Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 25.05.2010, Az.: 9 B 1188/10
Entziehung; Fahrerlaubnis; Kraftfahrzeug; Mehrfachtäter; Punktabzug; Punkteabzug; Punkterabatt; Punktereduzierung; Punktestand; Punktsystem; Rechtskraftprinzip; Tattagprinzip; Teilnahme; verkehrspsychologische Beratung; Verringerung; Verwarnung
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 25.05.2010
- Aktenzeichen
- 9 B 1188/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 47972
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 4 Abs 2 S 2 StVG
- § 4 Abs 3 StVG
- § 4 Abs 5 StVG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Ermittlung des Punktestandes für einen Punkteabzug erfolgt nach dem Tattagprinzip - auch bei der verkehrspsychologischen Beratung (im Anschluss an BVerwG Urteile v. 25.09.2008 - 3 C 34.07 und 3 C 3.07).
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit des Bescheids der Antragsgegnerin vom 8. Februar 2010, durch den ihm gemäß § 4 Abs. 3 Nr. 3 StVG die Fahrerlaubnis entzogen wurde.
Das Verkehrszentralregister enthielt damals für den Antragsteller folgende Eintragungen:
Lfd. Nr.
Tattag
Art der Zuwiderhandlung
Eintritt der
Rechtskraft
Punkte1
14.01.2005
Anordnen bzw. Zulassen der Inbetriebnahme eines Fahrzeugs mit zu geringem Reifenprofil
15.11.2005
3
2
01.03.2005
Geschwindigkeitsüberschreitung außerorts um 42 km/h
02.06.2005
3
3
02.01.2006
Anordnen bzw. Zulassen der Inbetriebnahme eines Fahrzeugs mit einem nicht wirksamen Geschwindigkeitsbegrenzer
30.03.2006
3
4
02.07.2007
Geschwindigkeitsüberschreitung außerorts um 30 km/h
15.07.2008
3
5
19.08.2007
Geschwindigkeitsüberschreitung außerorts um 39 km/h
30.05.2008
3
6
01.12.2007
verbotswidrige Benutzung eines Mobiltelefons
21.02.2008
1
7
27.12.2008
Geschwindigkeitsüberschreitung außerorts um 39 km/h
19.10.2009
3
Mit Schreiben vom 7. Juli 2006 hatte die Antragsgegnerin den Antragsteller unter Hinweis auf die ersten drei oben genannten Eintragungen gemäß § 4 Abs. 3 Nr. StVG verwarnt und ihn auf die Möglichkeit der Teilnahme an einem Aufbauseminar hingewiesen. Nach einer in den Verwaltungsvorgängen befindlichen Postzustellungsurkunde wurde dieses Schreiben dem Antragsteller am 11. Juli 2006 durch Einwurf in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten durch das Postunternehmen E. (Zusteller: F.) zugestellt.
Mit Bescheid vom 25. August 2008 hatte ihn die Antragsgegnerin unter Bezugnahme auf die ersten sechs der vorgenannten Eintragungen gemäß § 4 Abs. 3 Nr. 2 StVG zur Teilnahme an einem Aufbauseminar sowie zur Vorlage einer Bescheinigung hierüber binnen drei Monaten nach Erhalt des Schreibens aufgefordert, ihn ferner auf die Möglichkeit einer verkehrspsychologischen Beratung und die bei einem Stand von 18 Punkten bestehende Pflicht zur Entziehung der Fahrerlaubnis hingewiesen. Dieser Bescheid wurde dem Antragsteller am 27. August 2008 durch das Postunternehmen G. (Zusteller wieder: F.) zugestellt. In der Zeit vom 21. November bis zum 9. Dezember 2008 besuchte der Antragsteller ein Aufbauseminar und übersandte der Antragsgegnerin die Teilnahmebescheinigung.
Am 9. Februar 2009 erhielt die Antragsgegnerin eine vom 5. Februar 2009 datierende Bescheinigung über die Teilnahme des Antragstellers an einer vom 21. Januar bis zum 5. Februar 2009 dauernden verkehrspsychologischen Beratung. Mit Schreiben vom 11. Fe-bruar 2009 bestätigte die Antragsgegnerin die fristgerechte Vorlage der Teilnahmebescheinigung und wies darauf hin, dass die Teilnahme dem Verkehrszentralregister gemeldet werde.
Nachdem der Antragsgegnerin ein Auszug aus dem Verkehrszentralregister vom 1. Dezember 2009 zugegangen war, aus dem sich eine Punktbewertung mit insgesamt 19 Punkten einschließlich der oben unter Nr. 7 genannten Geschwindigkeitsüberschreitung vom 27. Dezember 2008 ergab, hörte sie den Antragsteller mit Schreiben vom 29. Dezember 2009 zu der beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an. Durch Bescheid vom 8. Februar 2010 entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller die Fahrerlaubnis der Klassen A, B, CE, T einschließlich aller darin enthaltenen Klassen und gab ihm auf, seinen Führerschein direkt abzugeben oder zu übersenden. Die Entziehungsentscheidung wurde damit begründet, dass der Antragsteller mit mehr als 18 Punkten bewertete Verkehrsverstöße begangen habe. Die Teilnahme an der verkehrspsychologischen Beratung könne nicht zur Verringerung des Punktestandes führen, da er bereits zuvor 18 Punkte erreicht habe.
Gegen den Bescheid erhob der Antragsteller am 3. März 2010 Klage (Az.: 9 A 1186/10), über die noch nicht entschieden wurde.
Zur Begründung der Klage wie auch des zeitgleich eingereichten Antrags, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, macht der Antragsteller unter Vertiefung seines Vorbringens im Verwaltungsverfahren geltend, die Antragsgegnerin habe nicht alle nach dem Punktsystem vorgeschriebenen Maßnahmen durchgeführt. So fehle die bei Überschreiten bzw. Erreichen von 14 Punkten erforderliche Verwarnung. Die Verwarnung bei einem Stand von 9 Punkten habe er nicht erhalten. Die hierzu in den Verwaltungsvorgängen enthaltene Postzustellungsurkunde beweise nicht, dass ihm die Verwarnung im Juli 2006 tatsächlich zugegangen sei. Die E. sei zur Zustellung von behördlichen Dokumenten nicht autorisiert gewesen. Außerdem sei allgemein bekannt, dass es gerade in der Vergangenheit bei Briefsendungen, die durch die E. befördert worden seien, zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei. Schließlich habe er Punkte abgebaut. Er sei Berufskraftfahrer und dringend auf seine Fahrerlaubnis angewiesen.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 8. Februar 2010 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen
Sie erwidert, auch nach erneuter Prüfung der Sach- und Rechtslage sei sie mit der Entziehung der Fahrerlaubnis ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachgekommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten im vorliegenden Verfahren sowie im Klageverfahren und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin verwiesen.
II.
Der gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 4 Abs. 7 Satz 2 StVG statthafte Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig, aber nicht begründet.
Die auch in den Fällen, in denen die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen Verwaltungsakt kraft Gesetzes entfällt, nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Lasten des Antragstellers aus, denn der angefochtene Bescheid vom 8. Februar 2010 wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit im Klageverfahren 9 A 1186/10 als rechtmäßig erweisen, so dass das öffentliche Vollziehungsinteresse gegenüber dem privaten Interesse des Antragstellers, vorläufig weiterhin seine Fahrerlaubnis nutzen zu dürfen, Vorrang genießt. Dies gilt trotz des besonderen wirtschaftlichen Interesses des Antragstellers als Berufskraftfahrer. Auch dieses ist nachrangig gegenüber dem öffentlichen Interesse daran, einen nicht geeigneten Verkehrsteilnehmer im allgemeinen Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs von der Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr sofort auszuschließen.
Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG. Danach hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich für den Inhaber einer Fahrerlaubnis 18 oder mehr Punkte ergeben. Dann gilt der Betroffene als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen.
Unter Berücksichtigung des Regelungsgefüges in § 4 StVG zum Punktsystem und der gebotenen Auslegung dieser Bestimmungen ist die Antragsgegnerin zu Recht davon ausgegangen, dass sich für den Antragsteller 19 Punkte ergeben. Dies folgt aus der Summe der unter I. aufgeführten Verkehrszuwiderhandlungen.
Entgegen der Auffassung des Antragstellers kommt eine Verringerung dieser Punkte nicht in Betracht, denn der Antragsteller kann sich weder mit Erfolg auf eine fiktive Punktereduzierung gemäß § 4 Abs. 5 StVG berufen (hierzu nachfolgend 1.), noch kommt ihm ein Punkteabzug wegen der Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung im Sinne von § 4 Abs. 4 Satz 2 StVG zu Gute (hierzu unter 2.).
1. Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG wird der Punktestand auf 13 reduziert, wenn der Betroffene 14 oder 18 Punkte erreicht oder überschreitet, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde die Maßnahmen nach Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG ergriffen hat. Dieser Fall liegt hier jedoch nicht vor.
Ausweislich der beigezogenen Verwaltungsvorgänge hat die Antragsgegnerin gegenüber dem Antragsteller jeweils zum gesetzlich bestimmten Zeitpunkt die nach dem Mehrfachtäterpunktsystem des § 4 StVG geregelten Maßnahmen ergriffen. So hat die Antragsgegnerin den Antragsteller zum vorgesehenen Zeitpunkt verwarnt, als die von ihm begangenen Verkehrsverstöße mit 9 Punkten zu bewerten waren. Gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG hat die Fahrerlaubnisbehörde den Inhaber einer Fahrerlaubnis darüber schriftlich zu unterrichten, ihn zu verwarnen und ihn auf die Möglichkeit der Teilnahme an einem Aufbauseminar hinzuweisen, wenn sich für den Betroffenen acht, aber nicht mehr als 13 Punkte ergeben. Mit der oben an dritter Stelle aufgeführten, am 2. Januar 2006 begangenen Ordnungswidrigkeit ergaben sich 9 Punkte. Das Schreiben der Antragsgegnerin vom 7. Juli 2006 enthält alle Maßnahmen der ersten Eingriffsstufe. Dies stellt der Antragsteller auch nicht in Abrede.
Nach Aktenlage hat der Antragsteller dieses Schreiben entgegen seinem Vorbringen auch erhalten. Ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 11. Juli 2006 ist ihm die Verwarnung an diesem Tage zugestellt worden. Die von der Antragsgegnerin gewählte Art der Zustellung durch die Post mit Postzustellungsurkunde erfolgte gemäß § 1 Abs. 1 NVwZG i. V. m. §§ 2, 3 VwZG und entsprechend §§ 177 bis 182 ZPO. Post in diesem Sinne ist ein Erbringer von Postdienstleistungen wie die damalige E., die gemäß § 33 Abs. 1 PostG auch zur förmlichen Zustellung verpflichtet war. Konkret hat der Zusteller beurkundet, das Verwarnungsschreiben im Wege der Ersatzzustellung gemäß § 180 ZPO durch Einlegen in den Briefkasten zugestellt zu haben. Gemäß § 98 VwGO i. V. m. § 418 ZPO erbringt die Zustellungsurkunde auch nach der Privatisierung der Postdienstleistungen den vollen Beweis für die von ihr bezeugten Tatsachen. Ein nach § 418 Abs. 2 ZPO möglicher Gegenbeweis kann nur durch den Beweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen geführt werden. Die bloße Behauptung, der Antragsteller habe das Schreiben nicht erhalten, und ein allgemeiner Hinweis auf Unregelmäßigkeiten bei der Postbeförderung durch die damalige E. reichen hierfür nicht aus. Im Übrigen hat auch nach dem Aufgehen der E. in der PIN-Gruppe im Juni 2007 (nach Wikipedia, Stichwort E.) offenbar der im Zustellbezirk des Antragstellers zuständige Zusteller nicht gewechselt und ihm auch den Bescheid vom 25. August 2008 zugestellt. Es drängt sich nicht auf, und es spricht auch nichts dafür, dass dieser Zusteller im Jahre 2006 unzuverlässig gewesen wäre.
Eine weitere Verwarnung bei Erreichen oder Überschreiten von 14 Punkten sieht das Gesetz nur dann vor, wenn der Betroffene innerhalb der letzten fünf Jahre bereits an einem Aufbauseminar teilgenommen hat (§ 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 StVG). Im Regelfall ist die in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 StVG vorgeschriebene Teilnahme an einem Aufbauseminar anzuordnen. Diese Maßnahme war auch beim Antragsteller vorrangig.
Für eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 5 StVG besteht nach alledem kein Anlass.
2. Für den Antragsteller liegen auch die Voraussetzungen für einen Abzug von zwei Punkten nach Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung nicht vor. § 4 Abs. 4 Satz 2 StVG lässt diesen Abzug nur zu, wenn der Betroffene nach der Teilnahme an einem Aufbauseminar und nach Erreichen von 14 Punkten, aber vor Erreichen von 18 Punkten an einer verkehrspsychologischen Beratung teilgenommen hat.
Der Antragsteller hat erst nach dem Begehen, aber vor der rechtskräftigen Ahndung der Geschwindigkeitsüberschreitung, durch die er die Schwelle von 18 Punkten erreicht und sogar überschritten hat, an der verkehrspsychologischen Beratung teilgenommen. Die Antragsgegnerin hat bei der Würdigung, ob diese Teilnahme vor oder nach dem "Erreichen" von 18 Punkten stattgefunden hat, zutreffend das so genannte "Tattagprinzip" zugrunde gelegt und nicht, worauf der Antragsteller sich beruft, das so genannte Rechtskraftprinzip.
Der Begriff "Erreichen" des Punktestands ist im Gesetz nicht definiert. Das Tattagprinzip besagt, dass sich in Bezug auf eine Person Punkte in dem Zeitpunkt "ergeben" bzw. ein bestimmter Punktestand in dem Zeitpunkt "erreicht" ist, in dem die mit Punkten bewertete Zuwiderhandlung begangen wurde, sofern die Ahndung dieser Zuwiderhandlung später rechtskräftig wird. Dieses Prinzip kann zwar zu einer zeitlichen Vorverlagerung der fahrerlaubnisrechtlichen Folgen führen, die sich an eine straßenverkehrsbezogene Zuwiderhandlung und den dadurch bewirkten Anfall von Punkten im Verkehrszentralregister knüpfen. Dies ist jedoch allein sachgerecht, denn die Gefährlichkeit einer Person, die mit Punkten bewertete Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten in nicht unbeträchtlicher Zahl bzw. von erheblicher Schwere begangen hat, manifestiert sich bereits im Augenblick der Tatbegehung und nicht erst in dem Zeitpunkt, in dem die Ahndung solcher Zuwiderhandlungen unanfechtbar wird. Die Existenz eines rechtskräftigen Strafurteils, Strafbefehls oder Bußgeldbescheids bestätigt lediglich, dass der Betroffene den ihm zur Last gelegten Verstoß wirklich begangen hat und er aus diesem Anlass mit einer tat- und schuldadäquaten Sanktion belegt wurde. Das Abstellen auf den Zeitpunkt der Tatbegehung ermöglicht es, gegen Personen, die wegen der Art und der Zahl der von ihnen begangenen Zuwiderhandlungen eine Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs darstellen, effizienter einschreiten zu können, als das auf der Grundlage des Rechtskraftprinzips möglich wäre.
Diese Auslegung entspricht der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteile vom 25.09.2008 , 3 C 3.07 und 3 C 34.07). Danach ist höchstrichterlich geklärt (Geiger, DAR 2010, 61, 65) dass bei der Ermittlung des Punktestandes für einen Punkteabzug und dessen Umfang nach § 4 Abs. 4 StVG die Verkehrsverstöße zu berücksichtigen sind, die im für die Reduzierung maßgeblichen Zeitpunkt begangen waren, auch wenn sie erst später rechtskräftig geahndet wurden (sog. Tattagprinzip).
Zur Maßgeblichkeit des Tattagprinzips hat das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 25.09.2008 - 3 C 34.07 -) für den Fall einer Punktereduzierung bei Teilnahme an einem Aufbauseminar Folgendes ausgeführt:
Für den Punktestand zu diesem Stichtag und den davon abhängigen Umfang des Punktabzuges kommt es ausschließlich darauf an, welche mit Punkten zu bewertende Verkehrsverstöße der Betroffene zum Zeitpunkt der Ausstellung der Teilnahmebescheinigung begangen hat (sog. Tattagprinzip); es ist nicht erforderlich, dass die Verkehrsverstöße zu diesem Zeitpunkt bereits rechtskräftig geahndet sind. Das ergibt sich zwar nicht ohne Weiteres aus dem Wortlaut der Vorschriften, aber aus dem Sinn und Zweck der Regelungen.
aa) Allein aus den Formulierungen, dass für den Punktabzug eine bestimmte Punktzahl "erreicht" sein muss und der Umfang des Punktabzugs von einem bestimmten (Pun-kte-)"Stand" abhängt, lässt sich für die hier zu entscheidende Frage ebenso wenig entnehmen wie aus der Stichtagsregelung des § 4 Abs. 4 Satz 4 StVG selbst oder dem Umstand, dass § 4 Abs. 3 Satz 2 StVG die Fahrerlaubnisbehörde bei den Maßnahmen nach Satz 1 dieses Absatzes an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder Ordnungswidrigkeit bindet. Auch der Wortlaut der übrigen in § 4 StVG getroffenen Regelungen bietet keinen hinreichenden Anhalt.
Zwar verwendet diese Vorschrift unterschiedliche Formulierungen um festzulegen, bei welchem Punktestand die Fahrerlaubnisbehörde oder das Kraftfahrt-Bundesamt bestimmte Maßnahmen zu ergreifen haben oder wann schon kraft Gesetzes bestimmte Rechtsfolgen eintreten. So ist in § 4 Abs. 3 StVG davon die Rede, dass sich eine bestimmte Punktzahl "ergibt", in § 4 Abs. 4 bis 6 StVG werden die Rechtsfolgen daran geknüpft, dass eine bestimmte Zahl von Punkten oder ein bestimmter Punktestand "erreicht" ist. Doch folgt aus dieser divergierenden Terminologie kein sachlicher Unterschied, vielmehr ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Begriffe synonym verwendet hat. Dafür spricht insbesondere die Gesetzesbegründung. Dort wird zu § 4 Abs. 3 StVG ausgeführt, dass dieser Absatz die Maßnahmen regele, die zu ergreifen seien, wenn bestimmte Punktestände "erreicht" seien, obgleich in der Norm selbst die Formulierung "ergeben sich" gewählt wurde (BRDrucks 821/96 S. 72).
Das Argument, dass der Gesetzgeber ansonsten, wenn er auf den Tattag abstellen wollte, dies auch im Wortlaut der Regelungen eindeutig zum Ausdruck gebracht habe, so etwa in § 2a Abs. 2 Satz 1, § 29 Abs. 6 Satz 2 und § 65 Abs. 2, 4 und 5 StVG (vgl. Dauer, NZV 2007, 593 <596>), überzeugt nicht; denn dasselbe gilt, soweit der Gesetzgeber die Rechtskraft der die Verkehrsverstöße ahndenden Entscheidungen voraussetzt, wie insbesondere die Fassung von § 28 Abs. 3 StVG belegt. Daraus, dass es in § 4 Abs. 4 StVG nicht in derselben Deutlichkeit geschehen ist, lässt sich somit weder etwas für das Tattag- noch für das Rechtskraftprinzip gewinnen.
bb) Sinn und Zweck der Regelungen über das Punktsystem gebieten jedoch, bei der Anwendung des § 4 Abs. 4 StVG auf den Tattag abzustellen.
Die in § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG vorgesehenen Maßnahmen dienen ausweislich § 4 Abs. 1 Satz 1 StVG dem Schutz vor Gefahren, die von wiederholt gegen Verkehrsvorschriften verstoßenden Fahrzeugführern und -haltern ausgehen (so auch BRDrucks 821/96 S. 71). Hielte man es für erforderlich, dass die Verkehrsverstöße zum Zeitpunkt der Ausstellung der Teilnahmebescheinigung bereits rechtskräftig geahndet sein müssen, käme der Betroffene, der bis zum Abschluss des Aufbauseminars weitere, aber erst später rechtskräftig geahndete Verkehrsverstöße begangen hat, in den Genuss eines nicht mehr oder nicht mehr in diesem Umfange gerechtfertigten Punkterabatts; denn in Bezug auf in der Vergangenheit liegende Verkehrsverstöße kann das Aufbauseminar naturgemäß keine Wirkung mehr entfalten. Zugleich hat der Mehrfachtäter durch sein wiederholtes Fehlverhalten bereits in erheblichem Umfang eine falsche Einstellung zum Straßenverkehr, eine fehlerhafte Selbsteinschätzung und eine erhöhte Risikobereitschaft an den Tag gelegt, Verhaltensweisen also, die durch das Mehrfachtäter-Punktsystem sanktioniert werden sollen, wie die Gesetzesbegründung belegt (vgl. BRDrucks 821/96. S. 53).
§ 4 Abs. 5 StVG bestätigt die Maßgeblichkeit des Tattages. Danach wird der Punktestand unter die Schwellenwerte (14 bzw. 18 Punkte) reduziert, wenn der Betroffene sie erreicht oder überschreitet, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde die in Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 vorgesehenen Maßnahmen ergriffen hat. Damit soll sichergestellt werden, dass die beim Erreichen von 18 Punkten greifende unwiderlegliche Vermutung der fehlenden Kraftfahreignung erst dann zum Tragen kommt, wenn der Fahrerlaubnisinhaber im abgestuften Maßnahmesystem des Mehrfachtäter-Punktsystems auch die vorgelagerten Stufen durchlaufen hat, die dort vorgesehenen Maßnahmen gegen ihn ergriffen wurden, er sich aber gleichwohl nicht von weiteren Verkehrsverstößen hat abhalten lassen (vgl. dazu BRDrucks 821/96 S. 52 f.). Das setzt nach dem Sinn und Zweck voraus, dass ihn die Maßnahmen möglichst frühzeitig und insbesondere noch vor dem Eintritt in die nächste Stufe erreichen. Diese Warnfunktion kann das Rechtskraftprinzip aber nicht im gebotenen Umfang sicherstellen. Dies gilt namentlich, wenn der Fahrerlaubnisinhaber neben bereits rechtskräftig geahndeten noch weitere Verkehrsverstöße begangen hat. Blieben diese weiteren Verkehrsverstöße im Rahmen des § 4 Abs. 5 StVG unberücksichtigt, würde dem Betroffenen die mit den Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG verbundene Warnung und Möglichkeit der Verhaltensänderung nicht effektiv zuteil werden. Denn er hätte die weiteren Verkehrsverstöße, vor deren Begehung er eigentlich erst gewarnt werden soll, bereits begangen. Weitere Punkte würden sich, selbst wenn der Betroffene sein Verhalten fortan änderte, allein dadurch ansammeln, dass die Ahndung dieser weiteren Verkehrsverstöße rechtskräftig wird. Ein solches Ergebnis wollte der Gesetzgeber durch die Regelung des § 4 Abs. 5 StVG gerade vermeiden.
Von Bedeutung ist zudem, dass das Bonus-System des Abs. 4 insgesamt darauf angelegt ist, einen Anreiz zu geben, das freiwillige Aufbauseminar überhaupt und wenn, dann möglichst frühzeitig zu besuchen (vgl. BRDrucks 821/96 S. 72). Das zeigt insbesondere die dort vorgesehene Staffelung des Rabatts. Auch dies spricht dafür, bei der Ermittlung des Punktestandes auf den Tattag abzustellen. Dadurch wird für den Betroffenen der Anreiz verstärkt, das Aufbauseminar frühzeitig zu besuchen. Das liegt nicht nur in seinem eigenen, sondern auch im Interesse der Verkehrssicherheit und damit der Allgemeinheit, da dadurch eine Einstellungs- und Verhaltensänderung des Mehrfachtäters herbeigeführt werden soll.
Diese überzeugenden Erwägungen gelten ebenso für § 4 Abs. 4 Satz 2 StVG. Dies folgt nicht nur aus dem insoweit übereinstimmenden Begriff "Erreichen", sondern auch aus dem vergleichbaren Sinn und Zweck. Für Personen, die so gravierende Rechtsverstöße begangen haben, dass sich daraus (unter der Voraussetzung der späteren rechtskräftigen Ahndung dieser Zuwiderhandlungen) 18 oder mehr Punkte im Verkehrszentralregister ergeben, soll auch diese Regelung nicht die Möglichkeit eröffnen, durch die Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung erst nach der Begehung derjenigen Tat, durch die die 18-Punkte-Grenze erreicht wird, noch die Entziehung der Fahrerlaubnis abzuwenden. Ebenso wie Aufbauseminare verfolgt auch das Hilfsangebot der verkehrspsychologischen Beratung das Ziel, Fahrerlaubnisinhaber zu einem künftig rechtskonformen Verhalten zu bewegen, und so weitere Beeinträchtigungen der Sicherheit des Straßenverkehrs abzuwenden. In Bezug auf in der Vergangenheit liegende Rechtsverstöße (vorliegend hinsichtlich der am 27.12.2008 begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung) lässt sich eine solche Wirkung ebenso wie bei Aufbauseminaren nicht mehr erzielen. Es besteht auch kein entscheidungserheblicher Wertungsunterschied zwischen einem Aufbauseminar nach § 4 Abs. 4 Satz 1 StVG und einer verkehrspsychologischen Beratung nach § 4 Abs. 2 Satz 2 StVG. Jeder ermöglichte Punkterabatt beruht darauf, dass die Teilnahme an den Maßnahmen freiwillig erfolgt.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.