Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 05.12.2002, Az.: L 4 KR 172/02 ER
Kostenübernahme für Sondennahrung durch eine Krankenversicherung; Einstweilige Anordnung bei einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben; Verweisung auf Leistungen der Sozialhilfe durch eine Krankenversicherung bei lebensbedrohlichem Zustand eines Versicherten
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 05.12.2002
- Aktenzeichen
- L 4 KR 172/02 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 25153
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2002:1205.L4KR172.02ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 19.09.2002 - AZ: S 11 KR 704/02
Rechtsgrundlagen
- § 86b Abs. 2 S. 2 SGG
- § 2 Abs. 1 BSHG
Fundstelle
- NZS 2004, 112 (amtl. Leitsatz)
Verfahrensgegenstand
Einstweiliger Rechtsschutz
Einstweilige Anordnung
Anordnungsgrund
Sozialhilfe
Sozialhilfeträger
Verweisung auf Sozialhilfe
Gefahr für Leib und Leben
Amtlicher Leitsatz
Hat eine Versicherte den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt und besteht bei Nichtgewährung der Leistung eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben, so scheidet eine Verweisung auf Leistungen der Sozialhilfe aus.
In dem Rechtsstreit
hat der 4. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen
am 5. Dezember 2002 in Celle
durch
die Richterin Schimmelpfeng-Schütte - Vorsitzende -,
den Richter Wolff und
die Richterin Poppinga
beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin deren außergerichtliche Kosten für das vorläufige Rechtsschutzverfahren zu erstatten
Gründe
I.
Streitig ist die Kostenübernahme für Sondennahrung für die Antragstellerin (Ast).
Die 1916 geborene Ast ist bei der Antragsgegnerin (Ag) krankenversichert. Bei der Ast besteht bei Multimorbidität eine schwere Demenz sowie ein Diabetes mellitus Typ II. Die Ast ist vollständig auf Fremdhilfe angewiesen. Wegen Verschlechterung des Allgemeinzustandes und Exsikkose (Austrocknung) erfolgte im September 2001 die Versorgung mit einer Ernährungssonde (PEG: perkutane endoskopische Gastrostomie) (vgl. Entlassungsbericht des C. vom 16. Oktober 2001).
Unter Vorlage von ärztlichen Verordnungen ihrer Hausärztin D., Fachärztin für Allgemeinmedizin, beantragte die Ast im Oktober 2001 die Übernahme der Kosten für Sondennahrung. Nach Einholung einer Stellungnahme beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) lehnte die Ag den Antrag mit Bescheid vom 6. Dezember 2001 ab. Gegen diesen Bescheid legte die Ast Widerspruch ein. Unter dem 18. September 2002 erhob sie Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover; gleichzeitig beantragte sie, die Ag im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, vorläufig Kosten für die Sondennahrung zu übernehmen. Sie habe seit November 2001 erfolglos bei der Ag die Kostenübernahme der Sondenkost beantragt. Ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache sei für sie unzumutbar, da möglicherweise irreversible Nachteile drohten. Der Grund für die Eilbedürftigkeit sei darin zu sehen, dass die Versorgung mit Sondenkost ab dem laufenden Monat September 2002 nicht mehr gewährleistet sei.
Die Ast legte ärztliche Bescheinigungen der Ärzte für Allgemeinmedizin E. sowie eine Mahnung der Firma F. GmbH, Erlangen, vom 29. Juli 2002 vor.
Mit Beschluss vom 19. September 2002 hat das SG die Ag verpflichtet, zunächst bis zum 30. November 2002 Sondennahrung abzüglich des gesetzlich vorgeschriebenen Eigenanteils zu gewähren. Das SG hat seinen Beschluss mit der Stellungnahme der Ärztin G. vom 8. Februar 2002 begründet, wonach aufgrund der Demenz und Nahrungsverweigerung der Ast ohne die Versorgung mittels Sondennahrung zwangsläufig die Ast verhungern oder verdursten müsste. Die Richtigkeit dieser Angaben könnten derzeit nicht überprüft werden. Angesichts der überragenden Gefahren für wichtige Rechtsgüter der Ast sei deshalb zunächst die getroffene Regelung vorzunehmen gewesen.
Gegen diesen ihr am 23. September 2002 zugestellten Beschluss hat die Ag am 14. Oktober 2002 Beschwerde vor dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt.
Die Ag rügt eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs sowie eine mangelnde Sachverhaltsaufklärung seitens des SG. Auch sei das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache sei zumutbar, ggf sei die Ast auf eine vorübergehende eigene Kostenübernahme oder auf die Inanspruchnahme von Sozialhilfe zu verweisen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 19. September 2002 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen.
Die Antragstellerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
II.
Die nach § 172 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde ist nicht begründet.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht in der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung).
Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auflage 2002, § 86 b RdNrn 27, 29). Ein materieller Anspruch ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur einer summarischen Überprüfung zu unterziehen (Meyer-Ladewig, aaO, RdNr. 36). Die einstweilige Anordnung darf grundsätzlich die endgültige Entscheidung nicht vorwegnehmen. Der Anordnungsgrund setzt Eilbedürftigkeit voraus, dass heißt, es müssen erhebliche belastende Auswirkungen des Verwaltungshandelns schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht werden.
Auch auf der Grundlage des nunmehr vorliegenden Widerspruchsbescheides der Ag vom 14. Oktober 2002 und ihres weiteren Vorbringens im Verfahren schließt sich der Senat der Entscheidung des SG an, wonach angesichts der überragenden Rechtsgüter für Leib und Leben der Ast die getroffene Regelung auf der Grundlage der vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen der Hausärztin D. vorzunehmen war. Aus den vorgelegten Stellungnahmen vom 8. Februar 2002, 8. Mai 2002 und 25. Juli 2002 wird deutlich, dass im Laufe dieser Monate bereits eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Ast eingetreten war. Hinzu getreten waren erhebliche Kontrakturen, die sich auch durch Krankengymnastik nicht beheben ließen. Die Patientin (Ast) war auch nicht mehr in der Lage, sich aufzusetzen, was für den Schluckakt eine wesentliche Voraussetzung ist (vgl. Stellungnahme D. vom 25. Juli 2002). Hinzu kommt, dass nach den weiteren Ausführungen der behandelnden Ärztin eine Zubereitung von Diabetes-Spezialkost für die Sonde definitiv nicht möglich sei, um alle Nährstoffe abzudecken, die die Ast benötige (Stellungnahme vom 8. Februar 2002).
Soweit sich die Ag auf die Stellungnahmen des MDK bezieht, sind diese bei der hier gebotenen summarischen Prüfung nicht geeignet, dem Begehren der Ast entgegenzutreten. Zum einen sind seitens des MDK keine Begutachtungen der Klägerin nach körperlicher Untersuchung erfolgt, zum anderen setzt sich der Gutachter des MDK nicht mit der von der Hausärztin mitgeteilten Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Ast auseinander. Angesichts dieser Umstände hält es der Senat nicht für unwahrscheinlich, dass im Falle der Ast eine Situation gegeben ist, die begründbar als ein Fall der "medizinisch indizierten Sondennahrung" im Sinne der Richtlinien über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung - hier: Abschnitt F 17.1 i) - anzusehen ist. Hierüber wird aber im Hauptsacheverfahren und nicht im Verfahren über den einstweiligen Rechtsschutz zu entscheiden sein (Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache).
Wie ausgeführt, ist vorläufiger Rechtsschutz dann zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. Bundesverfassungsgerichtsentscheidung - BVerfGE - 79, 69, 74 mwN). Aus diesem Grund hat das Gericht regelmäßig eine Abwägung zwischen dem Interesse der öffentlichen Gewalt und dem privaten Interesse des Betroffenen vorzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. September 2001 - 1 BvR 1426/01 = AP Nr. 12 zu Art. 19 Grundgesetz - GG -). Bei dem stattzufindenden Abwägungsprozess ist die Erfolgsaussicht der Klage zu berücksichtigen. Wenn der Erfolg der Klage in der Hauptsache wahrscheinlich ist, können die Anforderungen an den Anordnungsgrund für eine einstweilige Anordnung geringer sein, sie können sich vermindern, je höher der Grad der Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache ist (vgl. Beschluss des Senats vom 14. September 1998 - L 4 KN 4/98 KR ER = SGb 1999, 254 -). Bei offenem Ausgang wird eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn es dem Ast unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten nicht zuzumuten ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten (vgl. Meyer-Ladewig, aaO, § 86 b RdZiff 28 unter Hinweis auf Bay LSG Breithaupt 2000, 245, 249). Davon ist hier auszugehen. Angesichts des lebensbedrohlichen Zustandes für die Ast bei Ausbleiben der Sondennahrung, hat das SG zutreffend die Verpflichtung ausgesprochen, dass diese vorläufig von der Ag zu gewähren ist.
Entgegen der Auffassung der Ag kann die Ast nicht auf die Inanspruchnahme des Sozialhilfeträgers verwiesen werden. Wegen der Nachrangigkeit der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 1 Bundessozialhilfegesetz - BSHG -) ist grundsätzlich gegenüber dem (vorrangigen) Leistungsträger zu prüfen, ob ggf ein Anspruch besteht. Soweit - wie in diesem Fall für die Ast - unmittelbar eine Gefahr für Leib und Leben droht, müssen negative Kompetenzkonflikte zwischen Sozial- und Verwaltungsgerichten zu Lasten eines hilfesuchenden Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung vermieden werden (vgl. hierzu auch LSG Nordrhein-Westfalen - L 5 B 3/02 KR ER = NZS 2002, 498, 499 -).
Schließlich hat die Ast hinreichend glaubhaft gemacht, dass sie nicht in der Lage ist, die Kosten für die Sondennahrung vorübergehend selbst zu tragen. Nach Abzug der Gesamtkosten für den Aufenthalt im Pflegeheim verbleiben der Ast von ihren monatlichen Renteneinnahmen ca 264,00 EUR (vgl. Erklärung der Ast über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 13. September 2002 mit Anlagen; Rechnung des H. vom 22. August 2002). Die Ast ist nicht in der Lage, aus ihren verbliebenen Einkünften die Aufwendungen für die Sondennahrung zu tragen (vgl. hierzu Mahnung der Firma F. vom 29. Juli 2002).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Dieser Beschluss ist nach § 177 SGG unanfechtbar.
Wolff,
Poppinga