Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 16.12.2002, Az.: L 4 KR 166/02 ER

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
16.12.2002
Aktenzeichen
L 4 KR 166/02 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 35382
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2002:1216.L4KR166.02ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Lüneburg - AZ: S 9 KR 210/02 ER

Amtlicher Leitsatz

In einem Verfahren einer gesetzlichen Krankenkasse gegen eine Aufsichtsanordnung, mit der das Bundesversicherungsamt die Krankenkasse zur Erhöhung ihres Beitragssatzes zwingen will, ist der Streitwert nach der wirtschaftlichen Bedeutung der Sache für die Krankenkasse (§13 Abs.1 Satz 1 GKG) und nicht nach dem Auffangwert (§ 13 Abs. 1 Satz 2 GKG) zu bestimmen.

Tenor:

  1. Der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 30. September 2002 wird aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 30. September 2002 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. September 2002 wird wieder hergestellt. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen notwendigen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen sowie die Kosten des Beschwerdeverfahrens (Gerichtskosten).

Gründe

1

I.

Die Antragstellerin (Ast) ist eine bundesunmittelbare Betriebskrankenkasse (BKK) mit Sitz in Celle. Sie wendet sich gegen die Anordnung der Antragsgegnerin (Ag) im Bescheid vom 24. September 2002, die Beiträge zum 1. Oktober 2002 zu erhöhen. Streitgegenstand dieses Antragsverfahrens ist insbesondere die Anordnung des sofortigen Vollzuges.

2

Die Ast verlegte ihren Hauptsitz zum 1. November 2001 von Hamburg nach Celle. Die Sitzverlegung hat die Ag im Dezember 2001 genehmigt. Der zuvor für die Ast zuständige BKK-Landesverband Nord teilte der Ag im November 2001 mit, dass die Ast derzeit einen allgemeinen Beitragssatz von 11,2 % erhebe und sich weigere, nach der Satzung des Landesverbandes im Rahmen des Frühwarnsystems Daten und Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Die Beitragssatzgestaltung der Ast könne deshalb nicht überprüft werden, so dass der Landesverband Nord nunmehr von seiner in der Satzung vorgesehenen Berichtspflicht gegenüber der Aufsichtsbehörde Gebrauch mache. Aus dem Vermerk der Ag vom 8. Januar 2002 ergibt sich, dass zu jenem Zeitpunkt ein Nachweis einer rechtswidrigen Beitragssatzkalkulation durch die Ast nicht habe geführt werden können. Eine Beitragssatzanhebung für das Jahr 2002 erscheine jedoch auf Grund der Veränderungen im Rahmen des Risikostrukturausgleichs (RSA) notwendig. Im April 2002 teilte die Ag der Ast mit, dass sich aus der Abrechnung des 4. Quartals 2001 für das Jahr 2001 ein Überschuss der Ausgaben von rund 19,4 Millionen Deutsche Mark (10 Millionen Euro) ergebe. Im Haushaltsplan für das Haushaltsjahr 2002 sei als voraussichtliches Rechnungsergebnis für 2001 hingegen ein Gewinn von rund 1,4 Millionen Euro ausgewiesen.

3

Gleichzeitig bat die Ag um die Mitteilung der aktuellen Zahl der Mitglieder. Aus dem Vermerk der Ag vom 4. Juli 2002 ergibt sich folgende Mitgliederentwicklung: Jahresdurchschnitt 2001 - 124.025 Mitglieder, 1. April 2002 - 265.114 Mitglieder, 1. Juni 2002 - 330.271 Mitglieder.

4

Nach Übermittlung der Jahresrechnung für das gesamte Jahr 2001 stellte die Ag im Juni 2002 einen Überschuss der Ausgaben von 65,6 Millionen DM (33,5 Millionen Euro) fest. Daraus ergebe sich zum 31. Dezember 2001 ein negatives Betriebsmittel- und Rücklagevermögen von 64,3 Millionen DM (32,9 Millionen Euro). Der Einnahmenüberschuss im 1. Quartal 2002 betrage 3,4 Millionen Euro und lasse nicht erkennen, dass ein Ausgleich der gravierenden Vermögensfehlbeträge erreicht werden könne, zumal in der Mitteilung für das 1. Quartal 2002 nur die RSA-Abschlagszahlungen erfasst würden. Das Mitgliederwachstum sei für sich allein kein beitragsbestimmender Faktor, sondern könne nur im Zusammenhang mit den RSA-Ausgabenstandards bewertet werden. Da bereits das Jahr 2001 von einem deutlichen Mitgliederwachstum gekennzeichnet gewesen sei, ergebe sich aus der gegenwärtigen Mitgliederstärke kein statistisch begründbares Indiz für einen einhergehenden Defizitabbau. In Anbetracht der in der Jahresrechnung nachgewiesenen Schuldensituation seien die Voraussetzungen des § 220 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) erfüllt. Die Ag forderte die Ast bis zum 15. Juli 2002 zur Stellungnahme auf (Schreiben vom 25. Juni 2002). Die Ast teilte daraufhin mit, dass sie die Einschätzung der Ag nicht teile und die Voraussetzungen des § 220 Abs. 2 SGB V nicht erfüllt seien.

5

Aus einem Vermerk der Ag ergibt sich eine Besprechung im Bundesversicherungsamt am 22. August 2002, an dem neben Vertretern der Ast und der Ag auch ein Vertreter des nunmehr für die Ast zuständigen BKK-Landesverbandes Niedersachsen-Bremen teilnahm, der u.a. mitteilte, dass der Landesverband ein eigenes Finanzcontrolling betreibe. In dem Vermerk heißt es weiter, dass die BKK und der Landesverband gemeinsam zu dem Ergebnis gekommen seien, dass eine Beitragssatzanhebung zum 1. Oktober 2002 auf 11,9 % (allgemeiner Beitragssatz) ausreichend sei. Dieser Beitragssatz würde eine kontinuierliche und ausreichende Vermögensauffüllung sicherstellen. Die Bewertung beruhe auf der Annahme eines kostendeckenden Beitragsbedarfssatzes von 11,7 % und einem Anteil für die Vermögensauffüllung von 0,2 %. Im Gegensatz dazu betrage nach Berechnungen der Ag zur voraussichtlichen RSA-Verpflichtung und unter Berücksichtigung der Daten des 1. Halbjahres 2002 der Bedarfssatz 11,9 %. Unter dieser Prämisse bedürfe es einer Anhebung auf mindestens 12,8 %, um im Jahr 2002 keine weiteren Defizite zu erzielen. Im Rahmen der Beitragssatzanhebung diskutierten die Beteiligten insbesondere, ob bei der Erstreckung auf lediglich fünf Bundesländer und wegen der regionalen Verschiebung der Mitgliederstruktur hin zu kostengünstigen Gebieten ein geringerer Beitragssatz gerechtfertigt sei. Ende August 2002 legte daraufhin die Ast ihr Konsolidierungskonzept vor. Am 11. September 2002 beantragte die Ast bei der Ag die Genehmigung der Anhebung u.a. des allgemeinen Beitragssatzes von 11,2 auf 12,2 % in ihrer Satzung (Beschluss des Verwaltungsrates vom 10. September 2002). Mit Bescheid vom 19. September 2002 versagte die Ag die Genehmigung dieser Satzung und ordnete mit weiterem Bescheid vom 24. September 2002 die Erhöhung des allgemeinen Beitragssatzes von 11,2 auf 12,8 %, des erhöhten Beitragssatzes von 13,6 auf 15,2 % und des ermäßigten Beitragssatzes von 10,4 auf 12,0 % gemäß § 220 Abs. 2 Satz 3 SGB V mit Wirkung zum 1. Oktober 2002 an. Darüber hinaus ordnete die Ag unter Ziff. 2 ihrer Aufsichtsanordnung die sofortige Vollziehung an.

6

Gegen die Bescheide vom 19. und 24. September 2002 hat die Ast Klage beim Sozialgericht (SG) Lüneburg erhoben. Sie hat beantragt, die am 10. September 2002 von der Ast beschlossene Anhebung u.a. des allgemeinen Beitragssatzes von 11,2 % auf 12,2 % zu genehmigen und den Bescheid vom 24. September 2002 aufzuheben. Am 30. September 2002 hat die Ast im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beantragt, die am 10. September 2002 von der Ast beschlossene Anhebung u.a. des allgemeinen Beitragssatzes von 11,2 % auf 12,2 % bis zur Entscheidung in der Hauptsache umsetzen zu können. Am selben Tag hat die Ast den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 86b Sozialgerichtsgesetz - SGG - wegen der Anordnung des sofortigen Vollzuges im Bescheid der Ag vom 24. September 2002 gestellt.

7

Das SG hat mit Beschlüssen vom 30. September und 11. Oktober 2002 beide Anträge der Ast auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zurückgewiesen. In Bezug auf die Anordnung des sofortigen Vollzuges bezüglich der Erhöhung des Beitragssatzes gemäß § 220 Abs. 2 Satz 3 SGB V ist das SG der Begründung der Ag gefolgt, wonach auf Grund des großen Ausgabenüberschusses eine Anhebung u.a. des allgemeinen Beitragssatzes auf 12,8 % angemessen sei. Aus diesem Grunde habe die Ag zu Recht die Satzung mit einer Anhebung u.a. des allgemeinen Beitragsatzes auf 12,2 % nicht genehmigt. Gegen die am selben Tage vorab per Telefax bekannt gegebenen Beschlüsse hat die Ast mit Schreiben vom 9. Oktober 2002, eingegangen beim SG Lüneburg am 10. Oktober 2002, jeweils Beschwerde eingelegt. Beiden Beschwerden hat das SG nicht abgeholfen und dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.

8

Die Ast ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen des § 220 Abs. 2 Satz 3 SGB V nicht vorliegen. Satz 3 beziehe sich lediglich auf Satz 2 der Vorschrift und nicht auf Satz 1. Es müsse also eine akute Gefährdung der Leistungsfähigkeit der Ast gemäß § 220 Abs. 2 Satz 2 SGB V vorliegen, damit die Ag die Erhöhung der Beiträge anordnen könne. Dies sei nicht zu erkennen. Aus diesem Grund fehle es bereits am besonderen Interesse für die Anordnung des sofortigen Vollzugs im angefochtenen Bescheid.

9

Die Antragstellerin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 30. September 2002 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. September 2002 wieder herzustellen.

10

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

11

Sie ist der Ansicht, dass sich § 220 Abs. 2 Satz 3 SGB-V auch auf S. 1 beziehe. Ergebe sich während des Haushaltsjahres, dass die Betriebsmittel der Krankenkasse zur Deckung der Ausgaben nicht ausreichten, so könne die Aufsichtsbehörde, wenn der Vorstand nicht tätig werde, die Erhöhung der Beiträge anordnen. Sie hält den angefochtenen Beschluss deshalb für zutreffend.

12

Wegen der weiteren Einzelheiten des Rechtsstreits wird auf die Gerichts- sowie die Verwaltungsakten der Ag, die Akten L 4 KR 177/02 ER beim Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen sowie S 9 KR 220/02 und S 9 KR 230/02 beim Sozialgericht Lüneburg verwiesen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

13

II.

Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingelegt worden und auch im Übrigen zulässig.

14

Die Beschwerde ist begründet. Die von der Ag getroffene Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG ist rechtswidrig. Daher stellt der Senat nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung der von der Ast am 30. September 2002 erhobenen Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Ag vom 24. September 2002 wieder her.

15

Nach § 86a Abs. 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen leitet sich aus Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) ab. Sie beruht auf der Garantie eines effizienten Rechtsschutzes und ist ein fundamentaler Grundsatz öffentlicher Prozesse. Er verhindert, dass die öffentliche Hand irreparable Maßnahmen durchführt und vollendete Tatsachen schafft, bevor die Gerichte die Rechtmäßigkeit überprüft haben (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auflage 2002, § 86a Rdziff. 4 m.w.N.). Der Grundsatz der aufschiebenden Wirkung gilt jedoch nicht ausnahmslos. Nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit kann es in Ausnahmefällen gerechtfertigt sein, den Anspruch auf aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs einstweilen zurückzustellen. Voraussetzung hierfür ist jedoch ein besonderes Interesse. Es muss über das Interesse hinausgehen, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (vgl hierzu Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 25. Januar 1996 - 2 BvR 2718/95 = AuAS 1996, 62-64 m.w.N.).

16

In Beachtung dieser Grundsätze entfällt die aufschiebende Wirkung im sozialgerichtlichen Verfahren daher nur in Ausnahmefällen. Der Gesetzgeber hat diese Ausnahmen in § 86a Abs. 2 SGG enumerativ geregelt. Eine Anwendung der Nrn. 1-4 des § 86a Abs. 2 SGG kommt nicht in Betracht. Es ist vielmehr § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG anwendbar. Danach entfällt die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage dann, wenn die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten liegt und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnet. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG steht grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde. Bei ihren Erwägungen muss sie in Ansehung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz nach Art 19 Abs. 4 GG eine sorgfältige und umfassende Interessenabwägung durchführen. Sie hat die Interessen der Beteiligten umfassend zu berücksichtigen und darf nicht einseitig argumentieren. Sie hat bei ihrer Abwägung zu beachten, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsaktes ein Maß an öffentlichem Interesse verlangt, das über das Interesse an der Durchsetzung des Verwaltungsaktes an sich hinaus geht. Es muss also um mehr gehen, als um die Frage der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes. Bei allem muss die Behörde schließlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren (so bereits Beschluss des erkennenden Senats vom 30. September 2002 - L 4 KR 122/02 ER -). Ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung entfällt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides bestehen. Hat eine Anfechtungsklage gegen einen Bescheid nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung offensichtlich Erfolg, muss davon ausgegangen werden, dass mit einer sofortigen Vollziehung des Bescheides Rechtsfolgen eintreten, die im Widerspruch zur Rechtsordnung stehen. Ein solches Ergebnis liegt nicht im öffentlichen Interesse (vgl. hierzu Beschluss des erkennenden Senats vom 11. September 2002 - L 4 KR 138/02 ER -).

17

§ 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG bestimmt ausdrücklich, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen ist. Die Pflicht hierzu ist Ausfluss der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. Die Begründungspflicht gewährleistet nicht nur, dass die Behörde sich selbst kontrolliert und eine Übersicht über die Interessengegensätze gewinnt. Die Begründung schafft insbesondere auch Transparenz und Rechtsklarheit für den Betroffenen und eröffnet ihm die Möglichkeit, den Rechtsweg zu beschreiten. An die Begründungspflicht des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG sind daher hohe Anforderungen zu stellen. Die schriftliche Begründung muss nicht nur sämtliche Gesichtspunkte enthalten, die die Behörde in ihre Entscheidung einbezogen hat. Sie muss außerdem erkennen lassen, warum in diesem konkreten Einzelfall das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung das Interesse des Betroffenen überwiegt. Schließlich muss die Behörde darlegen, inwieweit die Anordnung der sofortigen Vollziehung im konkreten Fall dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entspricht (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 30. September 2002 - L 4 KR 122/02 ER -).

18

Diesen Grundsätzen entspricht die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Ag im angefochtenen Bescheid nicht.

19

Der Senat hat ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides der Ag vom 24. September 2002. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung dürfte die Anfechtungsklage offensichtlich Erfolg haben.

20

§ 220 Abs. 2 SGB V bestimmt: Ergibt sich während des Haushaltsjahres, dass die Betriebsmittel der Krankenkasse einschließlich der Zuführung aus der Rücklage und der Inanspruchnahme eines Darlehns aus der Gesamtrücklage zur Deckung der Ausgaben nicht ausreichen, sind die Beiträge zu erhöhen (Satz 1). Muss eine Krankenkasse, um ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten oder herzustellen, dringend ihre Einnahmen vermehren, hat der Vorstand zu beschließen, dass die Beiträge bis zur satzungsmäßigen Neuregelung erhöht werden; der Beschluss bedarf der Genehmigung der Aufsichtsbehörde (Satz 2). Kommt kein Beschluss zustande, ordnet die Aufsichtsbehörde die notwendige Erhöhung der Beiträge an (Satz 3).

21

Eine summarische Prüfung ergibt, dass eine Aufsichtsbehörde nur im Falle des § 220 Abs. 2 Satz 2 SGB V, nicht aber bei einem Sachverhalt des Satzes 1 zur Ersatzvornahme berechtigt ist. Diese Auffassung ergibt sich aus dem Wortlaut, der Systematik sowie dem Sinn und Zweck des § 220 Abs. 2 SGB V.

22

Die gesetzlichen Krankenkassen sind Körperschaften mit Selbstverwaltung. Wichtigste Aufgabe der Selbstverwaltungsorgane ist die autonome Rechtsetzung. Gem. §§ 33, 34 SGB IV i.V.m. §§ 194, 197 SGB V entscheidet grundsätzlich der Verwaltungsrat einer Krankenkasse über die Beiträge, deren Höhe, Fälligkeit und Zahlung (§ 194 Abs. 1 Nr. 4 SGB V). Im Rahmen dieser Satzungsautonomie hat die Krankenkasse bei der Aufstellung des Haushaltsplanes eine sogenannte Einschätzungsprärogative, d.h. sie beurteilt die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben. Hierbei hat sie die Grundsätze der sorgfältigen und verantwortungsbewussten Finanzplanung zu beachten. Sind ihre mittelbaren Steuerungsmöglichkeiten erschöpft, ist die Krankenkasse grundsätzlich verpflichtet, in eigener Verantwortung durch ihre Organe Beitragssatzänderungen zu beschließen. In der Regel sind die Beitragssätze zu Beginn eines Haushaltsjahres zu ändern (vgl. Vay, in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung Stand April 2002, § 220 SGB V Rdnr. 8f). Ausnahmsweise kann der Verwaltungsrat der Krankenkasse während eines Haushaltsjahres Beitragserhöhungen beschließen, wenn hierfür eine Notwendigkeit besteht. Das ist der Fall des § 220 Abs. 2 Satz 1 SGB V. Demgegenüber geht die Regelung in § 220 Abs. 2 Satz 2 SGB V davon aus, dass die Krankenkasse - dringend - ihre Einnahmen vermehren muss. Erst wenn dieser Zustand erreicht ist, darf von der gesetzlich festgelegten Satzungsautonomie - jedoch nur vorübergehend bis zur satzungsmäßigen Neuregelung - abgewichen werden. Nur in einem derartigen Fall darf der Vorstand anstelle des Verwaltungsrates handeln. § 220 Abs. 2 Satz 2 setzt also eine gravierend schlechtere Finanzlage der Krankenkasse voraus, als Satz 1 der Vorschrift. Die Leistungsfähigkeit der Krankenkasse muss akut gefährdet sein. Die mit einer satzungsmäßigen Neuregelung verbundene Verzögerung muss die finanzielle Situation so nachhaltig beeinflussen, dass die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben gefährdet ist (vgl. Vay, a.a.O. Rdnr. 15).

23

Die Regelungen in Satz 1 und 2 des § 220 Abs. 2 SGB V stehen somit in einem Stufenverhältnis zueinander. Je schlechter die Finanzlage der Krankenkasse wird, desto notwendiger wird schnelles Handeln. Nur die akute Gefährdung der Krankenkasse rechtfertigt den Eingriff in die Satzungsautonomie und die Verlagerung von Kompetenzen des Verwaltungsrats auf den Vorstand. Eine völlige Entmachtung der Selbstverwaltungsorgane einer Krankenkasse kommt als letztes Mittel zu ihrer finanziellen Rettung erst in Betracht, wenn Verwaltungsrat und Vorstand untätig bleiben. Erst wenn auch der Vorstand der Krankenkasse untätig bleibt und damit alle Möglichkeiten der Selbstverwaltung erschöpft sind, ist Raum für eine Ersatzvornahme in Form einer Anordnung der Aufsichtsbehörde. Das ergibt die Systematik und Zielsetzung des § 220 Abs. 2 SGB V.

24

Der Senat vermag sich daher nicht der Ansicht der Ag anzuschließen, dass sich Satz 3 des § 220 Abs. 2 SGB V auch auf Satz 1 der Vorschrift bezieht. § 220 Abs. 2 Satz 3 SGB V gilt nur für das Nichtzustandekommen eines Beschlusses nach § 220 Abs. 2 Satz 2 SGB V.

25

Im vorliegenden Fall hat der Verwaltungsrat der Ast jedoch noch im September 2002 eine erhebliche Beitragserhöhung beschlossen, u.a. des allgemeinen Beitragssatzes von 11,2 % auf 12,2 %. Damit hat er seine Satzungsautonomie wahrgenommen und seine Pflicht nach § 220 Abs. 2 Satz 1 SGB V erfüllt. Maßnahmen nach § 220 Abs. 2 Satz 2 oder Satz 3 SGB V scheiden damit aus. Ob das anders zu beurteilen wäre, wenn ein nach § 220 Abs. 1 Satz 1 SGB V gefasster Beschluss des Verwaltungsrates völlig unzureichend wäre, wenn ihm die Unzulänglichkeit sozusagen "auf die Stirn geschrieben" wäre, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn in diesem Falle wäre zunächst der Kassenvorstand legitimiert, einen Beschluss nach § 220 Abs. 2 Satz 2 SGB V zu fassen. Erst wenn ein Vorstandsbeschluss nicht zustande kommt, ist die Aufsichtsbehörde zu Maßnahmen der Ersatzvornahme befugt.

26

Der Senat kann aus der Aufsichtsanordnung vom 24. September 2002 nicht erkennen, dass diese Stufenfolge von der Ag beachtet worden ist. Die Aufsichtsanordnung enthält hierzu keine Ausführungen. Das wäre jedoch erforderlich gewesen, wenn die Ag trotz Beschlusses des Verwaltungsrates der Ast eine Ersatzvornahme vornimmt. Die Aufsichtsanordnung kann nach der gebotenen summarischen Prüfung daher schon aus diesem Grunde keinen Bestand haben. Mangels hinreichender Erfolgsaussicht des Hauptsacheverfahrens kann ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheides nicht bejaht werden.

27

Darüber hinaus fehlt eine umfassende Interessenabwägung. Denn die Begründung der sofortigen Vollziehung des Bescheides vom 24. September 2002 lässt eine Auseinandersetzung mit der Auffassung des Landesverbandes Niedersachsen-Bremen, ein Beitragssatz von 12,2 % reiche völlig aus, vermissen. Dieser Mangel wiegt um so schwerer, als der Landesverband ein eigenes Controlling betreibt, aufgrund dessen er die Finanzlage offensichtlich völlig anders einschätzt als die Ag. In Anbetracht der Haftung des Landesverbandes für die Schulden der Ast gemäß § 155 Abs. 4 SGB V, auf die auch die Ag mehrfach hingewiesen hat, ist der insoweit bestehende Begründungsmangel des Bescheides vom 24. September 2002 erheblich.

28

Schließlich spricht das eigene Verhalten der Ag gegen einen Sofortvollzug. Denn spätestens seit April 2002 (vgl. Schreiben vom 25. April 2002) war der Ag bekannt, dass der Ausgabenüberschuss der Ast zum Jahresende 2001 19,6 Millionen DM betrug und sich der von der Ast erwartete Gewinn von 1,4 Millionen Euro nicht realisiert hat. Dennoch hat die Ag bis zum 24. September 2002 zugewartet, bevor sie die Aufsichtsanordnung mit der Beitragserhöhung erlassen hat. Es bestand somit zwar eine Beitragslücke. Offensichtlich lag jedoch selbst nach der Einschätzung der Ag keine akute Gefährdungslage vor, die eine sofortige Erhöhung der Beiträge gerechtfertigt hätte. Andernfalls hätte die Ag schon früher gehandelt.

29

Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass die Ag durch ihr Verhalten dazu beigetragen hat, die schlechte Finanzlage der Ast zu verschärfen, indem sie den Antrag der Ast auf Genehmigung der Erhöhung u.a. des allgemeinen Beitragssatzes von 11,2 % auf 12,2 % ab 1. Oktober 2002 abgelehnt hat. Dieses Verhalten der Ag ist nicht geeignet, den sofortigen Vollzug ihrer Aufsichtsanordnung zu rechtfertigen. Ansonsten wäre die Aufsichtsbehörde in der Lage, durch eigenes Verhalten die Grundlage für einen sofortigen Vollzug ihrer Anordnungen nach § 86a SGG zu schaffen. Das jedoch wäre rechtsmissbräuchlich.

30

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten und die Gerichtskosten folgt aus § 197a SGG.

31

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht anfechtbar.