Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 29.05.2013, Az.: 1 Ws 108/13

Reihenfolge der Anrechnung von Untersuchungs- und Organisationshaft bei vorgezogener Vollstreckung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
29.05.2013
Aktenzeichen
1 Ws 108/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 48163
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:2013:0529.1WS108.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Göttingen - 03.04.2013

Amtlicher Leitsatz

Wird nach Verbüßung von Untersuchungshaft neben einer Freiheitsstrafe die (nach § 67 Abs. 1 StGB vor der Freiheitsstrafe zu vollstreckende) Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet, so ist zunächst die vor Rechtskraft vollzogene Untersuchungshaft anzurechnen. Sodann ist die Zeit des Vollzugs der Maßregel bis zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt zu berücksichtigen und schließlich das Restdrittel der Strafe um etwaige Organisationshaft zu kürzen.

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen mit Sitz bei dem Amtsgericht Rotenburg/Wümme vom 3. April 2013 wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.

Der angefochtene Beschluss wird jedoch dahingehend berichtigt, dass sich die Entscheidung auf eine solche des Amtsgerichts - nicht des Landgerichts - Osnabrück vom 27. Februar 2012 bezieht.

Gründe

Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

Mit Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 27. Februar 2012, das seit 29. Juni 2012 rechtskräftig ist, wurde der Beschwerdeführer wegen Diebstahls in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten verurteilt. Außerdem wurde seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet.

Zuvor befand sich der Verurteilte zunächst vom 29. September 2011 bis zum 22. Mai 2012 und sodann wieder vom 12. Juni 2012 bis zum 28. Juni 2012 in Untersuchungshaft (254 Tage). In der Zeit vom 29. Juni 2012 (Eintritt der Rechtskraft des Urteils vom 27. Februar 2012) bis zum 5. September 2012 war er anschließend für weitere 83 Tage in sog. Organisationshaft (Bl. 76 d. A.), bevor er am 6. September 2012 im Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen (MRVZN) Brauel aufgenommen wurde (Bl. 50 d. A.).

Durch den angefochtenen Beschluss vom 3. April 2013 hat die Strafvollstreckungskammer Göttingen die Maßregel, die durch das genannte Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 27. Februar 2012 angeordnet wurde, für erledigt erklärt, den Eintritt der Führungsaufsicht festgestellt, die Führungsaufsicht ausgestaltet und es schließlich abgelehnt, die Reststrafe zur Bewährung auszusetzen. Der Beschwerdeführer ist daraufhin am 5. April 2013 aus der Maßregelvollzugseinrichtung entlassen worden (Bl. 117 d. A.), weil aus Sicht der Staatsanwaltschaft Osnabrück nach Anrechnung von Untersuchungs- und Organisationshaft kein Strafrest verbleibt.

Vor seiner Entlassung unterzeichnete er ein Belehrungsprotokoll, das die Überschrift trägt:

"BELEHRUNGSPROTOKOLL ÜBER DIE BEDEUTUNG DER FÜHRUNGSAUFSICHT".

In dem Protokoll, auf das zur näheren Sachdarstellung Bezug genommen wird (Bl. 119 d. A), ist zunächst ausgeführt, dass dem Verurteilten eröffnet worden sei, dass mit Beschluss der 59. Strafvollstreckungskammer (des Landgerichts Göttingen) mit Sitz bei dem Amtsgericht Rotenburg/Wümme angeordnet worden sei, dass die gegen ihn verhängte Maßregel nicht weiter zu vollziehen sei. Außerdem sei der Vollzug der noch zu vollstreckenden Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Osnabrück angeordnet und Führungsaufsicht auf drei Jahre festgesetzt worden. Sodann folgt eine Belehrung hinsichtlich der Führungsaufsicht. Abschließend ist die Entlassungsanschrift des Verurteilten aufgeführt, bevor die Passage

Ich verzichte auf die Einlegung eines Rechtsmittels gegen den Beschluss.

Eine Abschrift dieser Belehrung ist mir ausgehändigt worden.

(Unterschrift des Patienten)".

folgt.

Trotz des Rechtsmittelverzichts hat der Verurteilte gegen den Beschluss vom 3. April (zugestellt am 4. April 2013) am 11. April 2013 sofortige Beschwerde eingelegt. Obgleich die Strafe derzeit nicht vollstreckt wird, greift er mit seinem Rechtsmittel die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer zur Reststrafenaussetzung an. Er ist der Auffassung, dass die Kammer eine Entscheidung über die Reststrafenaussetzung nicht hätte treffen dürfen, weil die Strafe bereits vollständig verbüßt sei. Er meint, er hätte spätestens am 25. März 2013 entlassen werden müssen.

Die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig hat beantragt, die sofortige Beschwerde zu verwerfen. Die Strafvollstreckungskammer habe mit Recht die Reststrafenaussetzung abgelehnt. Die Untersuchungshaft von 254 Tagen sei zunächst auf die ersten beiden Drittel (304 Tage) der verhängten Gesamtstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten (456 Tage) anzurechnen, so dass lediglich 50 Tage anrechenbarer Maßregelvollzug verblieben. Von dem Restdrittel (152 Tage) seien nach Anrechnung der Organisationshaft (69 Tage) noch 83 Tage zu verbüßen. Es sei lediglich geboten, den angefochtenen Beschluss zu berichtigen, weil sich die Entscheidung der Kammer versehentlich auf ein Urteil des Landgerichts Osnabrück beziehe, das verfahrensgegenständliche Urteil vom 27. Februar 2012 aber vom Amtsgericht Osnabrück gefällt worden sei.

II.

1. Die sofortige Beschwerde, die sich gegen die Ablehnung der Reststrafenaussetzung richtet, ist gemäß § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO statthaft. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO) und auch im Übrigen zulässig. Der Zulässigkeit steht der von dem Verurteilten erklärte Rechtsmittelverzicht nicht entgegen. Dieser ist unwirksam, wie der Senat bereits im Beschluss vom 23. April 2012 (Ws 41/12, juris), der dasselbe Formular betrifft, dargelegt hat. Dem Rechtsmittel fehlt darüber hinaus auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Denn die Reststrafe ist im Gegensatz zur Annahme der Staatsanwaltschaft Osnabrück noch nicht vollständig verbüßt (dazu 2), so dass der Beschwerdeführer ein Interesse daran hat, eine Strafaussetzung zur Bewährung zu erreichen.

2. Das Rechtsmittel ist jedoch unbegründet, weil nach Anrechnung der Zeitspanne, die der Beschwerdeführer im Maßregelvollzug verbracht hat, sowie von Untersuchungs- und Organisationshaft noch eine Reststrafe verbleibt, deren Aussetzung zur Bewährung die Strafvollstreckungskammer zutreffend abgelehnt hat.

Nach der von der Generalstaatsanwaltschaft zutreffend zitierten Senatsrechtsprechung ist in Fällen, bei denen neben einer Freiheitsstrafe die (nach § 67 Abs. 1 StGB vor der Freiheitsstrafe zu vollstreckende) Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet wurde, zunächst gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB die vor Rechtskraft vollzogene Untersuchungshaft anzurechnen. Sodann ist nach § 67 Abs. 4 StGB die Zeit des Vollzugs der Maßregel bis zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt zu berücksichtigen und schließlich das Restdrittel der Strafe um etwaige Organisationshaft zu kürzen (OLG Braunschweig, Beschluss vom 27.04.1999, Ws 123/99, juris, NStZ-RR 2000, 7 [Ls.]). Die Senatsrechtsprechung entspricht der herrschenden Auffassung (OLG Stuttgart, Beschluss vom 11.05.2001, 3 Ws 100/01, juris, Rn. 16 ff. = Justiz 2002, 63; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 22.06.2006, 1 Ws 217/06, juris, Rn. 3; OLG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20.11.2000, 1 Ws 534/00, juris, Rn. 5 ff.; OLG Nürnberg, Beschluss vom 28.01.1997, Ws 1116/96, juris, Rn. 44; OLG Hamm, NStZ-RR 1996, 381, 382 [2. Senat]; OLG Hamm, NStZ 1997, 54 [3. Senat]; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 17.10.2006, 1 Ws 332/06, juris, Rn. 18 ff. m. w. N. = StV 2007, 427). Der Senat hält an ihr weiterhin fest: Für die genannte Anrechnungsreihenfolge spricht zunächst der Umstand, dass die Untersuchungshaft gemäß § 51 Abs.1 S.1 StGB bereits mit Rechtskraft des in derselben Sache ergangenen Urteils angerechnet wird, was durch den zeitlich nachfolgenden Maßregelvollzug nicht mehr beseitigt werden kann (OLG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20.11.2000, 1 Ws 534/00, juris, Rn. 6; OLG Stuttgart, Beschluss vom 11.05.2001, 3 Ws 100/01, juris, Rn. 14; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 17.10.2006, 1 Ws 332/06, juris, Rn. 20). Ferner steht die Rechtsprechung im Einklang mit dem Zweck der Anrechnungsregel des § 67 Abs. 4 StGB. Der Gesetzgeber hat § 67 Abs. 4 StGB durch das 23. StÄG vom 13. April 1986 bewusst eingeführt, um die Therapiemotivation durch den Druck, den die Gefahr einer etwaigen Vollstreckung des Restdrittels erzeugt, zu fördern (OLG Stuttgart, Beschluss vom 11.05.2001, 3 Ws 100/01, juris, Rn. 12). Dieser Zweck würde oft nicht erreicht, wenn zunächst die in der Maßregel verbrachte Zeit und erst danach die verbüßte Untersuchungshaft anzurechnen wäre (OLG Stuttgart, Beschluss vom 11.05.2001, 3 Ws 100/01, juris, Rn. 17). Es ist auch verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn die Fachgerichte zunächst die in der Untersuchungshaft und erst danach die in der Maßregelvollzugseinrichtung verbrachte Zeit anrechnen (BVerfG, Beschluss vom 18.06.1997, 2 BvR 2422/96, juris, Rn. 7 = NStZ 1998, 77).

Dem Übermaßverbot, auf das sich die Gegenauffassung (OLG Düsseldorf, NStZ-RR 2006, 251; OLG Celle, Beschluss vom 20.08.1996, 3 Ws 196/96, juris, Rn. 8 = StV 1997, 477) maßgeblich stützt, trägt der Gesetzgeber aus Sicht des Senats dadurch hinreichend Rechnung, dass sich die verlängerte Höchstfrist der Unterbringung um den Zeitraum der bei Eintritt der Rechtskraft anzurechnenden Untersuchungshaft reduziert (§ 67 d Abs. 1 S. 3 StGB).

Danach sind noch 83 Tage offen, weil zunächst 254 Tage Untersuchungshaft auf die ersten beiden Strafdrittel (insgesamt 304 Tage) anzurechnen sind, so dass der Maßregelvollzug nur noch mit 50 Tagen berücksichtigt wird. Das Restdrittel von 152 Tagen reduziert sich lediglich um 69 Tage Organisationshaft.

Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist bei der im vorliegenden Fall unberücksichtigt gebliebenen Maßregelvollstreckungsdauer von 162 Tagen nicht verletzt, zumal dieser Zeitraum jenen von 2 Jahren, für den eine Maßregel verfassungsgemäß isoliert, also auch ohne Anrechnungsmöglichkeit, angeordnet werden darf (§ 67 d Abs. 1 S.1 StGB), erheblich unterschreitet.

Die Kammer hat die Reststrafe mit Recht nicht zur Bewährung ausgesetzt, weil dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht zu verantworten und deshalb abzulehnen ist (§ 57 Abs.1 S.1 Nr. 2 StGB). Wegen des Scheiterns der Therapie ist vielmehr mit weiteren Straftaten zu rechnen.

3. Die tenorierte Berichtigung ist geboten, weil die Kammer im Tenor und in den Gründen des angefochtenen Beschlusses versehentlich von einer Entscheidung des Landgerichts Osnabrück ausgegangen ist.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.