BWK.

Außerdem wurde festgestellt, dass die chronische Schmerzkrankheit und die Störung der Persönlichkeitsstruktur keine Unfallfolgen sind. Weiterhin wurde ausgeführt, dass die Ansprüche vor dem 01.01.1999 verjährt seien (Bl. 590 UA).

Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch wurde geltend gemacht, dass eine Rente nach einer MdE i. H. v. 100 % zu gewähren sei. Der Unfall sei eine wesentliche Teilursache für die Entwicklung der Schmerzkrankheit gewesen. Außerdem hätte die Beklagte bei sachgerechter Ermessensausübung auf die Einrede der Verjährung zu verzichten müssen. Der Kläger habe die verspätete Antragstellung nicht zu vertreten. Vielmehr wäre es die Pflicht des Unternehmers gewesen, den Unfall rechtzeitig zu melden. Der Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 07.12.2011 zurückgewiesen. Sowohl Dr. R. als auch Herr Werner hätten schlüssig dargelegt, dass der Unfall für die chronische Schmerzkrankheit und die Veränderung der Persönlichkeitsstruktur keine rechtlich wesentliche Teilursache gewesen sei. Die verspätete Unfallmeldung sei der Beklagten nicht anzulasten. Es bestünden daher keine Gründe, auf die Einrede der Verjährung zu verzichten.

Hiergegen hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 10.01.2012 beim SG Lüneburg Klage erhoben (S 2 U 7/12). Unter dem 05.11.2013 hat Dr. O. ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten erstattet (Bl. 48 SG-2). Darin ist sie zu dem Ergebnis gelangt, dass die beim Kläger vorliegende chronische Schmerzkrankheit nicht als Unfallfolge anerkannt werden könne. Es hätten sich auch keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Kläger aufgrund der Unfallfolgen im Bereich des frakturierten BWK unter außergewöhnlichen Schmerzen gelitten habe. Die vorliegenden Unterlagen würden vielmehr belegen, dass dies gerade nicht der Fall gewesen sei. So würden von 1998 - 2003 keine relevanten medizinischen Berichte existieren. Der Kläger habe außerdem in dieser Zeit auch eine Umschulung zum Zweiradmechaniker absolviert und von 2000 - 2001 mit viel Eigenarbeit ein Haus gebaut. Solche Arbeiten hätten jedoch nicht geleistet werden können, wenn seinerzeit schon eine chronische Schmerzkrankheit bestanden hätte. Die quasi im ganzen Körper lokalisierten Schmerzen habe der Kläger erstmals bei der Begutachtung durch Dr. Q. am 16.11.2004 im Verfahren S 1 RJ 295/03 angegeben (Bl 61, 63 SG-R). Weitere Befunde würden sich erst wieder ab 2008 nach einem Sturz von einem Traktor finden, wobei erst ab Dezember 2008 auch eine schmerztherapeutische Behandlung erfolgte. Ein chronisches Schmerzsyndrom könne daher frühestens ab der zweiten Hälfte 2008 angenommen werden. Der Unfall sei daher für die Ausbildung der Schmerzstörung nur von untergeordneter Bedeutung. In diesem Zusammenhang sei wiederum zu beachten, dass der Kläger schon vor dem Unfall unter aktenkundig dokumentierten diversen Beschwerden gelitten habe, die als konkurrierende Ursachen anzusehen seien. Die MdE sei hinsichtlich der von der Beklagten anerkannten Unfallfolgen mit 20 % zutreffend eingeschätzt.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat in seiner Replik zunächst die Ansicht vertreten, dass das Gutachten in analoger Anwendung des § 517 Zivilprozessordnung (= ZPO) im sozialgerichtlichen Verfahren nicht verwertet werden könne. Die Untersuchung des Klägers habe am 07.05.2013 stattgefunden, während das Gutachten erst knapp 6 Monate später unter dem 05.11.2013 erstattet worden sei. Nach 5 Monaten sei das Gedächtnis eines Gutachters aber derart getrübt, dass es keinen Bezug mehr zu der Untersuchung haben könne. Im Übrigen würde die Sozialanamnese eine Vielzahl von Fehlern enthalten. Vor diesem Hintergrund könne es nicht verwundern, dass die Antworten der Gutachterin falsch seien. Schließlich gehe aus den bei der Untersuchung am 07.05.2013 angefertigten handschriftlichen Notizen der Sachverständigen hervor, dass diese zunächst zu einem anderen Ergebnis gelangt sei. Darin sei ein Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfall und der Schmerzstörung bejaht und die MdE mit 40 % eingeschätzt worden.

In der ergänzenden Stellungnahme vom 16.11.2015 wies die Sachverständige zunächst darauf hin, dass sie die vom Kläger genannten Daten, Zeiten und Fakten nach bestem Wissen und Gewissen so mitgeschrieben habe, wie sie der Kläger angegeben habe. Allerdings würden sich die vom Kläger monierten Fehler bzw. korrigierten Daten nicht auf das Gutachtenergebnis auswirken. Bei den in die Hand des Klägers gelangten handschriftlichen Notizen hätte es sich um erste Überlegungen und rein private Notizen gehandelt. Sie würden daher höchstens den allerersten Eindruck, keinesfalls jedoch die endgültige Beurteilung des Falls widerspiegeln. Die Beurteilung einer Kausalitätsfrage sei ein Prozess in mehreren Schritten, der nie mit dem ersten Eindruck vom Bericht des Betroffenen abgeschlossen sei. Grundsätzlich werde die Aktenlage von ihr vor der persönlichen Untersuchung des Probanden zum ersten Mal studiert. Sodann werde der Proband untersucht und befragt. Danach werde der Akteninhalt erneut komplett (i. d. R. mehrfach) durchgegangen und die Plausibilität der Darstellung mit den aktenkundigen Informationen abgeglichen. Dann würden die Informationen in den Kontext des wissenschaftlichbegründeten fachärztlichen Wissens gestellt. Erst dann sei eine endgültigen Beurteilung möglich. Beim Kläger habe die wiederholte sorgfältige Prüfung der aktenkundigen medizinischen Dokumentationen gezeigt, dass seine Darstellung, nach der er seit dem Unfall vom 07.06.1996 durchgehend außergewöhnliche unfallbedingte Schmerzen durch die BWK-Fraktur gehabt habe, nicht plausibel sei. Über ausgedehnte Schmerzbeschwerden werde vielmehr erstmals mehr als 8 Jahre nach dem Unfall berichtet. Dieses ausgedehnte Schmerzbild, das sich nachfolgend chronifizierte und sich zum Vollbild einer somatoformen Schmerzstörung entwickelte habe, könne ursächlich nicht auf den Unfall 1996 bezogen werden. Vielmehr sei ein Zusammenhang mit den auch schon lange vor dem Unfall festgestellten Unfallfolgen aktenkundig belegt. Ein unfall- bzw. wirbelfrakturbedingter Anteil sei innerhalb der ganzkörperartig verteilten Schmerzen weder bezüglich der Lokalisation noch der Funktion her abzugrenzen bzw. dingfest zu machen. Der gesamte Verlauf würde im vorliegenden Fall vielmehr darauf hinweisen, dass der Schmerzanteil, der von der BWK-7-Fraktur herrühren würde, von untergeordneter Bedeutung sei. Mindestens in den ersten 8 Jahren nach dem Unfall seien keine außergewöhnlichen Schmerzen dokumentiert. Eine Schmerztherapie hätte ebenfalls nicht stattgefunden. Vielmehr sei der Kläger nachgewiesener Maßen in der Lage gewesen, körperlich fordernde Aktivitäten auszuüben (z. B. Umschulung, Hausbau).

Dem hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers entgegengehalten, dass die vielen Fehler bei der Erstellung der Anamnese ein Indiz für die nachlässige Arbeit der Sachverständigen sei. Die nachlässige Arbeitsweise der Sachverständigen würde auch noch in der ergänzenden Stellungnahme zutage treten, da sie sich dort durchgängig auf eine BWK-7-Fraktur beziehen würde, obwohl der Kläger eine BWK-8-Fraktur erlitten habe. Dies würde nur den Schluss zulassen, dass das Gutachten ebenso fehlerhaft sei, wie die Sozialanamnese und die ergänzende Stellungnahme. Im Übrigen würde die Sachverständige von falschen Voraussetzungen ausgehen, da sich der Kläger nach dem Attest seiner Hausärztin, Frau Sprogies, vom 12.01.2016 in den Jahren 1997 - 2004 regelmäßig aufgrund seines Unfalls dort vorgestellt habe.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,

  1. 1.)

    den Bescheid der Beklagten vom 10.08.2011 abzuändern und den Widerspruchsbescheid vom 07.12.2011 aufzuheben,

  2. 2.)

    die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab dem 09.12.1997 eine Rente nach einer MdE von mehr als 20 % zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten (S 1 RJ 295/03, S 2 U 159/05, S 2 U 7/12) sowie die Akten der Beklagten zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Zu Recht hat die Beklagte entschieden, dass eine höhere MdE als 20 % hier nicht gerechtfertigt ist und die Rente nicht vor dem 01.01.1999 beginnen kann. Die angefochtene Entscheidung der Beklagten erweist sich daher als rechtmäßig.

Aus §§ 212, 214 Abs. 3 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (= SGB VII) ergibt sich, dass - obwohl der Versicherungsfall noch zum Geltungszeitpunkt der Reichsversicherungsordnung (= RVO) eingetreten ist - hinsichtlich der hier relevanten Fragestellungen die Vorschriften des SGB VII anzuwenden sind. Nach § 214 Abs. 3 SGB VII gelten u. a. die Vorschriften über Renten auch für Versicherungsfälle vor dem Tag des Inkrafttretens des SGB VII (= zum 01.01.1997), wenn diese Leistungen erstmals nach Inkrafttreten des SGB VII festzusetzen sind. Im vorliegenden Fall hätte die Rente des Klägers - ungeachtet der Frage der Verjährung - frühestens nach dem Ende der Verletztengeldzahlung zum 08.12.1997 (vgl. Bl. 26 SG-R) und somit nach dem Inkrafttreten des SGB VII beginnen können (§ 72 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII).

Gem. § 56 Abs. 3 S. 1 SGB VII wird beim unfallbedingten Verlust der Erwerbsfähigkeit eine Vollrente geleistet. Ist die Erwerbsfähigkeit aufgrund der Unfallfolgen lediglich gemindert, wird eine Teilrente geleistet. Sie wird in Höhe des Prozentsatzes der Vollrente geleistet, der dem Grad der (unfallbedingten) MdE entspricht. Im vorliegenden Fall hat die Beklagte zutreffend die MdE auf 20 % festgesetzt. Aus gegebenem Anlass ist zunächst besonders darauf hinzuweisen, dass für die Einschätzung der MdE nicht auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit oder den Beruf des Versicherten abgestellt wird. Es kommt also grundsätzlich nicht darauf an, ob ein Versicherter mit den Unfallfolgen seinen Beruf noch ausüben kann. Maßgebendes Kriterium ist vielmehr der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung). Entscheidend für die Höhe der MdE ist dabei die objektiv nachgewiesene funktionelle Beeinträchtigung des verletzten Körperteils aufgrund eines unfallbedingten Körperschadens (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Kommentar zur Unfallversicherung, § 56 SGB VII, Rz. 10.2.; LSG Niedersachsen, Urt. v. 18.09.2003 - L 6 U 418/02). Dabei orientiert sich die Schätzung der MdE an sog. Erfahrungswerten. Hiervon können die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit im Allgemeinen ausgehen, weil sie eine wünschenswerte gleiche Beurteilung gleicher Verletzungsfolgen ermöglichen (vgl. Lauterbach, Kommentar zum SGB VII, § 56, Rz. 28, m. w. N.). Danach bedingt ein stabiler Wirbelkörperbruch mit einem statisch wirksamen Achsenknick eine MdE von 10% bis 20 %. Eine MdE von 20 % steht allerdings grundsätzlich erst zu, wenn es sich um einen Zustand handelt, der einem instabilen Bruch mit einer Bandscheibenbeteiligung vergleichbar ist. 30 % werden schließlich erreicht, wenn ein instabiler Bruch mit einer Bandscheibenbeteiligung und einem statisch wirksamen Achsenknick vorliegt (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl., 2009, S. 442).

Bei Anwendung dieser Kriterien ist die MdE i. H. v. 20 % nicht zu beanstanden. Nach dem Gutachten von Prof. Dr. U. hat der Bruch des 8. BWK zwar zu einer deutlichen Keilwirbelform sowie zu einer Fixierung der BWS in einer deutlichen kyphotischen Fehlstellung, zu einer ungünstigen Statik sowie zu einer Bewegungs- und Belastungsinsuffizienz geführt. Allerdings ist die Fraktur knöchern vollständig konsolidiert, so dass von einem instabilen Bruch keine Rede sein kann. Es wird darauf hingewiesen, dass auch die im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten im sozialgerichtlichen Verfahren verwertbar sind (vgl. BSG, Urt. v. 08.12.1988 - 2/9b RU 66/87; BSG SozR Nr. 66 zu § 128 SGG). Sie sind insbesondere keine Parteigutachten, da die Sozialversicherungsträger im Rahmen des für sie geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes zur Objektivität verpflichtet sind (§§ 20 SGB X, 17 SGB I). Darüber hinaus hat auch Dr. O. die MdE i. H. v. 20 % bestätigt.

Entgegen dem Vorbringen des Prozessbevollmächtigten des Klägers ist deren Gutachten vom 05.11.2013 sowie deren Stellungnahme vom 16.11.2015 im vorliegenden Verfahren verwertbar. Die Verwertbarkeit ist insbesondere nicht durch die Anwendung des § 517 ZPO ausgeschlossen, weil diese Vorschrift nicht für die Erstellung von Sachverständigengutachten gilt. Auch eine analoge Anwendung dieser Norm kommt nicht in Betracht, da der Entscheidungsfindungsprozess bei einem Sachverständigen völlig anders gelagert ist als bei einem Gericht. Insbesondere ist ein Begutachtungstermin in keinster Weise einem Verkündungstermin gleichzusetzen. Während mit der Urteilsverkündung der gerichtliche Entscheidungsprozess unwiederbringlich abgeschlossen ist, stellt sich die Situation bei der Untersuchung eines Probanden im Rahmen der Begutachtung völlig anders dar. So können auch nach der Untersuchung noch andere Aspekte in das Gutachtenergebnis einfließen, etwa wenn das Aktenstudium erst nachträglich durchgeführt wird und/oder noch Fachliteratur zu studieren ist oder neuere wissenschaftliche Erkenntnisse auszuwerten sind. Das Gesetz macht einem Sachverständigen hinsichtlich der Reihenfolge seiner Prüfschritte keine Vorgaben. Auch die Sachverständige hat in ihrer ergänzenden Stellungnahm ihren persönlichen - mehrschrittigen - Entscheidungsfindungsprozess anschaulich dargestellt und deutlich gemacht, dass ein wesentlicher Teil der Ergebnisfindung und Gutachtenerstellung erst nach der Untersuchung eines Probanden beginnt. Diese Vorgehensweise hält die Kammer auch für sachgerecht.

Das Gutachten von Dr. O. ist weiterhin auch nicht deshalb unverwertbar, weil - nach Ansicht der Klägerseite - die Anamnese eine Vielzahl von Fehlern enthielt. Die Kammer sieht sich in diesem Zusammenhang außerstande festzustellen, ob die vom Kläger monierten unzutreffenden Angaben in der Anamnese auf ein Verschulden der Sachverständigen, des Klägers oder generell auf Kommunikationsdefizite zurückzuführen sind. Eine Nachlässigkeit der Sachverständigen lässt sich damit nicht feststellen, so dass sich die Frage erübrigt, ob entsprechenden Fehlern eine Indizwirkung für andere Teile des Gutachtens zukommen würde. Entscheidend ist vielmehr, dass sich die vom Kläger und seinem Prozessbevollmächtigten monierten Fehler bzw. korrigierten Daten nicht auf das Gutachtenergebnis auswirken. Auch die weiteren Ausführungen der Sachverständigen in ihrer ergänzenden Stellungnahme hält die Kammer für überzeugend. Zwar trifft es zu, dass sich die Sachverständige darin jeweils auf eine BWK-7-Fraktur bezieht, obwohl der Kläger tatsächlich eine BWK-8-Fraktur erlitten hat. Diese Ungenauigkeit hält die Kammer jedoch in Ansehung der dem Rechtsstreit zugrundliegenden Frage (Anerkennung der chronischen Schmerzkrankheit als Unfallfolge) für unwesentlich, als dass hierdurch das Gesamtergebnis des Gutachtens in Zweifel zu ziehen wäre.

Schließlich können auch die in die Hand des Klägers gelangten handschriftlichen Notizen der Sachverständigen zu keiner anderen Beurteilung führen, da eine Bindung der Sachverständigen hieran nicht besteht. Nach ihren überzeugenden Ausführungen hat es sich hierbei lediglich um erste Überlegungen und rein private Notizen gehandelt, die allenfalls den allerersten Eindruck, jedoch keinesfalls die endgültige Beurteilung des Falls widerspiegeln. Wie sonst im Rechtsleben auch gilt daher der Grundsatz, dass nur solche Ausführungen bzw. Erklärungen Geltung beanspruchen können, welche zuletzt von der maßgeblichen Person unterzeichnet wurden.

Auch in Bezug auf den hier streitigen Kausalzusammenhang hält die Kammer die Ausführungen von Dr. V. für überzeugend. Nach den Anerkennungsgrundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung ist die geltend gemachte Gesundheitsstörung (einschließlich der Brückensymptome) im Wege des Vollbeweises nachzuweisen. Darüber hinaus ist für die Feststellung des Zusammenhangs zwischen dem Unfall und dem Gesundheitsschaden ein hinreichender Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich. Dieser ist nach der Rechtsprechung aber nur dann erreicht, wenn bei einem vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf eine berufliche Verursachung hinweisenden Faktoren deutlich überwiegen (vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38). Eine Möglichkeit verdichtet sich erst dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Kommentar § 8 SGB VII, Rz. 10, m. w. N.). Die reine Möglichkeit eines solchen Zusammenhangs ist daher für eine Anerkennung nicht ausreichend (BSG, Urt. v. 27.06.2000 - B 2 U 29/99 R, S. 8 f.; Urt. v. 02.05.2001 - B 2 U 16/00 R, S. 7 m. w. N.; Urt. v. 02.04.2009 - B 2 U 29/07 R; LSG Niedersachsen, Urt. v. 25.07.2002 - L 3/9/6 U 12/00, S. 6.). Weiterhin ist zu beachten, dass nach der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung ein Gesundheitsschaden nur dann als Unfallfolge anerkannt werden kann, wenn der Unfall eine wesentliche Ursache hierfür war. Dabei erfordert die Feststellung einer wesentlichen Ursache nicht, dass der Unfall die alleinige oder überwiegende Bedingung hierfür gewesen ist. Haben mehrere Ursachen gemeinsam zum Gesundheitsschaden beigetragen, sind sie nebeneinander stehende Teilursachen. Kein Faktor hebt die Mitursächlichkeit des anderen auf. Dabei kann sogar eine verhältnismäßig niedriger zu wertende Bedingung für "den Erfolg" rechtlich wesentlich sein. Als Faustregel lässt sich dabei festhalten, dass ein Faktor jedenfalls dann noch als wesentlich für den Eintritt des Gesundheitsschadens anzusehen ist, wenn er neben anderen Bedingungen daran mit etwa einem Drittel beteiligt war (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., S. 25 f. m. w. N.).

Unter Zugrundelegung dieser Kriterien kann die Entwicklung der chronischen Schmerzerkrankung aus dem angeschuldigten Ereignis nicht abgeleitet werden. In diesem Zusammenhang hat Dr. O. zutreffend darauf hingewiesen, dass sich die chronische (generalisierte) Schmerzerkrankung erst mit deutlicher zeitlicher Latenz zu dem Unfall entwickelt hat. Jedenfalls existieren keine ärztlichen Befunde, die die unfallnahe Ausbildung einer Schmerzkrankheit belegen. Auch die lebensgeschichtlichen Angaben des Klägers sprechen dagegen, dass ein zeitlich dem Unfallgeschehen zuzuordnendes außergewöhnliches Schmerzsyndrom vorgelegen hat, da er noch eine zweijährige Umschulung zu einem handwerklichen Beruf (Zweiradmechaniker) ab 1998 absolvierte und in den Jahren 2000 - 2001 mit viel handwerklicher Eigenleistung ein Haus baute. Auch die Kammer hält diese Aktivitäten nicht für leistbar, wenn ein frakturbedingtes außergewöhnliches Schmerzsyndrom vorgelegen hätte. Weiterhin wurde noch im Gutachten von Dr. P. vom 31.03.2003 dargelegt, dass der Kläger ein tägliches Leistungsvermögen für 6 Stunden und mehr auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und auch als Zweiradmechaniker besitzt. Es wurde insbesondere ausgeführt, dass für den Kläger nach seinen Angaben die Hausarbeit noch möglich war, sämtliche Gang- und Standversuche regelrecht verliefen und das Aufrichten aus sitzender und liegender Position zügig und ohne Schmerzangabe erfolgte (Bl. 505 UA). Erste Angaben zu den generalisieren Ganzkörperschmerzen finden sich vielmehr erstmals bei der Anamnese durch Dr. Q. im Verfahren S 1 RJ 295/03 am 16.11.2004 (Bl. 59, 63 SG-R), d. h. über acht Jahre nach dem Unfall. Gleichwohl wurde der Kläger aber seinerzeit für fähig erachtet, täglich noch leichte und teilweise auch mittelschwere Arbeiten 6 Stunden und mehr zu verrichten. Das Gutachtenergebnis wurde seinerzeit vom Kläger akzeptiert, da er die Klage zurückgenommen hat. Es dauerte dann noch weitere 4 Jahre, bis sich der Kläger schließlich im Jahr 2008 in schmerztherapeutische Behandlung begab.

Bei der Ausbildung der Schmerzkrankheit ist weiterhin zu beachten, dass der Kläger nicht nur an den Schmerzen aufgrund der anerkannten Folgen im Bereich des 8. BWK litt. Vielmehr leidet der Kläger unter einer Vielzahl von Erkrankungen, von denen einige zweifellos schon vor dem Unfall existierten. So besteht bereits seit der Geburt ein Beckentiefstand. Später wurde eine Scheuermann'sche Erkrankung diagnostiziert. Seit 1983 wurden immer wieder Behandlungen der BWS und LWS durchgeführt, wobei bereits seinerzeit eine Wirbelsäulenfehlhaltung, eine Beinlängendifferenz, eine deutliche Bewegungseinschränkung von BWS und LWS mit einer unzureichender Unkrümmbarkeit des dorsolumbalen Übergangs" festgestellt wurden. Im Jahr 1987 erlitt der Kläger bei einem Unfall eine Sprunggelenksfraktur (Bl. 463 UA), welche im weiteren Verlauf eine posttraumatische, präarthrotische Deformität ausbildete (Bericht Dr. W. vom 01.10.2003 - Bl. 816 UA). Im Jahr 1994 traten beidseitige Schulterschmerzen und Kniebeschwerden hinzu, wobei 1999 eine Knie-Operation aufgrund eines Innenmeniskusschadens durchgeführt werden musste. Zusammenfassend hat der behandelnde Arzt Dr. M. die Gesamtsituation dergestalt charakterisiert, dass durch die Vielzahl der Erkrankungen des Bewegungsapparates und die ständigen Beschwerden von wechselnder Intensität und wechselnder Lokalisation häufige Behandlungen erforderlich gewesen sind (Bl. 262 UA). Ein Focus auf die BWK-8-Fraktur lässt sich daher nicht feststellen. Im Einklang mit Dr. O. kann die Kammer daher angesichts der Vielfalt der Beschwerden und des oben geschilderten Erkrankungsverlaufs keinen Ansatzpunkt dafür erkennen, dass die anerkannten Unfallfolgen im Bereich des 8. BWK eine wesentliche Teilursache für die Ausbildung der generalisierten Schmerzerkrankung waren. Vielmehr ist ein solcher Zusammenhang angesichts der zahlreichen konkurrierenden Faktoren und der großen zeitlichen Latenz zu dem Unfall nicht wahrscheinlich. Die chronische Schmerzerkrankung kann daher bei der Einschätzung der MdE keine Berücksichtigung finden. Weiterhin kann eine MdE-Erhöhung auch nicht aufgrund von mit den Unfallfolgen außergewöhnlichen Schmerzen erfolgen. Dabei ist in Bezug auf eine mit den Unfallfolgen verbundene Schmerzsymptomatik zu beachten, dass in den Richtwerten die üblicherweise mit der Verletzung einhergehenden Schmerzen bereits enthalten sind. Demgegenüber steht eine höhere MdE nur dann zu, wenn die Schmerzempfindlichkeit über das übliche Maß hinausgeht und sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirkt. Die erhöhte Einschränkung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt liegt vor, wenn der Betroffene nur unter besonderem Energieaufwand und unter Hinnahme von außergewöhnlichen Schmerzen arbeiten kann (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., S. 221 ff.). Für solche außergewöhnlichen Schmerzen, die speziell mit den anerkannten Unfallfolgen verbunden sind, finden sich jedoch entsprechend den obigen Ausführungen und den Darlegungen der Sachverständigen keine Hinweise.

Aus dem Attest der behandelnden Ärztin X. vom 12.01.2016 kann der Kläger keine für ihn günstigere Beurteilung herleiten. Darin ist lediglich ausgeführt, dass er sich regelmäßig aufgrund der aus dem Unfall resultierenden Schmerzen zwischen 1997 - 2004 dort vorgestellt hat. Dass mit den Unfallfolgen gewisse Beschwerden verbunden sind, ist jedoch unbestritten, da der Kläger hierfür immerhin eine Rente nach einer MdE i. H. v. 20 % erhält. Auch in diesem Attest wurde aber weder darlegt, dass mit den Unfallfolgen ein außergewöhnlicher Schmerzzustand einherging, noch, dass entgegen der Auffassung von Dr. O. die Unfallfolgen in Ansehung der Vielzahl der anderen Erkrankungen eine wesentliche Teilursache für die Ausbildung der chronischem Schmerzkrankheit waren. Auch eine Auseinandersetzung mit dem Bericht des Praxisvorgängers, Dr. M., vom 18.08.2003, in dem gerade die Vielzahl der Erkrankungen besonders herausgestellt wurde, enthält das Attest von Frau X. nicht.

Schließlich sei darauf hingewiesen, dass die Kammer auch im Gutachten von Dr. R. kein Votum für einen Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfall und dem Schmerzsyndrom erblickt. Dr. R. hat vielmehr in der ergänzenden Stellungnahme vom 09.05.2011 klargestellt, dass sich die Schmerzkrankheit unfallunabhängig entwickelt hat (Bl. 528 UA).

Die Klage ist auch unbegründet, soweit die Beklagte die Rente erst ab dem 01.01.1999 gewährt. Zu Recht hat die Beklagte entschieden, dass Ansprüche vor diesem Zeitpunkt verjährt sind. Gem. § 45 SGB I verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind. Gem. § 45 Abs. 2 und 3 S. 1 SGB I gelten für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (= BGB) entsprechend, wobei die Verjährung auch durch den schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung gehemmt wird. Da der Kläger der Beklagten den Unfall erst im Jahr 2003 zur Kenntnis gebracht hat, sind die Ansprüche vor dem 01.01.1999 verjährt. Die Beklagte war auch nicht verpflichtet, im Rahmen des ihr zustehenden Ermessens auf die Einrede der Verjährung zu verzichten. In diesem Zusammenhang ist zunächst zu beachten, dass das Ermessen insoweit eingeschränkt ist, dass der Leistungsträger grundsätzlich gehalten ist, die Verjährungseinrede zu erheben, sofern keine besonderen Umstände, die für eine andere Entscheidung sprechen, vorliegen. Dies ergibt sich aus den Grundsätzen der ordnungsgemäßen Verwaltung, insbesondere der sparsamen Haushaltsführung (§ 69 Abs. 2 SGB IV), sowie dem in Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz normierten Gebot der Gleichbehandlung. Nach der Rechtsprechung ist daher der Leistungsträger auch nicht verpflichtet, allein im Hinblick auf eine damalige Unkenntnis eines Versicherten von dem ihm zustehenden Anspruch auf die Einrede der Verjährung zu verzichten (Bereiter-Hahn/Mehrtens, a. a. O., § 45 SGB I, Rz. 8.2 f. m. w. N.). Im vorliegenden Fall sind Umstände, welche für einen Verzicht auf die Verjährungseinrede sprechen, nicht ersichtlich. Vielmehr traf die Beklagte nicht das geringste Verschulden daran, dass der Unfall erst so spät gemeldet wurde. Die fehlende Meldung durch die Schwester des Klägers muss sich die Beklagte nicht zurechnen lassen. Vielmehr sind keine Gründe erkennbar, warum der Kläger die Anerkennung des Arbeitsunfalls innerhalb eines Zeitraums von 4 Jahren nicht selbst beantragen konnte, nachdem er festgestellt hat, dass insoweit von seiner Schwester keine Initiative zu erwarten ist. Auch dieser Punkt stellt im Übrigen ein weiteres Indiz dafür dar, dass der angeschuldigte Unfall seinerzeit im Alltag des Klägers nicht im Vordergrund stand.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.