Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 25.09.2009, Az.: 7 A 1325/09

Erkennungsdienstliche Behandlung; Straftat; Verhütung; Ermessen

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
25.09.2009
Aktenzeichen
7 A 1325/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2009, 44485
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOLDBG:2009:0925.7A1325.09.0A

Amtlicher Leitsatz

Die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung setzt Ermessensbestätigung voraus. Ob die Maßnahme nach § 15 Abs. 1 Satz1 Nr. 2 SOG spezialpräventiven Charakter hat und einen Warneffekt bezweckt, bleibt offen.

Tenor:

  1. Der Bescheid der Polizeiinspektion/vom 21. April 2009 wird aufgehoben.

  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen den Bescheid vom 21. April 2009, mit welchem die für die Beklagte handelnde Polizeiinspektion seine erkennungsdienstliche Behandlung zur Verhütung von Straftaten gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Niedersächsischen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (Nds. SOG) anordnet.

2

Gegen den Kläger waren vor Erlass dieses Bescheides folgende Verfahren geführt worden: ....

3

Mit Schreiben vom 26. März 2009 hörte die Polizeiinspektion den Kläger zu ihrer Absicht an, ihn erkennungsdienstlich zu behandeln. Das Anhörungsschreiben gibt in Kursivdruck den Wortlaut der Rechtsgrundlage (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Nds. SOG) wieder (Blatt 4 Beiakte D) und führt aus, es werde als notwendig angesehen, beim Kläger eine erkennungsdienstliche Behandlung zur Verhütung von Straftaten durchzuführen. Die Maßnahme beinhalte die Fertigung von Lichtbildern, die Abnahme von Finger- und Handflächenabdrücken und die Feststellung körperlicher Merkmale (Körpergestalt und anderes) ....

4

Mit Bescheid vom 21. April 2009 ordnete die Polizeiinspektion die erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Nds. SOG an; sie lud ihn zugleich gemäß § 16 Nds. SOG unter Zwangsgeldandrohung zur Durchführung vor. Weiter heißt es, dass die Behandlung folgende Maßnahmen umfasse:

  1. 1.

    Abnahme von Finger- und Handflächenabdrücken sowie

  2. 2.

    Aufnahme von Lichtbildern,

  3. 3.

    Feststellung äußerer körperlicher Merkmale,

  4. 4.

    Messungen.

5

Der Bescheid (Blatt 6 ff Beiakte D) gibt zunächst (wiederum) in Kursivdruck den Wortlaut von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Nds. SOG wieder, bezieht sich auf die sechs o.a. Ermittlungsverfahren sowie ein Weiteres aus dem Jahre 2000 und führt im Wortlaut zu Begründung aus: ....

6

Der Kläger hat am 28. April 2009 Klage erhoben [und Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt, dem die Beklagte auf den bei Gericht durchgeführten Erörterungstermin vom 4. Juni 2009 durch Aufhebung des Sofortvollzugs des Bescheides abgeholfen hat (7 B 1326/09)] ....

7

Zur Begründung stellt der Kläger ausführlich in vertiefender Auseinandersetzung mit den jeweiligen Ermittlungsverfahren seine Sichtweise der damals erhobenen Beschuldigungen und ergänzend seine Vita dar, geht auf die Beziehung zu der in einige der angeführten Ermittlungsverfahren involvierten Frau ... und ihrer Trennung voneinander ein, betont seine Drogenabstinenz und macht im wesentlichen geltend, es bestünden überhaupt keine Gründe dafür, ihn erkennungsdienstlich zu behandeln - er sei zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Form strafrechtlich verurteilt bzw. zur "Rechenschaft" gezogen worden.

8

Die Beklagte ...

9

Macht ... geltend: ...

10

Jedenfalls angesichts der neueren Vorfälle müsse vom Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SOG ausgegangen werden - indessen sei auch das von dieser Vorschrift vorausgesetzte Entschließungsermessen ausgeübt. Nach dem Wortlaut von § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG müsse die Begründung des Bescheides zumindest Aufschluss darüber geben, dass die Behörde erkannt habe, dass die anzuwendende Rechtsvorschrift ihr ein Ermessen einräume und das sie auch von diesem Ermessen Gebrauch gemacht habe. Die Begründung müsse also zumindest in Andeutungen deutlich machen, dass innerhalb eines Entscheidungsspielraums zwischen mehreren gleichermaßen rechtmäßigen Entscheidungsmöglichkeiten abgewogen worden sei. Hier habe der zuständige Sachbearbeiter der Polizeiinspektion bereits im Rahmen der erfolgten Anhörung des Klägers diesem in einem persönlichen Gespräch die Sach- und Rechtslage erörtert und die Einzelheiten, die zu seiner Bewertung/Ermessensentscheidung geführt hätten, dargelegt. Im Bescheid vom 21. April 2009 setze sich der Sachbearbeiter ausführlich mit den Argumenten des Klägers auseinander. Allein die Verwendung der Formulierung "bei der Bewertung der gesamten Kriterien besteht die Gefahr ..." in der Begründung zur Anordnung mache deutlich, dass im Rahmen des Verfahrens eine Abwägung vorgenommen worden sei. Auch die weiteren Ausführungen belegten die Ermessensentscheidung und ließen hinreichend erkennen, dass die Behörde sich nicht irrtümlich für verpflichtet gehalten hätte. Entgegen der im Beschluss des Berichterstatters vom 10. September 2009 niedergelegten Auffassung liege kein Ermessensauffall vor - der Bescheid vom 21. April 2009 sei nicht ermessensfehlerhaft und könne gemäß § 114 Satz 2 VwGO in den Ermessenserwägungen auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzt werden. Dazu macht sich die Beklagte noch den Inhalt der persönlichen, schriftlichen Stellungnahme des sachbearbeitenden Beamten zu eigen (Bl. 243 ff der Gerichtsakte) ....

Entscheidungsgründe

11

Die Klage ist begründet.

12

Der angegriffene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.

13

Der Bescheid ist rechtswidrig, weil er an Ermessensausfall leidet. Auf das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen kommt es daher hier nicht an.

14

Als Rechtsgrundlage für die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung des Klägers mittels

  1. 1.

    Abnahme von Finger- und Handflächenabdrücken,

  2. 2.

    Aufnahme von Lichtbildern,

  3. 3.

    Feststellung äußerer körperlicher Merkmale und

  4. 4.

    Messungen

15

kommt allein § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 4 Nds. SOG in Betracht. Der Anwendungsbereich der Strafverfolgungsvorsorge durch Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung des Klägers gemäß § 81b 2. Fall StPO ist verschlossen, schon weil der Kläger zum für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der angegriffenen Verfügung der Beklagten nicht mehr Beschuldigter im Sinne der Strafprozessordnung war. Die Beschuldigteneigenschaft hatte er mit Einstellung des zuletzt vor Erlass des Bescheids gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Oldenburg 168 Js (Beiakte B) am 17. März 2009 verloren; eventuelle weitere Ermittlungsverfahren waren gegen ihn (noch) nicht eröffnet. Es mag zwar zweifelhaft sein, ob die Beschuldigteneigenschaft als Differenzierungskriterium (noch) trägt; jedenfalls aber ist die Beklagte nicht zur Strafverfolgungsvorsorge im Sinne von § 81b 2. Fall StPO (vgl. Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 26. Februar 2009 - 11 LB 431/08 -) tätig geworden, sondern zur "Verhütung von Straftaten" (vgl. Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 16. September 2009 - 11 ME 402/09 -, den Beteiligten telefonisch bekannt gemacht am 23. September 2009) nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Nds. SOG gegenüber dem Kläger vorgegangen.

16

Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Nds. SOG können die Verwaltungsbehörden und die Polizei erkennungsdienstliche Maßnahmen anordnen, wenn dies zur Verhütung von Straftaten erforderlich ist, weil die betroffene Person verdächtig ist, eine Tat begangen zu haben, die mit Strafe bedroht ist oder wegen einer Straftat verurteilt worden ist, und wegen der Art und Ausführung der Tat die Gefahr der Wiederholung besteht.

17

Fraglich ist, ob der Norm ein "Warneffekt" zukommt (so zu § 14 Abs. 1 Nr. 2 Bayer. PAG: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof , Beschluss vom 17. November 2008, - 10 C 08.2872 -). Wenn die nach § 81b 2. Fall StPO eröffnete erkennungsdienstliche Behandlung mit ihrer identitätssichernden Maßnahmen dazu dient, in zukünftigen Ermittlungsverfahren eindeutig abklären zu können, ob der Beschuldigte als Täter überhaupt in Betracht kommt, bleibt offen, was mit der Durchführung derselben Maßnahmen, aber zum Zwecke der "Verhütung von Straftaten" gemeint ist; insoweit kommt zunächst in Betracht, gedanklich eine spezialpräventiv auf den Störer im Sinne des Gefahrenabwehrrechts einwirkende "erzieherische Maßnahme" annehmen zu wollen, d.h. dass

"die erkennungsdienstliche Behandlung durchaus geeignet <sein kann>, potentiellen Straftätern die Gefahr des Überführtwerdens vor Augen zu führen und sie dadurch von Straftaten abzuhalten. <Es> ist auch ein entsprechender Warneffekt der Maßnahme ... zu erwarten" (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, ebenda).

18

Mit dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht (Beschluss vom 16. September 2009 - 11 ME 402/09 -) lässt die Kammer zur hier maßgeblichen niedersächsischen Vorschrift ["die Verfassungsgemäßheit der Vorschrift unterstellt" ( Nds. OVG, Beschluss vom 16. September 2009 - 11 ME 402/09 -)] offen, ob dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in Voranstehendem zu folgen ist. Soweit Abgrenzungskriterium zu § 81b 2. Fall StPO nicht (mehr) die Abgrenzung nach Personenkreisen, insbesondere nicht (mehr) die Frage der Beschuldigteneigenschaft sein sollte und "nur (noch)" nach dem unterschiedlichen Ziel der Maßnahme(n) zu differenzieren wäre ( Nds. OVG, Beschluss vom 16. September 2009 - 11 ME 402/09 -), müsste die Kammer zudem weitergehend Überlegungen dahin anstellen, welche Gründe der Gefahrenabwehr, "also zur Verhinderung von Straftaten" ( Nds. OVG, Beschluss vom 16. September 2009 - 11 ME 402/09 -) in verfassungskonformer Art und Weise gemeint sein könnten. Ob der zuvor skizzierte Gedanke einer Spezialprävention als eigenständige Sanktion bisher geführter Ermittlungsverfahren gegenüber einer Person rechtlich, insbesondere im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG, trägt, muss aber hier offen bleiben, ebenso wie die Frage, ob die Verhinderung der Begehung von (weiteren) Straftaten durch dieselbe Person in geeigneter Art und Weise überhaupt durch die als Rechtsfolge in § 15 Abs. 4 Nds. SOG bestimmten Maßnahmen erreicht werden kann, die ersichtlich und aus sich heraus erklärend lediglich identitätssichernde Funktion haben. Ob Letzteres im Falle gerade des Klägers zweckdienlich wäre, steht ebenfalls dahin.

19

Denn entscheidend ist, dass die Rechtsgrundlage mit dem Wort "können" ausdrücklich vorsieht, dass die anordnende Behörde Ermessen betätigt. Daran fehlt es hier.

20

Die Beklagte befasst sich zwar im angegriffenen Bescheid ausdrücklich mit den Fragen der Erforderlichkeit und Wiederholungsgefahr (nicht aber mit den zuvor nur ansatzweise problematisierten Fragestellungen des Normzwecks und der Geeignetheit der angeordneten, speziellen Maßnahmen für die Zweckerreichung). Hinsichtlich der Frage ihrer Ermessensbetätigung aber, zu der die Beklagte auch in ihrem Schriftsatz vom 15. September 2009 lediglich abstrakt Erwägungen dartut, findet sich im Bescheid kein Anhaltspunkt dafür, dass sie bei Erlass des Bescheids erkannt hätte, dass ihr auf Rechtsfolgenseite Ermessen hinsichtlich sowohl des "Ob" der Entscheidung (Entschließungsermessen) als auch des "Wie" der Entscheidung (Auswahlermessen) zukommt und ferner erst Recht - insoweit: konsequenterweise - kein Anhaltspunkt dafür, dass sie dieses Ermessen auch tatsächlich betätigt hätte.

21

Die vorliegenden weiteren Unterlagen geben gleichfalls keinen Anlass zu der Annahme, dass bei der Anordnung der Maßnahme Ermessen ausgeübt wurde. Dies gilt auch bei Einbeziehung des Anhörungsschreibens (vgl. § 28 VwVfG), in welchem ebenso wie im angegriffenen Bescheid in Kursivdruck zwar der Wortlaut von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Nds. SOG vorangestellt ist, der das Wort "können" enthält (s.o.). Dieser Gesetzeswortlaut findet aber sodann bei der Subsumtion nicht (weder im Anhörungsschreiben noch im Bescheid) seine Entsprechung.

22

Die Kammer verkennt dabei nicht, dass die Angaben des Klägers bei der nach Anhörung und vor Erlass des Bescheids stattgefundenen mündlichen Besprechung in den Bescheid eingeflossen sind. Verarbeitet worden sind sie ausführlich, aber lediglich auf der Tatbestandsseite. Dort heißt es dementsprechend, dass die Überprüfung nicht zu einer "anderen Bewertung der Sachlage geführt" habe, dass die "Gefahr" bestünde, dass der Kläger "auch künftig strafrechtlich in Erscheinung treten" könnte, und schließlich: "Aus diesem Grunde ist die erkennungsdienstliche Behandlung zur Verhütung von Straftaten erforderlich". Diese Ausführungen dürften zwar für den Tatbestand von Interesse sein, ersetzen aber nicht die Befassung mit der Rechtsfolge. Insoweit handelt es sich um unterschiedliche rechtliche Prüfpunkte.

23

Dass für eine Ermessensentscheidung sachliche Gründe gefunden werden könnten, ersetzt nicht die fehlende Ermessensausübung und das Fehlen der entsprechenden Erwägungen im angegriffenen Bescheid. In den Fällen des Ermessensausfalls ist eine Mängelheilung durch ergänzende Prozesserklärungen nach § 114 Satz 2 VwGO nicht möglich ( Nds. OVG, Beschluss vom 16. September 2009 - 11 ME 402/09 -, insoweit mwN; BayVGH, aaO; VG Oldenburg, Urteil vom 11. August 2009 - 7 A 29/09 -, und Beschluss vom 18. August 2009 - 7 B 1992/09 -).

24

Schlussendlich ergibt sich hier die Verarbeitung der tatsächlichen Umstände zwar zur Ausfüllung von unbestimmten Rechtsbegriffen des Tatbestands, insbesondere zur Erforderlichkeit, Wiederholungsgefahr und Prognose, nicht aber im Rahmen des Ermessens aus der von der Beklagten selbst eingeführten schriftlichen Stellungnahme des sachbearbeitenden Polizeibeamten. Dieser hat nämlich resümierend ausdrücklich angegeben: "Das Ergebnis dieser Bewertung ist mit der Wiederholungsprognose der Vorladung dokumentiert." (Bl. 246 d. Gerichtsakte). Damit hat er sich für die Beklagte mit dem Abwägungsvorgang auf der tatbestandlichen Seite von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Nds. SOG bewegt. Die Beklagte kann in Ansehung dieser Angaben ihres Mitarbeiters nicht dartun, dass der Abwägungsvorgang auch auf das Ermessen bezogen gewesen sei.

25

Die im Bescheid enthaltenen weiteren, an die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung anknüpfenden Verfügungen (Vorladung, Zwangsgeldandrohung) entbehren damit zugleich ihrer Rechtmäßigkeit.

26

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 Abs. 2 VwGO.

27

Die Berufung war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen von § 124 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 4 VwGO nicht vorliegen (§ 124a Abs. 1 VwGO).