Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 20.10.2022, Az.: 8 U 46/21
Wirksamkeit von Beitragserhöhungen in einer privaten Krankenversicherung; Darlegung und Beweis der Rechtmäßigkeit der Verwendung von Limitierungsmitteln
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 20.10.2022
- Aktenzeichen
- 8 U 46/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 40754
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2022:1020.8U46.21.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hildesheim - AZ: 3 O 305/19
Rechtsgrundlagen
- § 155 Abs. 2 S. 2-3 VAG
- KVAV
- § 251 ZPO
Fundstelle
- MDR 2023, 236-237
Amtlicher Leitsatz
Der Versicherer ist nicht verpflichtet, zur Darlegung und zum Beweis der Rechtmäßigkeit der Verwendung von Limitierungsmitteln gemäß § 155 Abs. 2 Satz 2, 3 VAG eine schriftliche Dokumentation der von ihm vorgenommenen Erwägungen bei der Mittelverwendung vorzulegen.
Tenor:
In dem Rechtsstreit
...
wird auf Antrag beider Parteien das Ruhen des Verfahrens gemäß § 251 Satz 1 ZPO angeordnet.
Gründe
Die Anordnung ist zweckmäßig. Zweckmäßig ist die Anordnung der Verfahrensruhe nur dann, wenn mit hinreichender Sicherheit eine Förderung des stillzulegenden Verfahrens durch andere Maßnahmen zu erwarten ist (Stackmann in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. (2020), § 251 ZPO, Rn. 6; Stadler in: Musielak/Voit, ZPO, 19. Aufl. (2022), § 251 ZPO, Rn. 3). Zweckmäßig kann eine Anordnung insbesondere dann sein, wenn der Ausgang eines anderen, aber nicht vorgreiflichen Verfahrens (etwa eines Musterverfahrens) oder das Beweisergebnis in einem anderen Verfahren einen verfahrensfördernden Erkenntnisgewinn vermuten lassen (Jaspersen in: BeckOK ZPO, Stand: 1.7.2022, § 251 ZPO, Rn. 5). Dies ist hier der Fall.
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von Beitragserhöhungen in der privaten Krankenversicherung, insbesondere unter anderem darüber, ob diese nach aktuariellen Grundsätzen als mit den bestehenden Rechtsvorschriften und eventuell zugunsten des Versicherten davon abweichenden vertraglichen Bestimmungen in Einklang stehend anzusehen sind.
a.
Das Kammergericht hat zu der auch im vorliegenden Fall entscheidungserheblichen Frage der Überprüfbarkeit von vom Versicherer verwendeten Limitierungsmaßnahmen entschieden (Urteile vom 8. Februar 2022 - 6 U 20/18 und - 6 U 88/18), dass für die Beweisführung über die Angemessenheit der Mittelverwendung von Limitierungsmaßnahmen vom Versicherer eine - auch dem Treuhänder im Zustimmungsverfahren übermittelte - schriftliche oder in Dateiform niedergelegte Dokumentation vorgelegt werden müsse, aus der sich im Sinne einer Erläuterung zumindest in knapper Form entnehmen lasse, inwieweit die konkret erfolgte Mittelverwendung mit den Verteilungsgrundsätzen und den Belangen aller Versicherten übereinstimme (vgl. Urteil vom 8. Februar 2020 - 6 U 20/18 -, Rnrn. 82, 93, 97, 98, 100-102, juris).
b.
Der Senat ist jedoch der Auffassung, dass es der Vorlage eines solchen erläuternden Konzepts, aus dem sich die tragenden Gründe für die vorgenommenen Limitierungsmaßnahmen nachvollziehen lassen, nicht bedarf.
aa. Die gerichtliche Überprüfung der Beitragsanpassung umfasst auch die Limitierungsmaßnahmen. Denn Maßnahmen zur Limitierung der Beitragserhöhung durch Verwendung der Mittel aus den Rückstellungen für Beitragsrückerstattungen sind in systematischer Hinsicht Teil der Prämienberechnung (BGH, Urteil vom 19. Dezember 2018 - IV ZR 255/17 -, Rn. 51, juris). Die Feststellung, ob die im Rahmen einer Nachkalkulation nach § 12b Abs. 2 Satz 2 VAG a.F. bzw. § 155 VAG errechneten Anpassungen limitiert werden müssen und inwieweit dem Versicherer dafür Mittel aus den Rückstellungen für Beitragsrückerstattung zur Verfügung stehen, ist Bestandteil der Neukalkulation der Prämie (BGH, Urteil vom 19. Dezember 2018 - IV ZR 255/17 -, Rn. 51, juris). Bei der Frage, ob und in welcher Höhe die Mittel aus den Rückstellungen für Beitragsrückerstattung zu verwenden sind, handelt es sich zwar im Kern um eine unternehmerische Entscheidung, die gerade nicht durch inhaltliche gesetzliche Vorgaben determiniert werden sollte. Dem Treuhänder kommt jedoch insoweit eine Kontrollfunktion zu und er darf sein Veto nur einlegen, wenn sich die Entscheidung des Versicherers nicht im Rahmen dessen hält, was bei Beachtung der gesetzlichen Beurteilungsspielräume, deren Einhaltung der Treuhänder unter Anwendung eines objektiv generalisierenden Maßstabs überwachen soll, zulässig ist (BGH, Urteil vom 19. Dezember 2018 - IV ZR 255/17 -, Rn. 52, juris). Dabei bedeutet der Ansatz eines "objektiv generalisierenden Maßstabes" bei der Beurteilung der ausreichenden Wahrung der Belange der Versicherten und der Zumutbarkeit, dass es nicht auf die Prüfung der Zumutbarkeit der sich für den Einzelnen ergebenden Prämiensteigerung, sondern auf die Zumutbarkeit der Beitragserhöhung für das betroffene Kollektiv ankommt, da der Treuhänder Vertreter der Gesamtheit der Versicherten, nicht aber Interessenvertreter eines einzelnen Versicherten ist (so auch KG, Urteil vom 8. Februar 2022 - 6 U 20/18 -, Rn. 55, juris). Die Prämienanpassung bezieht sich zwar stets auf einzelne Tarife. Die Verwendung von Rückstellungen für Beitragsrückerstattungen zwecks Prämienlimitierung muss gleichwohl für alle Tarife berücksichtigt werden, damit der Versicherer die zur Verfügung stehenden Limitierungsmittel nicht einseitig nur für bestimmte Tarife oder Versichertengruppen einsetzt (vgl. Boetius, in: Münchener Kommentar zum VVG, 2. Aufl. (2017), § 203 VVG, Rn. 433; Gerwins, NVersZ 2000, 353 [359]). Der Treuhänder hat deshalb in diesem Zusammenhang eine tarifübergreifende Betrachtung anzustellen. Auch die gerichtliche Überprüfung der materiellen Rechtmäßigkeit der Prämienanpassung hat sich hieran auszurichten. Nach § 155 Abs. 2 Satz 2, 3 VAG ist Gegenstand der Überprüfung, dass die in der Satzung und den Versicherungsbedingungen bestimmten Voraussetzungen erfüllt, die Belange der Versicherten ausreichend gewahrt, die Angemessenheit der Verteilung auf die Versichertenbestände mit und ohne Prämienzuschlag beachtet sowie dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit der prozentualen und absoluten Prämiensteigerungen für die älteren Versicherten ausreichend Rechnung getragen werden (so auch KG, Urteil vom 8. Februar 2022 - 6 U 20/18 -, Rn. 54, juris).
Um dies feststellen zu können, sind dem Treuhänder (und in der Folge dem gerichtlichen Sachverständigen) die Unterlagen vorzulegen, die ihn zu einem eigenständigen Urteil über die beantragten Beitragsanpassungsmaßnahmen befähigen (Gerwins, NVersZ 2000, 353 [359]; a. A. Franz/Püttgen, VersR 2022, 1 [24]).
bb. Wie auch das Kammergericht (Urteil vom 8. Februar 2022 - 6 U 20/18 -, Rn. 71 a. E., juris) vermag der Senat eine gesetzliche Verpflichtung des Versicherers zur Erstellung eines schriftlichen Konzepts für die von ihm vorgenommenen Limitierungsmaßnahmen nicht zu erkennen. Eine solche Verpflichtung ergibt sich insbesondere nicht aus den Regelungen der § 12b Abs. 1a VAG a. F. i. V. m. der KalV oder aus § 155 Abs. 2 VAG i. V. m. der KVAV.
Entgegen der Auffassung des Kammergerichts vermag der Senat eine solche Verpflichtung aber auch nicht zum Zwecke der "Dokumentation und späteren Beweisführung" (KG, a. a. O.) zu erkennen. Wie oben bereits ausgeführt handelt es sich bei der Verwendung von Limitierungsmaßnahmen in erster Linie um eine unternehmerische Entscheidung des Versicherers. Die vom Treuhänder und - in gleichem Umfang - vom gerichtlichen Sachverständigen auszuübende Prüfungskompetenz erstreckt sich lediglich auf die Kriterien des § 155 Abs. 2 Satz 2 und 3 VAG. Hierfür ist die Darlegung - gegebenenfalls schriftlich fixierter - Erwägungen, die den Versicherer bei der Verwendung der Limitierungsmittel bewegt haben, nicht erforderlich. Denn der Treuhänder - und der gerichtliche Sachverständige - hat nicht die konkreten Erwägungen des Versicherers zu überprüfen. Maßgeblich für die Wirksamkeit der Beitragsanpassung ist nämlich nicht die Frage, ob es bei der Ausübung eines dem Versicherer zustehenden Ermessens zu einem Ermessensfehler kam. Vielmehr hat der Treuhänder ausweislich des Prüfungsprogramms des § 155 Abs. 2 Satz 2 und 3 VAG zu prüfen, ob sich die Entscheidung des Versicherers im Rahmen dessen hält, was bei Beachtung der gesetzlichen Beurteilungsspielräume zulässig ist; dies hat der Treuhänder - und der gerichtliche Sachverständige - "unter Anwendung eines objektiv generalisierenden Maßstabs" zu überwachen (BT-Drucks. 14/1245, S. 122 li. Sp.). Da die Kontrolle des Treuhänders und des gerichtlichen Sachverständigen anhand eines objektiv generalisierenden Maßstabs vorzunehmen ist, sind etwaige subjektive - unternehmerische - Erwägungen unerheblich, soweit sich aus den übrigen Unterlagen keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Angemessenheit der Verteilung auf die Versichertenbestände mit einem Prämienzuschlag und ohne einen solchen nicht beachtet wurde oder dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit der prozentualen und absoluten Prämiensteigerungen für die älteren Versicherten nicht ausreichend Rechnung getragen wurde. Entgegen der Auffassung des Kammergerichts vermag der Senat auch dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 16. Mai 2004 - IV ZR 117/02 - nicht das Erfordernis einer Dokumentation (Limitierungskonzept, Prüfprotokoll) zu entnehmen.
Ausweislich der nachvollziehbaren Ausführungen des im vorliegenden Fall beauftragten Sachverständigen bei seiner mündlichen Anhörung durch den Senat könne dieser bei Durchsicht aller tarifeigenen Berechnungsgrundlagen des gesamten Erhöhungsjahrgangs voraussichtlich eine Feststellung dazu treffen, ob die Vorgaben des § 155 VAG eingehalten wurden oder nicht. Insoweit könne allgemein zunächst in den Blick genommen werden, welches die "schlimmsten möglichen Kombinationen von Bausteintarifen" wären (in dem Sinne, dass dort ungewöhnlich hohe Erhöhungen zum Tragen kommen), und wie viele Versicherte dann davon betroffen wären (im Sinne einer Abschätzung der Schnittmenge). Dies könne dann gegebenenfalls auch ausreichen, um ohne entsprechende Nachfrage beim Versicherer die Überprüfung nach § 155 Abs. 2 VAG letztlich durchführen zu können. Jedenfalls könne er nicht von vornherein sagen, dass bei Vorlage aller dieser Unterlagen in jedem Fall eine Feststellung der Einhaltung der Voraussetzungen aus § 155 Abs. 2 VAG scheitern würde.
Vor diesem Hintergrund sieht sich der Senat nicht in der Lage, den ergänzenden Beweisantritt der Beklagten, sämtliche den damaligen Treuhändern zur Verfügung gestellten Unterlagen betreffend alle in den jeweiligen Jahren von einer Beitragserhöhung betroffenen Tarife vorzulegen und den Sachverständigen auf dieser Grundlage mit einer ergänzenden Begutachtung der Limitierungsmaßnahmen zu beauftragen, unberücksichtigt zu lassen. Dem stehen aus Sicht des Senats auch weder der - ganz erhebliche - Umfang der zu prüfenden Unterlagen noch die Kosten dieser ergänzenden Beweisaufnahme (die der Sachverständige bei seiner Anhörung auf mindestens weitere 50.000 € geschätzt hat) entgegen.
c.
Sollten die Revisionsverfahren betreffend die oben genannten Entscheidungen des Kammergerichts hingegen zu dem Ergebnis führen, dass - aus Rechtsgründen - der Versicherer im Rahmen der materiellen Überprüfung von Beitragserhöhungen hinsichtlich der eingesetzten Limitierungsmaßnahmen ein schriftliches Limitierungskonzept vorzulegen hat, wäre die vom Senat beabsichtigte weitere Beweisaufnahme nicht erforderlich und der Rechtsstreit mangels Vortrags eines solchen Limitierungskonzepts entscheidungsreif.