Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 11.09.2006, Az.: 1 A 292/04

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
11.09.2006
Aktenzeichen
1 A 292/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 44582
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2006:0911.1A292.04.0A

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Nur bei "alleiniger Obhut" über Ausrüstungsgegenstände kommt eine Beweislast des Rückgabeverpflichteten dafür in Betracht, dass er aus von ihm zu vertretenden Umständen nicht in der Lage sei, die ihm speziell anvertrauten Gegenstände zurückzugeben.

  2. 2.

    Fehlt es an solcher "alleiniger Obhut", trägt der Dienstherr analog § 619 a BGB die Beweislast dafür, dass der Soldat die Verletzung der Rückgabepflicht vorsätzlich oder grob fahrlässig zu vertreten hat (Umkehr der Beweislast).

Tenor:

  1. Keine Schadensersatzpflicht eines Soldaten bei Fehlen seiner "alleinigen Obhut" über Ausrüstungsgegenstände

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen seine Inanspruchnahme auf Schadensersatz wegen des Verlustes eines "Unfallaufnahmekoffers".

2

Er führte in der Nacht vom 22. auf den 23.08.2003 als Feldjägerstreifenführer - als sog. "Feldjäger vom Dienst" - gemeinsam mit einem Kfz-Führer eine Streifenfahrt durch, bei der er wegen Klappergeräuschen aus dem Kofferraum auf einem Parkplatz einen "technischen Halt" ausführen ließ, sämtliche Ausrüstungsgegenstände (Warnschilder, Leuchten, Bordausstattungs- und Verkehrssicherungssatz, Sonderausstattung, Unfallaufnahmekoffer usw.) selbst auslud und sie anschließend wieder erneut verstaute, ohne - wie die Beklagte betont - zuvor eine Vollzähligkeitsprüfung durchzuführen. Der Fahrzeugführer leuchtete vor der Weiterfahrt den Parkplatz mit dem Rückfahrscheinwerfer des Kfz jedoch noch einmal aus. Der Unfallaufnahmekoffer kam beim Aus- und Einladen abhanden, was am nächsten Tag bei der Übergabe des Feldjägerdienstkommandos festgestellt wurde.

3

Die Beklagte nahm den Kläger deshalb mit ihrem Leistungsbescheid vom 17.02.2004 in Höhe von 420,91 EUR in Anspruch, wobei sie eine Wertminderung von 30 % berücksichtigte, und rechnete diese Forderung mit den Dienstbezügen des Klägers auf.

4

Die daraufhin erhobene Beschwerde wurde durch den Beschwerdebescheid vom 25.06.2004 mit der Begründung zurückgewiesen, das Verhalten des Klägers stelle eine grob fahrlässige Dienstpflichtverletzung iSv § 24 Abs. 1 SG dar, weil der abhanden gekommene Koffer sich in der alleinigen Obhut des Klägers befunden habe und dieser weder vor Ort noch nach Rückkehr zum Bataillon eine Vollzähligkeitsprüfung durchgeführt habe. Eine Befreiung von der Schadensersatzpflicht scheide deshalb aus.

5

Zur Begründung seiner am 28.07.2004 erhobenen Klage unterstreicht der Kläger, dass er nicht grob fahrlässig und schon gar nicht vorsätzlich gehandelt habe. Denn er habe nicht eine dienstrechtliche Pflichtverletzung begangen, die etwa objektiv besonders schwer wiege und subjektiv schlechthin unentschuldbar sei. Es liege lediglich ein schlichtes Versehen vor, das ihm beim Beseitigen störender Geräusche (§ 22 StVO) und in dessen Folge beim Einladen von Ausrüstungsgegenständen unterlaufen sei. Er habe nach dem Einladen des Kofferraums den Ausladeplatz auf liegen gebliebene Teile untersucht und auf diese Weise auch überschlägig eine Vollzähligkeitsprüfung durchgeführt. Gerade unter Berücksichtigung seiner ansonsten bekannten Zuverlässigkeit und seines Verantwortungsbewusstseins könne ihm im Rahmen einer Gesamtwürdigung kein Vorwurf gemacht werden. Der Koffer sei im Übrigen aufgrund einer "kleinen Materialausgabeliste" in die Materialverantwortung des Kfz-Führers übergeben worden, der demgemäß an seiner Stelle für eine Inanspruchnahme in Betracht kommen könne.

6

Der Kläger beantragt,

den Leistungsbescheid der Wehrbereichsverwaltung Nord vom 17.02.2004 und den Beschwerdebescheid der Wehrbereichsverwaltung Nord vom 25.06.2004 aufzuheben.

7

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

8

Sie verweist zur Begründung auf die angefochtenen Bescheide und betont, dass der Verlust des Koffers allein durch das Handeln des Klägers - vollständiges Aus- sowie unvollständiges Einräumen ohne eine erforderliche Vollzähligkeitsprüfung - verursacht worden sei, was sich insgesamt als grob fahrlässige Pflichtverletzung darstelle.

9

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Klage, über die im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO) durch den Einzelrichter entschieden werden kann, ist begründet. Die angefochtenen Bescheide verletzen den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.

11

1. Rechtsgrundlage der Inanspruchnahme des Klägers ist § 24 SG. Hiernach erwächst der Beklagten ein Schadensersatzanspruch dann, wenn ein Soldat vorsätzlich oder grob fahrlässig die ihm obliegenden Pflichten verletzt und daraus dem Dienstherrn, dessen Aufgaben er wahrgenommen hat, ein Schaden entsteht. Im vorliegenden Fall fehlt es jedoch an einer grob fahrlässigen Verletzung der dem Kläger obliegenden Pflichten.

12

2. Als Pflichtverletzung kommt hier das Unterlassen einer genauen Vollzähligkeitsprüfung (vgl. hierzu auch BVerwG, NJW 1986, 2523/2524) beim Wiederbeladen des Kraftfahrzeugs in Betracht. Denn angesichts der Dunkelheit und des für ein Be- und Entladen ausgewählten Parkplatzes bestand - wie die Beklagte zu Recht ausführt - ein erhebliches Verlustrisiko (S. 2 d. Schr. v. 16.8.2004), dem nur durch eine Vollzähligkeitskontrolle hätte begegnet werden können.

13

Diese war jedoch nicht allein vom Kläger durchzuführen, sondern auch vom Kfz-Führer, dem die Ausrüstungsgegenstände durch eine - wie der Kläger vorträgt - "kleine Materialausgabeliste" in seine Obhut als Kfz-Führer übertragen worden waren. Diesem oblag es somit vor allem, dafür zu sorgen, dass keines der ausgeladenen Teile in der Nacht auf dem Parkplatz verblieb. Der Kläger hatte keineswegs die "alleinige Obhut" für die nicht ihm, sondern dem Kfz-Führer übergebenen und in einer Materialausgabeliste dokumentierten Ausrüstungsgegenstände (vgl. Versorgungsweisung Heer -VWH - 21 Nr. 26.1 und Nr. 26.4). Eine entsprechende Obhut war zunächst dem Kfz-Führer und nicht dem Kläger übertragen.

14

Vgl. BVerwG, NJW 1986, 2523:

15

"Nach Nr. 26 VII dieser Schadensbestimmungen ist vielmehr ein die Haftung begründendes Verhalten des Soldaten insoweit nur gegeben, wenn ein Bundeswehrangehöriger Sachen nicht zurückgeben kann, "die in seiner alleinigen Obhut standen". Diese Regelung stellt somit entsprechend den oben angeführten Grundsätzen maßgeblich darauf ab, daß der Soldat bei Eintritt des Schadens tatsächlich die ausschließliche und ungeteilte Verfügungsgewalt für die ihm übergebenen Ausrüstungsgegenstände hatte. Allein aus der dem Soldaten obliegenden Pflicht, die Ausrüstungsgegenstände sorgfältig zu verwahren, kann demnach nicht geschlossen werden, daß dieser die Beweislast für die Behauptung trägt, er sei aus von ihm nicht zu vertretenden Umständen nicht in der Lage, die Gegenstände zurückzugeben."

16

Die "ausschließliche und ungeteilte Verfügungsgewalt" für die dem Kfz-Führer übergebenen Gegenstände hatte der Kläger mithin nicht. Somit war es zwar dem aus- und einladenden Kläger als dem Handelnden, aber daneben auch dem Kfz-Führer als dem "unterstellten Begleiter" des Klägers zumutbar, für eine Vollständigkeit der Ausrüstungsgegenstände zu sorgen (so S. 2 d. Schr. der Beklagten v. 16.08.2004).

17

3. Der entstandene Schaden - der Verlust des Unfallaufnahmekoffers - ist sowohl durch die Unachtsamkeit des Klägers beim Beladen des Kfz verursacht worden als aber auch durch das Verhalten des an sich zur Obhut verpflichteten Kfz-Führers. Es kann folglich keine Rede davon sein, dass allein und ausschließlich eine Pflichtverletzung des Klägers ursächlich zu dem eingetretenen Schaden geführt hat.

18

4. Unter diesen Umständen dürfen hinsichtlich des Verschuldens an einen Entlastungsbeweis des Klägers iSv § 280 BGB (Scherer/Alff, Soldatengesetz, 7. Aufl. 2003 § 24 Rdn. 8) - so diese Vorschrift überhaupt zur Anwendung gelangt - keine zu hohen Anforderungen gestellt werden.

19

Allerdings ist davon auszugehen, dass nach der Umgestaltung des Rechtes der Leistungsstörungen nicht mehr § 280 BGB (bzw. § 282 BGB a.F.) zum Zuge kommt (vgl. dazu noch BVerwGE 52, 255; VG Stuttgart, Urt. v. 08.06.2005 - 17 K 4686/03 -), sondern eine Analogie zu §§ 617, 618, 619 und vor allem zu § 619 a BGB. Damit hat die Beklagte ihrerseits den Beweis zu erbringen, dass der Kläger die Pflichtverletzung in qualifizierter Form (§ 24 SG) zu vertreten hat.

20

Denn der Inhalt der dem Soldaten gegenüber zu beachtenden Fürsorgepflicht (§ 31 SG) besteht - vergleichbar den Fürsorgepflichten gegenüber einem Arbeitnehmer - darin, dass sich der Dienstherr bei allen Handlungen und Maßnahmen vom Wohlwollen gegenüber dem Soldaten leiten läßt und stets bemüht ist, ihn vor Nachteilen und Schaden zu bewahren (BVerwGE 44, 27). Die Vorschrift des § 619 a BGB ist gerade deshalb geschaffen worden, um die Unanwendbarkeit des § 280 BGB im Arbeitsrecht festzuschreiben und gegenüber § 280 BGB mit seiner Beweislastverteilung zu Lasten des seine Pflichten verletzenden Schuldners eine Sonderbestimmung zu schaffen. Für Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers mit ihren arbeitsrechtlichen Besonderheiten passt die Beweislastregelung des § 280 BGB nämlich grundsätzlich nicht.

21

Dieser Sinn und Zweck des § 619 a BGB als einer Sondervorschrift zu § 280 BGB kommt nach der Änderung des Leistungsstörungsrechts auch im Soldatenrecht zum Zuge (so zu Recht Palandt, BGB, 65. Auflage 2006, § 280 Rdn. 45). Damit hat der Dienstherr - im Sinne einer Beweislastumkehr - diejenigen Tatsachen vorzutragen und zu beweisen, aus denen sich das Verschulden des betreffenden Soldaten - hier des Klägers - in qualifizierter Form ergeben können soll. Hiervon ist die Beklagte nicht etwa deshalb entlastet, weil die Fürsorgepflicht in Verwaltungsvorschriften eine allgemeine, den Haftungsumfang des Dienstherrn eingrenzende Regelung erfahren hätte. Vgl. BVerwG, NJW 1986, 2523:

22

"Entgegen den Darlegungen der Beschwerde kann nicht davon ausgegangen werden, daß bisher in der Verwaltungspraxis allgemein der Grundsatz bestanden habe, der Soldat habe während seiner gesamten Dienstzeit ungeachtet der tatsächlichen Umstände die alleinige Obhut für die ihm übergebenen persönlichen Ausrüstungsgegenstände, weshalb der Dienstherr bei der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen nur beweisen müsse, daß dem Soldaten die vollständige Ausrüstung zur persönlichen Obhut anvertraut worden sei."

23

Mangels eines allgemeinen Verwaltungsgrundsatzes und einer "alleinigen Obhut" und entsprd. Verfügungsgewalt des Klägers (s.o.) kommt hier somit die Fürsorgepflicht des Dienstherrn aus § 31 SG nebst einer Umkehr der Beweislast analog § 619 a BGB zum Zuge.

24

Diese Umkehr der Beweislast beeinflusst das Maß des Verschuldens nicht, so dass es gem. § 24 Abs. 1 SG auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit als qualifizierte Form des Verschuldens ankommt.

25

5. Der Beklagten ist der somit ihr allein obliegende Nachweis einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Pflichtverletzung des Klägers (§ 24 Abs. 1 SG) hier jedoch nicht gelungen.

26

Der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit ist nur dann gerechtfertigt, wenn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, also schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt und das nicht beachtet wurde, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste (Schnellenbach, Beamtenrecht in der Praxis, 5. Auflage 2002, Rdn 318 m.w.N.).

27

Hier fehlt es an Darlegungen und Feststellungen, mit denen der qualifizierte Verschuldensvorwurf der groben Fahrlässigkeit belegt werden könnte. Im angefochtenen Bescheid vom 17.02.2004 wird noch davon ausgegangen, dass es Sache des Klägers sei, sich zu entlasten. Im Beschwerdebescheid vom 25.06.2004 wird ebenfalls § 282 BGB a.F. herangezogen, der zum damaligen Zeitpunkt jedoch nicht mehr galt. Während des Klageverfahrens wurde der bloße "Verdacht" vorgetragen, der Kläger habe die Gefahr eines Verlustes von Ausrüstungsgegenständen bei seinem Vorgehen "sehenden Auges in Kauf genommen" (S. 2 d. Schr. v. 16.08.2004), was jedoch nicht weiter belegt wurde. Das trägt jedenfalls der Beweislast der Beklagten nur unzureichend Rechnung.

28

Der Kläger seinerseits hat gegenüber solchem Verdacht jedenfalls substantiiert Tatsachen vorgetragen, die sein Verschulden iSe groben Fahrlässigkeit ausschließen können: Neben dem Fehlen seiner "alleinigen Obhut" hat er insbesondere substantiiert auf die "Materialverantwortung" des Kfz-Führers verwiesen sowie darauf, dass er nach dem Einladen "den Ausladeplatz auf liegen gebliebene Teile" untersucht habe, was seine grobe Fahrlässigkeit ausschließe.

29

Nach Lage der Dinge kann der Verlust des Koffers darauf zurückgehen, dass der Kläger beim Beladen des Fahrzeugs lediglich unachtsam - im Sinne leichter Fahrlässigkeit - war und daneben dem Kfz-Führer ein Vorwurf gemacht werden muss, der im Kfz verblieben war und lediglich noch einmal versucht hat, den Parkplatz in der Dunkelheit mit dem Rückfahrscheinwerfer auszuleuchten. Da der Kläger davon ausgegangen und überzeugt war, sämtliche Gegenstände wieder im Kfz verstaut zu haben, konnte ihm nicht in den Sinn kommen, den Kfz-Führer zu einer gründlicheren Kontrolle zu veranlassen. Jedenfalls kann ein Zusammenwirken der unter den hier handelnden Soldaten verteilten Pflichten nicht ausgeschlossen werden, was zugleich zu einer Entlastung des Klägers führte. Angesichts dessen, dass der Kläger gerade nicht die "alleinige Obhut" über die Ausrüstungsgegenstände des Kfz hatte, kann ihm allein auch nicht etwa der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit gemacht werden. Es ist nach der Lebenserfahrung nicht ausgeschlossen, dass beim Beladen eines Kfz in der Dunkelheit ein Gegenstand übersehen und nicht mit eingeladen wird. Ein derartiges Übersehen stellt sich lediglich als ein fahrlässiges Verhalten dar.

30

Letztlich spricht auch zu Gunsten des Klägers, dass er stets als besonders zuverlässig und verantwortungsbewusst im Umgang mit dem ihm anvertrauten Material galt. Daher kann davon ausgegangen werden, dass der Kläger auch im vorliegenden Fall die ihm zu Gebote stehende Sorgfalt, wie sonst auch, angewandt und den Parkplatz vor Abfahrt - soweit in der Dunkelheit möglich - untersucht hat.

31

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.