Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 18.06.2003, Az.: 13 B 1152/03

Zulässigkeit der Vorwegnahme der Hauptsache bei der Frage nach einem Anspruch eines freien Trägers der Jugendhilfe auf Abschluss einer Kostenvereinbarung

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
18.06.2003
Aktenzeichen
13 B 1152/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 34719
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOLDBG:2003:0618.13B1152.03.0A

Aus dem Entscheidungstext

1

Der nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu beurteilende Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg. Mit ihm begehrt die Antragstellerin, den Antragsgegner im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes zu verpflichten, mit ihr vertragliche Vereinbarungen nach § 77 SGB VIII für ambulante Leistungen nach § 35 a SGB VIII und für Leistungen der Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 28, 39 und 31 SGB VIII zu schließen, sowie Vergütungssätze für diese Leistungen festzusetzen.

2

Dem Begehren der Antragstellerin steht das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache, das im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO gilt, entgegen. Danach kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller oder der Antragstellerin nicht schon in vollem Umfang, wenn auch nur auf beschränkte Zeit und unter Vorbehalt einer Entscheidung in der Hauptsache das gewähren, was nur in einem Hauptsacheverfahren erreicht werden kann. Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz gilt das grundsätzliche Verbot einer Vorwegnahme in der Hauptsache jedoch nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist. Dies ist der Fall, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile für die Antragstellerin unzumutbar oder in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht (BverwG, Urteil v. 13.08.1999 - Az. 2 VR 1/99 - BVerwGE 109, 258 ; Kopp/Schenke, Kommentar, VwGO, 13. Aufl., § 123 Rn. 14 m.w.N.).

3

Beide Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.

4

Soweit die Antragstellerin den Abschluss einer Vereinbarung über die Höhe der Kosten nach § 77 SGB VIII für Leistungen nach §§ 27 bis 29 und 31 SGB VIII (und eine damit verbundene Festsetzung von Vergütungssätzen) begehrt, sind die zu erwartenden Nachteile für sie schon deshalb nicht unzumutbar, weil sie in der Vergangenheit - neben Leistungen der Ergo-Therapie, Logopädie und Psychomotorik, die zum Leistungskatalog der Krankenversicherung gehören, - lediglich Leistungen nach § 35 a SGB VIII, insbesondere bei Vorliegen von Legasthenie und Dyskalkulie, erbracht hat; bei den in Aussicht genommenen Leistungen nach§§ 27, 28, 29 und 31 SGB VIII handelt es sich daher um eine geplante Erweiterung des Tätigkeitsbereichs der Antragstellerin. Von ihr ist weder näher dargelegt noch ist sonst ersichtlich, dass dann, wenn diese Erweiterung des Tätigkeitsbereichs zunächst bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache nicht erfolgt, dies zu einer existenziellen Gefährdung ihres Betriebes bzw. ihrer Praxis oder zu sonstigen bei ihr eintretenden irreparablen Nachteilen führt. Daran ändern auch die dem Antrag beigefügten Stellungnahmen der Mitarbeiterinnen P., S. und G. nichts. Aus diesen Stellungnahmen ergibt sich lediglich, dass sie mit der Antragstellerin eine Konzeption für die Erweiterung der Tätigkeit der Antragstellerin ausgearbeitet haben und darauf hoffen, bei Realisierung der Pläne künftig bei der Antragstellerin in größerem Umfang tätig zu sein. Soweit es der Antragstellerin um eine Verpflichtung des Antragsgegners geht, mit ihr Vereinbarungen nach§ 77 SGB VIII über die Erbringung und über die angemessenen Kosten ambulanter Leistungen nach § 35 a SGB VIII abzuschließen, hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht, dass ohne eine derartige Verpflichtung ihre Existenz bedroht ist. Wie sich aus den Verwaltungsvorgängen ergibt, übernimmt der Antragsgegner auf entsprechenden Antrag von Kindern und Jugendlichen, bei denen die Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB VIII vorliegen und die von der Antragstellerin betreut bzw. behandelt werden, seit der achten Kalenderwoche des Jahres 2002 nur noch für die Einzeltherapie (45 Minuten) Kosten in Höhe von 38,35 EUR und für eine Gruppentherapie (90 Minuten) Kosten je Kind oder Jugendlichen in Höhe von jeweils 28,94 EUR. Die Antragstellerin hat nicht substantiiert dargelegt, dass durch die Reduzierung dieser Leistungen des Antragsgegners ihr Betrieb in der Existenz gefährdet ist. Dazu reicht das pauschale Vorbringen, sie sei in Anbetracht der "gekappten Vergütungssätze nicht mehr in der Lage, ihr gut ausgebildetes Personal weiterhin zu beschäftigen bzw. adäquat zu vergüten", nicht aus. Zweifel daran bestehen schon deshalb, weil die Antragstellerin neben ihrer Inhaberin nach dem Inhalt ihres Schreibens vom Februar 2002 an den Antragsgegner nur "pauschal- steuerpflichtige" Arbeitsverträge mit ihren Mitarbeitern hat, diese daher wohl nur fallweise oder auch als Geringverdiener (auf der Basis von 325,00 EUR bzw. - ab 1. April 2003 - auf der Basis von 400,00 EUR - § 8 SGB IV) beschäftigt werden und von ihr nicht näher dargetan ist, dass mit dem Betrag, den der Antragsgegner den Kindern und Jugendlichen, die von der Antragstellerin behandelt bzw. betreut werden, gewährt, heilpädagogische Leistungen bei der geschilderten Beschäftigtenstruktur wirtschaftlich nicht zu erbringen sind. Auch hat die Antragstellerin nicht ansatzweise dargelegt, in welchem Umfang ihre Tätigkeit von den (reduzierten) Leistungen des Antragsgegners beeinträchtigt worden ist, welcher Anteil ihrer Patienten auf Kinder und Jugendliche, denen gegen den Antragsgegner ein Anspruch nach § 35 a SGB VIII zusteht, entfällt und ob und in welchem Umfang von den Eltern dieser Kinder und Jugendlichen über den Betrag, den der Antragsgegner bei der Gewährung seiner Leistungen berücksichtigt, hinaus Zahlungen an sie - die Antragstellerin - geleistet werden.

5

Die Kammer kann auch nicht erkennen, dass das Begehren der Antragstellerin, den Antragsgegner zu verpflichten, mit ihr Vereinbarungen nach§ 77 SGB VIII für die Erbringung von Leistungen nach § 35 a SGB VIII und nach §§ 27, 28, 29 und 31 SGV VIII abzuschließen, in der Hauptsache mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit Erfolg haben wird. Nach § 77 Satz 1 1. Halbsatz SGB VIII sind Vereinbarungen über die Höhe der Kosten der Inanspruchnahme zwischen dem öffentlichen und der freien Jugendhilfe anzustreben, wenn Einrichtungen und Dienste der Träger der freien Jugendhilfe in Anspruch genommen werden. Die Vorschrift betrifft zwar die von der Antragstellerin erbrachten bzw. beabsichtigten Leistungen, weil es sich dabei um ambulant erbrachte Leistungen nach § 35 a SGB VIII und um solche der Hilfe zur Erziehung handelt, auf die nach § 78 a Abs. 1 SGB VIII nicht die Regelungen der §§ 78 b bis 78 g SGB VIII Anwendung finden. Fraglich ist aber schon, ob die Antragstellerin ein Träger der freien Jugendhilfe im Sinne des§ 77 SGB VIII ist. So wird teilweise angenommen, dass Einzelpersonen oder eine von dem Inhaber oder der Inhaberin geführte Einrichtung oder Praxis nicht ein freier Träger der Jugendhilfe sein könne (Schellhorn, Kommentar SGB VIII, § 3 Rn. 9; Papenheim in LPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 3 Rn. 10, VG Sigmaringen, Beschluss v. 16. Juli 1998 - Az. 3 K 1340/98 - v. n. b.; a. A. Wiesner u.a., Kommentar SGB VIII, 2. Aufl., § 3 Rn. 10; Gerlach, ZFSH/SGB 2000, 145). Selbst wenn man zugunsten der Antragstellerin davon ausgeht, dass sie als Träger der freien Jugendhilfe qualifiziert werden könnte, folgt aus § 77 Satz 1, 1. Halbsatz SGB VIII kein Anspruch eines freien Trägers auf Abschluss einer Vereinbarung nach § 77 Satz 1 1. Halbsatz . Diese Vorschrift beschreibt lediglich eine vom Gesetz dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe - hier dem Antragsgegner - auferlegte Verpflichtung, aus der dem Träger der freien Jugendhilfe kein eigenes Recht, insbesondere kein Anspruch auf Abschluss einer Vereinbarung erwächst (VG Hamburg, Beschluss v. 21. Februar 1994 - 8 VG 4089/93 - RsDE 27, 84 - zit. n. [...]; Schellhorn a.a.O. § 77 Rn. 14; Wiesner, a.a.O., § 77 Rn. 6). Weiter kommt hinzu, das in § 77 S. 1, 2. Halbsatz SGB VIII bestimmt ist, dass "das Nähere" durch Landesrecht geregelt wird. Da in Niedersachsen entsprechendes Landesrecht nicht besteht, erscheint durchaus zweifelhaft, ob aus § 77 SGB VIII in Niedersachsen überhaupt Ansprüche hergeleitet werden können (Vgl. dazu Nds. Oberverwaltungsgericht, Urteil v. 11.01.1995 - 4 L 3850/94 - Nds. Rpfl. 1996,64 zu § 26 S.1 SGB VIII). Überdies wäre es im Rahmen des dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe durch§ 77 SGB VIII eingeräumten Ermessens nicht von vornherein ermessenswidrig, den Abschluss einer Vereinbarung dann abzulehnen, wenn eine Vereinbarung daran scheitert, dass unterschiedliche Auffassungen über die angemessenen Kosten einzelner pädagogischer oder therapeutischer Maßnahmen bestehen. Ob hiervon eine Ausnahme deshalb zu machen ist, weil - nach Auffassung der Antragstellerin - der Antragsgegner von ungeeigneten Kalkulationsgrundlagen für die Kosten einzelner Maßnahmen ausgeht, wäre im Hauptsacheverfahren eingehend unter umfassender Würdigung der von der Antragstellerin vorgelegten Nachweise über Personal- und Sachkosten sowie der vom Antragsgegner gegen die angesetzten Kalkulationsgrundlagen erhobenen Bedenken - gegebenenfalls unter Einholung eines Sachverständigengutachtens - zu klären. Das Ergebnis der Klärung dieser rechtlichen und tatsächlichen Fragen kann die Kammer im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht vorwegnehmen. Bei dieser Lage musste auch der von der Antragstellerin erhobene Hilfsantrag auf ermessensfehlerfreie Bescheidung ohne Erfolg bleiben.

6

Da damit die Voraussetzungen für eine Ausnahme vom Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache nicht gegeben sind, war der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit den Nebenentscheidungen aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO abzuweisen.