Sozialgericht Lüneburg
v. 15.04.2016, Az.: S 34 R 426/15

Anspruch des Beziehers einer Regelaltersrente auf Rückgängigmachung des Versorgungsausgleichs zu einem früheren als von der gesetzlichen Rentenversicherung vorgenommenen Zeitpunkt

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
15.04.2016
Aktenzeichen
S 34 R 426/15
Entscheidungsform
Gerichtsbescheid
Referenz
WKRS 2016, 21399
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2016:0415.S34R426.15.0A

Tenor:

Der Rentenbescheid der Beklagten vom 15. April 2015, in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 2015, wird geändert und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger bereits ab dem 1. Mai 2014 eine im Hinblick auf den Versorgungsausgleich vom 28. März 2012 ungekürzte Regelaltersrente zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 9/10.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Rückgängigmachung des Versorgungsausgleichs zu einem früheren Zeitpunkt als von der Beklagten vorgenommen. Der am 20. Oktober 1937 geborene Kläger bezieht eine Regelaltersrente der Beklagten. Mit Beschluss des Amtsgerichts Winsen/Luhe vom 16. Januar 2012, rechtskräftig geworden am 15. März 2012, wurde er von seiner damaligen Ehefrau I. B. geschieden. Mit Beschluss vom 28. März 2012 wurde der Versorgungsausgleich durchgeführt. Am 26. März 2014 verstarb die geschiedene Frau des Klägers. Hiervon erhielt der Kläger erst zeitlich verzögert Kenntnis und stellte am 28. Februar 2015 einen Antrag auf Rückgängigmachung des Versorgungsausgleichs, rückwirkend zu dem Monatsersten, der auf den Todestag von Frau B. folgte (also der 1. April 2014). Mit Bescheid vom 15. April 2015 gab die Beklagte dem Antrag teilweise statt und machte den Versorgungsausgleich zum 1. März 2015 rückgängig. Eine Rückgängigmachung zum 1. April 2014 lehnte die Beklagte ab. Gegen den Bescheid vom 15. April 2015 legte der Kläger Widerspruch ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. Juli 2015 zurückwies. Hiergegen hat der anwaltlich vertretene Kläger am 27. August 2015 Klage erhoben. Er führt aus, die Beklagte hätte ihm auf das Versterben seiner ehemaligen Ehefrau zeitnah aufmerksam machen müssen. Es handele sich um einen Fall von § 115 Abs. 6 SGB VI. Wäre er rechtzeitig hingewiesen worden, hätte er unverzüglich die Rückgängigmachung des Versorgungsausgleichs beantragt. Im Gegensatz zu ihm habe die Beklagte unverzüglich Kenntnis vom Versterben seiner ehemaligen Ehefrau gehabt. Er hingegen sei nicht informiert gewesen. Aufgrund dieser Wissensüberlegenheit hätte die Beklagte ihn informieren müssen, so dass er seine sozialen Rechte hätte wahrnehmen können. Der Kläger beantragt,

den Rentenbescheid der Beklagten vom 15. April 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm ab dem 1. April 2014 eine im Hinblick auf den Versorgungsausgleich vom 28. März 2012 ungekürzte Regelaltersrente zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie führt aus, dass die Versichertenkonten des Klägers und dessen geschiedene Ehefrau nicht miteinander vernetzt gewesen seien. Man habe den Kläger daher nicht informieren können. Dementsprechend könne der Versorgungsausgleich erst aufgrund der Antragstellung aus dem Februar 2015 zum 1. März 2015 rückgängig gemacht werden. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässige und insbesondere innerhalb der einmonatigen Klagefrist des § 87 Abs. 1 SGG erhobene Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Das Gericht kann nach § 105 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen sieht das Gericht im vorliegenden Fall als gegeben an. Die gesetzlich erforderliche Anhörung der Beteiligten wurde durchgeführt.

Der Bescheid des Beklagten vom 15. April 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 2015 ist rechtswidrig soweit der Versorgungsausgleich erst zum 1. März 2015 rückgängig gemacht wurde. Hierdurch ist der Kläger in seinen Rechten verletzt.

Gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über den Versorgungsausgleich in der ab dem 1. September 2009 geltenden Fassung (VersAusglG) wird ein Anrecht der ausgleichspflichtigen Person (des Klägers) auf Antrag nicht länger aufgrund des Versorgungsausgleichs gekürzt, wenn die ausgleichsberechtigte Person (geschiedene Ehefrau) gestorben ist. Nach § 37 Abs. 2 VersAusglG findet die Anpassung nur statt, wenn die ausgleichsberechtigte Person die Versorgung aus dem im Versorgungsausgleich erworbenen Anrecht nicht länger als 36 Monate bezogen hat.

Die Voraussetzungen für die Anpassung des Versorgungsausgleichs sind unstreitig gegeben, denn die im Jahr 2012 geschiedene damalige Ehefrau des Klägers verstarb bereits im Jahr 2014. Der Kläger hat den Antrag auf ungekürzte Rentenzahlung jedoch erst am 28. Februar 2015 gestellt. Gemäß § 38 Abs. 2 i.V.m. § 34 Abs. 3 VersAusglG wirkt die Anpassung ab dem ersten Tag des Monats, der auf den Monat der Antragstellung folgt. Daher konnte der Versorgungsausgleich grundsätzlich erst ab dem 1. März 2015 angepasst werden.

Der Kläger ist jedoch nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als ob die Beklagte ihn unverzüglich über das Versterben seiner geschiedenen Ehefrau informiert hätte. Der vom Bundessozialgericht (BSG) im Rahmen richterlicher Rechtsfortbildung entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch knüpft an die Verletzung behördlicher Auskunfts-, Beratungs- und Betreuungspflichten als Nebenpflichten im Sozialrechtsverhältnis einen Anspruch auf (eine Art von) Naturalrestitution. Der Anspruch ist auf die Vornahme einer zulässigen Amts- bzw. Rechtshandlung zur Herstellung desjenigen Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Sozialleistungsträger die ihm aus dem Sozialrechtsverhältnis erwachsenden Nebenpflichten ordnungsgemäß wahrgenommen hätte (vgl. BSG, Urteil vom 30. Oktober 2001 - B 3 KR 27/01 R und BSG Urteil vom 16.Mai 2012 - B 4 AS 166/11 R).

Der Sozialleistungsträger ist dabei verpflichtet auch ungefragt an den Versicherten heranzutreten und eine entsprechende Beratung zu leisten (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7. Januar 2013 - L 3 R 274/12 und SG Lüneburg, Urteil vom 6. Juni 2013 - S 38 R 507/12 - beide mit weiteren Nachweisen). Hierbei ist zu beachten, dass die Beklagte nicht nur gemäß § 115 Abs. 6 Satz 1 SGB VI verpflichtet ist, den Berechtigten in geeigneten Fällen darauf hinzuweisen, dass er auf Antrag eine bestimmte Leistung erhalten kann. Alle Sozialversicherungsträger (also auch die Beklagte) sind zudem nach den Vorgaben des § 2 Abs. 2 und § 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I verpflichtet darauf hinzuwirken, dass jeder Berechtigte die ihm zustehenden sozialen Rechte möglichst weitgehend, umfassend und zügig verwirklichen kann (vgl. BSG, Urteil vom 9.12.1997 - 8 RKn 1/97 und SG Lüneburg, Urteil vom 14. März 2016 - S 1 R 596/13, beide mit weiteren Nachweisen).

Dies setzt eine entsprechende Organisation der Sozialversicherungsträger voraus. So ist beispielsweise gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 2 SGB I eine ausreichende personelle Ausstattung und Erreichbarkeit vorzunehmen. Es sind verständliche Antragsvordrucke zu verwenden (Nr. 3) und der Zugang muss barrierefrei gewährleistet sein (Nr. 2). Soweit die Beklagte ausgeführt hat, sie habe den Kläger nicht informieren können, weil sein Versichertenkonto nicht mit dem Versichertenkonto seiner geschiedenen Ehefrau verknüpft gewesen sei, stellt dies ein Organisationsverschulden der Beklagten dar. Die Scheidung und der damit verbundene Versorgungsausgleich waren der Beklagten bekannt. Mit Beginn der Rechtskraft des Beschlusses des Amtsgerichts Winsen/Luhe am 15. März 2012 waren der Kläger und Frau Möller "geschieden". Gemäß § 1 Abs. 1 Personenstandsgesetz in der ab dem 1. Januar 2009 geltenden Fassung (PStG) ist der Personenstand im Sinne dieses Gesetzes die sich aus den Merkmalen des Familienrechts ergebende Stellung einer Person innerhalb der Rechtsordnung. Der Personenstand umfasst Daten über Geburt, Eheschließung, Begründung einer Lebenspartnerschaft und Tod sowie damit in Verbindung stehende familien- und namensrechtliche Tatsachen. Gemäß § 56 Abs. 1 Nr. 2a) PStG teilt das Gericht (hier das Amtsgerichts Winsen/Luhe) dem das Eheregister führenden Standesamt eine Scheidung mit. Folglich hatten der Kläger und Frau B. den Personenstand "geschieden". Dies war der Beklagten bekannt. Zudem handelt es sich um eine rentenrechtlich (überaus) relevante Tatsache. Es konnte und musste daher von der Beklagten verlangt werden, den Personenstand sowohl im Versichertenkonto des Klägers als auch im Versichertenkonto seiner geschiedenen Ehefrau als "geschieden" einzutragen. Weil sich aus der Scheidung und dem damit im Zusammenhang stehenden Versorgungsausgleich ganz erhebliche rechtliche Folgen ableiten, hätte die Beklagte eine Verknüpfung zwischen den beiden vorgenannten Konten anlegen müssen. Es liegt auch auf der Hand, in diesem Zusammenhang eine Querverbindung zu programmieren, wie sie auch im Zusammenhang mit der Anrechnung von Einkommen aus eigenem Rentenbezug im Hinblick auf eine Hinterbliebenenrente aus anderer Versicherung vorgesehen ist. Die Beklagte hatte seit der Verkündung des Gesetzes zur Strukturänderungen im Versorgungsausgleich (im April 2009 verkündet mit Wirkung zum September 2009) auch hinreichend Zeit entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Die Umstände des vorliegenden Falles zeigen auf, dass eine solche Datenverknüpfung auch dringend geboten war. Wenn sichergestellt werden soll, dass jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und zügig erhält (§ 2 Abs. 2 und § 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I), bestand für die Beklagte ab April 2009 Veranlassung die entsprechende Verknüpfung anzulegen (vgl. vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7. Januar 2013 - L 3 R 274/12 und SG Lüneburg, Urteil vom 6. Juni 2013 - S 38 R 507/12). Die technische Realisierbarkeit einer solchen Verknüpfung setzt die Kammer voraus. Der Tod der geschiedenen Ehefrau hätte dann eine Mitteilung im Versichertenkonto des Klägers ausgelöst.

Soweit die Beklagte darauf verweist, dass sie in Ermangelung dieser Verknüpfung den Kläger nicht habe informieren können, führt dies zu keiner anderen Wertung. Wenn eine Pflichtverletzung zur Begründung eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nur dann gegeben wäre, wenn im Versichertenkonto hinterlegte Informationen dem Berechtigten nicht übermittelt wurden und nicht, wenn (wie hier) die Hinterlegung der Information schuldhaft unterlassen wurde, würde dies dazu führen, dass das Risiko sich einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ausgesetzt zu sehen für den Sozialversicherungsträger signifikant sinken würde je weniger Informationen er in den Unterlagen des Betroffenen speichert. Dies birgt die erhebliche Gefahr, dass die gemäß § 2 Abs. 2 und § 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I gebotene umfassende und zeitnahe Verwirklichung sozialer Rechte vereitelt würde.

Soweit die Beklagte meint, sie habe ihre Beratungs- und Informationspflicht hinreichend erfüllt, indem sie den Kläger in ihrer Mitteilung über die Umsetzung des Versorgungsausgleichs vom 28. März 2013 auf die Möglichkeit der Aussetzung der Kürzung bei Tod der früheren Ehefrau hingewiesen habe, verkennt die Beklagte, dass es nicht um die Information über rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten sondern um die Mitteilung von Tatsachen geht. Der Kläger konnte den Antrag auf Anpassung des Versorgungsausgleichs nicht stellen, weil die Beklagte ihn nicht über das Versterben seiner früheren Ehefrau informiert hat, obgleich sie davon wusste. Nur aufgrund dieses Wissensdefizites, welches die Beklagte hätte beseitigen können und müssen, war der Kläger an einer zeitnahen Antragstellung gehindert.

Der Kläger kann hingegen nicht verlangen so gestellt zu werden, als ob er die Rückgängigmachung des Versorgungsausgleichs noch am Todestag seiner geschiedenen Ehefrau gestellt hätte. Die Beklagte war lediglich verpflichtet, den Kläger "unverzüglich" zu informieren. Unverzüglich bedeutet nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) ohne schuldhaftes Zögern (vgl. § 121 BGB). Die geschiedene Ehefrau des Klägers ist am 26. März 2014 verstorben. Wenn die Erfassung ihres Versterbens in ihrem Rentenkonto - wie von der Kammer verlangt - einen Bearbeitungsauftrag im Rentenkonto des Klägers ausgelöst hätte, wäre es im Rahmen einer geordneten Verwaltung (und nur dies kann von der Beklagten gefordert werden) nicht möglich gewesen den Kläger noch vor Ablauf des Monats März 2014 entsprechend zu informieren. Dementsprechend wäre der Kläger auch im Falle ordnungsgemäßen Verwaltungshandelns erst im April 2014 informiert worden. Wenn er dann - wovon die Kammer ausgeht - unverzüglich den Antrag auf Anpassung des Versorgungsausgleichs gestellt hätte, hätte ein Anspruch auf die Durchführung der Anpassung gemäß § 38 Abs. 2 i.V.m. § 34 Abs. 3 Vers-AusglG dennoch erst zum 1. Mai 2014 bestanden. Daher war eine Anpassung schon zum 1. April 2014 auch im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht möglich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.