Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 29.09.2016, Az.: L 10 VE 44/11

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
29.09.2016
Aktenzeichen
L 10 VE 44/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2016, 34878
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2016:0929.L10VE44.11.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Lüneburg - 07.09.2011 - AZ: S 11 VG 5/07

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 7. September 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob bei der Klägerin Schädigungsfolgen festzustellen und ihr deswegen Beschädigtenrente nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren sind.

Die 1965 geborene Klägerin beantragte erstmals im November 2006 die Gewährung von Leistungen nach dem OEG. Sie gab hierbei an, im Alter von etwa 12 Jahren Opfer sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater geworden zu sein. Über mehrere Tage hin sei ihr Vater abends, nachdem sie bereits in ihrem Bett gelegen habe, in das Kinderzimmer gekommen und habe sie dann am Rücken, an den Brüsten, am Bauch, an den Oberschenkeln sowie an und in der Vagina gestreichelt. Ihr sei das sehr unangenehm gewesen. Sie habe sich geschämt. Sie habe nicht gewusst, was sie machen könne. Sie habe sich deshalb schlafend gestellt. Als Folge dessen leide sie unter erheblichen Problemen mit ihrer Weiblichkeit und mit der Sexualität, unter ständigen Brustschmerzen, Neurodermitis, Jucken auch im Genitalbereich, gestörter Eigenwahrnehmung, Ängsten, Panikattacken, Suchtverhalten und psychosomatischen Beschwerden. Ihr - während der Gerichtsverfahrens inzwischen verstorbener - Vater sei körperlich und psychisch krank und nicht in der Lage, eine Aussage zu machen. Ihre Mutter könne zu den Taten keine Aussage machen, weil sie nicht dabei gewesen sei.

Nach Beiziehung der über die Klägerin geführten Schwerbehindertenakte lehnte der Beklagte den Antrag auf Gewährung von Leistungen mit Bescheid vom 27. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Juli 2007 ab. Die behaupteten schädigenden Handlungen seien nicht bewiesen. Auch durch das Gutachten des Nervenarztes Dr. I., das für die Deutsche Rentenversicherung Bund erstattet worden sei, sei nicht bewiesen, dass die Klägerin Opfer von Gewalttaten geworden sei.

Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Lüneburg erhoben. Sie hat geltend gemacht, dass sie die Taten detailliert geschildert habe. Weil andere Beweismittel nicht existierten, müsse für die Beurteilung der maßgeblichen Frage von ihrem Vorbringen ausgegangen werden. Der Beweis des Gegenteils sei auch nicht etwa dadurch erbracht, dass sie weiterhin Kontakt zu dem Vater unterhalte. Die Klägerin hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass ihre Mutter ihren Vater einmal angezeigt habe. Das Sozialgericht hat daraufhin die Akte der Staatsanwaltschaft J. zum Aktenzeichen K. (betreffend ein Ermittlungsverfahren gegen den Vater der Klägerin wegen der Angabe der Mutter der Klägerin, sie sie in der Ehe von dem Vater der Klägerin vergewaltigt worden; diese Angabe hatte die Mutter der Klägerin im Zusammenhang mit einer anderweitigen Strafanzeige gegen den Vater der Kläger getätigt) beigezogen. Sodann hat es in dem Termin am 11. Dezember 2008 die Klägerin angehört und ihre Mutter als Zeugin vernommen. Schließlich hat das Sozialgericht die Akte des Rentenrechtsstreits zum Aktenzeichen S 1 R 13/08 des Sozialgerichts beigezogen.

Sodann hat das Sozialgericht von der Diplom-Psychologin L. ein Glaubhaftigkeitsgutachten erstatten lassen. In dem unter dem 11. Juli 2009 erstatteten Gutachten hat die Sachverständige auf eine Reihe von Bedenken gegen die Richtigkeit der Aussage der Klägerin hingewiesen und zusammenfassend die Auffassung vertreten, die Erlebnisbasiertheit der Schilderung der Klägerin sei nicht die wahrscheinlichste Grundlage ihrer Angaben.

Auf Antrag der Klägerin hat das Sozialgericht dann ein Gutachten von der Nervenärztin Dr. M. eingeholt. Diese Sachverständige hat in dem unter dem 11. August 2010 erstatteten Gutachten erneut auf einer Reihe von Bedenken gegen die Richtigkeit der Angaben der Klägerin hingewiesen. Zusammenfassend hat sie die Auffassung vertreten, es sei nicht auszuschließen, dass die Klägerin Opfer des von ihr behaupteten Missbrauchs geworden sei, weil ihre Aussage nicht zu widerlegen sei. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Aussage erlebnisbasiert sei, könne aber nicht festgestellt werden.

Auf die dagegen von der Klägerin vorgebrachten Einwendungen hin hat das Sozialgericht weitere Berichte und medizinische Unterlagen beigezogen und ergänzende Stellungnahmen der Sachverständigen Dr. M. vom 4. Mai und 16. Juni 2011 eingeholt. Diese hat im Ergebnis an ihrer Einschätzung festgehalten.

Mit Urteil vom 7. September 2011 das Sozialgericht die Klage als unbegründet abgewiesen. Es bestünden erhebliche Zweifel, ob die Klägerin Opfer der von ihr behaupteten sexuellen Übergriffe geworden sei. Zur Begründung hat das Sozialgericht sich insbesondere ausführlich auf die von den Sachverständigen L. und Dr. M. formulierten Bedenken bezogen.

Gegen das ihr am 14. September 2011 zugestellte Urteil wendet sich die am 14. Oktober 2011 bei dem Landessozialgericht eingegangene Berufung der Klägerin. Sie wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliche Vorbringen und weist ergänzend darauf hin, dass das Sozialgericht den im vorliegenden Fall anzuwendenden Beweismaßstab des §§ 15 KOVVfG verkannt habe. Danach genüge es, wenn die Richtigkeit der Angaben lediglich glaubhaft gemacht sei. Hierzu sei es unumgänglich, dass die Klägerin persönlich vor dem Gericht gehört werde.

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 7. September 2011 und den Bescheid des Beklagten vom 27. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Juli 2007 aufzuheben,

  2. 2.

    als Folgen des von ihr in den Jahren 1977 oder 1978 erlittenen sexuellen Missbrauchs eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine ängstliche und abhängige Persönlichkeitsstörung mit multiplen psychovegetativen und psychosomatischen Beschwerden sowie Phobien, Zwänge und Despressionen sowie eine dissoziative Symptomatik als Schädigungsfolgen festzustellen und ihr deswegen Beschädigtenrente nach den Vorschriften des OEG in Verbindung mit dem BVG zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 7. September 2011 zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil und seinen mit ihm überprüften Bescheid für zutreffend. In dieser Auffassung sieht er sich insbesondere durch das Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme bestätigt.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat der Senat von der Staatsanwaltschaft J. die Akte zum Aktenzeichen N. (betreffend ein Ermittlungsverfahren gegen den Vater der Klägerin wegen einer von der Mutter der Klägerin angezeigten Morddrohung ihr gegenüber) beigezogen und hieraus Kopien gefertigt. Im Termin der mündlichen Verhandlung hat der Senat die Klägerin angehört.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte des Beklagten und die Schwerbehindertenakte der Klägerin Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet.

Das Sozialgericht hat zutreffend festgestellt, dass der angefochtene Bescheid des Beklagten nicht rechtswidrig ist und die Klägerin demzufolge nicht in ihren Rechten verletzt. Auch nach Auffassung des Senats stehen der Klägerin weder die Anerkennung von Schädigungsfolgen noch die Gewährung von Beschädigtenrente nach den Vorschriften des OEG in Verbindung mit dem BVG zu. Der Senat kann sich nicht die Überzeugung bilden, dass die Voraussetzungen derartiger Ansprüche gegeben wären. Insbesondere kann der Senat nicht davon ausgehen, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinn von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geworden wäre.

Grundsätzlich bedarf die Feststellung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG des Vollbeweises. Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen. Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG, Urteil vom 24. November 2010, B 11 AL 35/09 R, zit. nach ). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 Rn. 3b mwN). Mit Recht gehen die Beteiligten davon aus, dass nach diesen Kriterien die von der Klägerin behaupteten Missbrauchshandlungen nicht nachgewiesen sind.

Davon ausnahmsweise sind nach Maßgabe des § 15 Satz 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers - hier also der Klägerin - , die sich auf mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen und Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG ist dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang - beweisende Unterlagen nie existiert haben und lediglich - keine Zeugen vorhanden sind (vgl. grundlegend BSG, Urteil vom 31. Mai 1989, Az.: 9 RVg 3/89, BSGE 65, 123, 125). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 Satz 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013, Az.: B 9 V 3/12 R, USK 2013-34).

Die formalen Voraussetzungen der Anwendung des § 15 KOVVfG liegen vor. Aussagebereite Tatzeugen existieren nicht. Die Mutter der Klägerin hat bereits gegenüber dem Sozialgericht erklärt, dass sie nicht Zeugin der behaupteten Taten gewesen ist. Der als Täter in Betracht kommende Vater der Klägerin ist inzwischen verstorben.

Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 Rn. 3d mwN), d.h. der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 Rn. 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Die bloße Möglichkeit einer Tatsache reicht hingegen nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs. 1 S. 1 SGG; vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 15).

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes können dem vorgenannten Maßstab aussagepsychologische Gutachten nur genügen, wenn sie unter speziellem Abstellen auf die Besonderheit des sozialen Entschädigungsrechtes nicht nur zu der Frage einer (sehr) hohen Wahrscheinlichkeit einer Erlebnisfundiertheit der Angaben Stellung nehmen, sondern insbesondere Antworten auf die Frage geben, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können (vgl. Urteil vom 17. April 2013, Az.: B 9 V 3/12 R, USK 2013-34). Allerdings hat der Senat durch umfangreiche Beweisaufnahme in anderer Sache geklärt, dass ein aussagepsychologisches Gutachten genau diese Frage nicht beantworten kann (vgl. Urteil des Senats vom 29. Januar 2015, L 10 VE 28/11, veröffentlicht in , Rn. 74 ff.). In ständiger Rechtsprechung geht der Senat deshalb davon aus, dass dem Gericht die Beantwortung der vorgenannten Fragestellung obliegt und dass es hierzu alle Umstände des Einzelfalles - einschließlich der Ergebnisse etwaiger aussagepsychologischer und sonstiger Gutachten - abzuwägen hat.

Diese Abwägung führt im vorliegenden Fall nicht dazu, dass die Angaben der Klägerin bezüglich der Missbrauchshandlungen in ihrem 13. oder 14. Lebensjahr auch nur mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden und deshalb der Entscheidung des Gerichts zugrunde gelegt werden können. Als Ergebnis der Abwägung kann sich der Senat nicht die Überzeugung bilden, dass von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten - die Angaben der Klägerin sind erlebnisfundiert oder sie sind es nicht - das Vorliegen gerade der zuerst genannten Möglichkeit relativ am wahrscheinlichsten wäre.

Die Erlebnisfundiertheit der Angaben der Klägerin ist deshalb nicht relativ am wahrscheinlichsten, weil gegen sie wesentlich mehr Aspekte sprechen, als für sie.

Gegen eine Erlebnisfundiertheit spricht der Umstand, dass nach der Einschätzung der Sachverständigen L. bei der Klägerin eine Trennung zwischen Gedächtnisinhalten und nachfolgender Bewertung jedenfalls im Hinblick auf die streitigen Angaben zu dem behaupteten Missbrauch nicht existiert. Vielmehr hat sie sich Erklärungen für ihre fortdauernden Probleme erarbeitet, die eine vorwiegend konstruktive Darstellung des angeblich Erlebten durchaus ermöglichen könnten. Die Sachverständige L. hat deshalb die spezifische Aussagetüchtigkeit der Klägerin speziell für sexuelle Übergriffe für eingeschränkt gehalten. Die Sachverständige Dr. M. hat im selben Zusammenhang auf eine Instrumentalisierung des Ereignisses hingewiesen und deshalb Bedenken an der Erlebnisfundiertheit der Angaben der Klägerin geäußert.

Die Sachverständigen haben auch übereinstimmend Bedenken daran geäußert, dass eine vollständige Verdrängung der bei nachträglicher Betrachtung für die Klägerin doch bedeutsamen Ereignisse für einen relativ langen Zeitraum überhaupt möglich ist. Die Sachverständige L. hat das insgesamt für weniger nachvollziehbar gehalten und in diesem Zusammenhang ergänzend darauf hingewiesen, dass die Klägerin auch in der Zeit vor der angeblichen Rückerinnerung an den Missbrauch bereits massive Probleme mit sich und dem Verhältnis zu ihrem Vater hatte, was ohne Rückerinnerung an die behaupteten Ereignisse zu dieser Zeit schwer erklärbar ist. Die Sachverständige L. hat deshalb die Aussageentstehung für nicht unproblematisch gehalten. Noch ausführlicher hat sich in diesem Zusammenhang die Sachverständige Dr. M. mit der Entstehung der Erinnerung auseinandergesetzt und diese letztlich aus drei einander ergänzenden Gründen für sehr problematisch gehalten. Einerseits seien derartige zunächst vergessene später wiedergewonnene Erinnerungen häufig problematisch. Besonders problematisch sei dieser Vorgang, wenn es sich um einen plötzliches Wiedererinnern in psychotherapeutischen Kontext gehandelt hat, so wie im Fall der Klägerin. Weiter besonders problematisch sei in einer solchen Situation dann der Umstand, dass eine plötzliche und vollständige Erinnerung auftrete, die sich in der Folgezeit nicht weiter entwickle.

Die Sachverständigen L. und Dr. M. haben darüber hinaus übereinstimmend darauf hingewiesen, dass die Angaben der Klägerin bezüglich des behaupteten Missbrauchs wenig detailreich seien und wie ausgestanzt wirkten. Die Angaben seien eher schematisch. Erinnerungen an Ereignisse unmittelbar vor oder nach den behaupteten Ereignissen fehlten. Eine biografische Einordnung sei nicht möglich. Die Klägerin habe darüber hinaus sowohl die nach ihren Angaben über einen Zeitraum von etwa zwei Wochen anhaltenden Missbrauchshandlungen als auch ihr Reaktionsverhalten als jeweils völlig identisch dargestellt. Die Sachverständige Dr. M. hat in Bezug auf die Detailarmut der Schilderung der Klägerin insbesondere angemerkt, dass dies im Vergleich zu der sonstigen überaus detailreichen Redeweise der Klägerin sehr auffällig sei.

Die Sachverständige L. hat auf eine problematische motivationale Ausgangssituation im Zusammenhang mit dem Entstehen der Erinnerung hingewiesen. Hieran hat sie Zweifel an der Erlebnisfundiertheit der Aussage festgemacht.

Die Sachverständige Dr. M. hat darüber hinaus auf gewisse inhaltliche Widersprüche sowie auch darauf hingewiesen, dass die Klägerin ihr gegenüber angegeben hat, vielleicht einmal gegenüber dem Vater die Problematik des Missbrauchs angesprochen zu haben. Sicher sei sie sich insoweit jedoch nicht. Vielleicht handle es sich auch nur um Fantasie-Erinnerung. Diese bei der Klägerin fehlende Unterscheidungsfähigkeit hinsichtlich des gegenüber dem angeschuldigten Missbrauch deutlich jüngeren Ereignisses eines Gespräches mit dem Vater weckt zugleich Zweifel hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Erinnerung an die älteren Ereignisse.

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Schilderungen der Klägerin auch hinsichtlich des Wiederauftretens der Erinnerung nicht konsistent sind. Sie hat gegenüber der Sachverständigen L. angegeben, die Bilder seien ihr im Rahmen einer Rehabilitation im Jahr 1990 gekommen, als sie ihren Sohn ins Bett gebracht habe. Mit Rücksicht darauf, dass der Sohn erst Ende 1992 geboren ist, kann diese Angabe der Klägerin nicht zutreffen. Nicht zutreffen kann auch eine etwa denkbare andere Variante, dass die Erinnerung etwa im Rahmen eines Rehabilitationsverfahrens im Jahr 1996 aufgetreten wäre, bei dem sie ihren Sohn dabei hatte. Denn die Klägerin hat ausweislich der aktenkundigen Unterlagen bereits im Zusammenhang mit der Schwangerschaft im Jahr 1992 von Missbrauch berichtet. Zudem macht sie inzwischen vehement geltend, dass die Erinnerung bereits in dem Heilverfahren im Jahr 1990 aufgetreten sei. Dazu passend, zugleich aber im Widerspruch zu der Erklärung gegenüber der Sachverständigen L. stehend könnte die Angabe der Klägerin gegenüber der Sachverständigen Dr. M. sein, wonach die Erinnerung im Rahmen eines Einzelgespräches nach einer KBT-Gruppensitzung aufgetaucht sei.

Für diese Annahme spricht auch der Umstand, dass in dem Entlassungsbericht über das Heilverfahren im Jahr 1990 davon die Rede ist, die Klägerin habe "traumatisches Material angeboten". Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang aber, dass zugleich in dem Entlassungsbericht darauf hingewiesen wird, dass das Anbieten des traumatischen Materials "ohne emotionale Beteiligung" geschehen sei. Aus der Sicht des Senates spricht Letzteres eher gegen als für eine Erlebnisbasiertheit der Schilderungen während des Heilverfahrens. Soweit die Klägerin im Übrigen im Termin der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erstmals behauptet hat, die Erinnerungen seien sukzessive bei den mehreren von ihr im Verfahren genannten Anlässen aufgetreten, widerspricht dies ihren früheren Angaben gegenüber den Sachverständigen. Der Senat wertet dies als Reaktion der Klägerin auf die von der Sachverständigen Dr. M. geäußerte Auffassung, die Frage einer Erlebnisbasiertheit sei insbesondere dann besonders problematisch, wenn Erinnerungen plötzlich und sofort vollständig auftauchten.

Für die Erlebnisbasiertheit der Angaben der Klägerin spricht hingegen lediglich die Konstanz der die behaupteten Missbrauchserlebnisse unmittelbar betreffenden Angaben. Die Sachverständige L. hat in diesem Zusammenhang aber darauf hingewiesen, dass sich der Wert dieses Gesichtspunktes dadurch relativiert, dass die Klägerin die Geschehnisse bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt - jedenfalls vor der hier in Rede stehenden Antragstellung - schriftlich niedergelegt hat und dass sie diese schriftlichen Aufzeichnungen als Gedächtnisstütze verwenden kann.

Weder für noch gegen die Erlebnisbasiertheit der Angaben der Klägerin spricht die Einschätzung der Sachverständigen L., dass bei der Klägerin trotz der Borderline-Störung keine grundsätzliche Unfähigkeit zu wirksamer Wirklichkeitskontrolle bestehe. Dasselbe gilt auch hinsichtlich der Einschätzung der Sachverständigen L., dass eine zuverlässige Unterscheidung der Quellen der Entstehung der Erinnerung aufgrund der langjährigen und wiederholten therapeutischen Bearbeitung nicht mehr möglich sei. Auch die Einschätzung der Sachverständigen L., dass die Ambivalenz des Verhältnisses der Klägerin zu ihrem Vater nicht gegen die Stimmigkeit oder Erlebnisbasiertheit ihrer Angaben spreche, vermag Letztere andererseits aber auch nicht zu stützen. Auch die Einschätzung der Sachverständigen Dr. M., dass bei der Klägerin keine organisch bedingten kognitiven Beeinträchtigungen bestünden, kann weder als Argument für noch gegen die Erlebnisbasiertheit der Angaben der Klägerin dienen.

Aus der beigezogenen Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft J. ergeben sich keine für oder gegen die Erlebnisbasiertheit der Angaben der Klägerin sprechenden Erkenntnisse.

Entgegen der Auffassung der Klägerin sind statistische Überlegungen kein besonders starkes Argument für eine Erlebnisbasiertheit ihrer Angaben. Hierbei ist dem Senat bereits aus anderen Verfahren bekannt, dass in der medizinischen Literatur gelegentlich die Auffassung vertreten wird, dass das Vorliegen bestimmter Gesundheitsstörungen in einem hohen Prozentsatz - insoweit werden Prozentsätze von um oder über 80 v.H. genannt - mit sexuellem Missbrauch verknüpft sei. Insoweit ist zunächst zu unterscheiden. Soweit die den Literaturäußerungen zugrundeliegenden Erhebungen tragfähig sind, was der Senat nicht beurteilen kann, so folgt daraus zunächst lediglich, dass ein sehr hoher Anteil von an bestimmten Gesundheitsstörungen erkrankten Personen sich dahin äußern, dass sie sexuellen Missbrauch erlebt haben. Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Klägerin eine solche Behauptung geäußert hat, so dass insoweit das Heranziehen einer statistischen Wahrscheinlichkeit nicht erforderlich ist. Von dieser Frage zu unterscheiden ist allerdings die Frage, ob die Äußerungen über sexuellen Missbrauch erlebnisbasiert sind, oder nicht. Gerade der vorliegende Fall gibt Anlass, diese Frage zu prüfen. Soweit für den Senat nach den ihm zugänglichen Informationen erkennbar, ist die Frage bisher nicht Gegenstand statistischer Erhebungen gewesen, wie groß bei an bestimmten Gesundheitsstörungen Erkrankter der jeweilige Anteil von angegebenem sexuellen Missbrauch mit bzw. ohne Erlebnisbezug ist. Dass diese Frage durchaus nicht nur von theoretischer Bedeutung ist, wird aus der medizinischen Literatur deutlich: Högenauer (Neue Aspekte in der Beurteilung psychoreaktiver und neuropsychologischer Störungen als Leistungsgrund - aus der Sicht der Gutachter des versorgungsärztlichen Dienstes, Der Medizinische Sachverständige 2006, 102) berichtet von einer Dokumentation mehrerer Fälle falscher Erinnerungen. Solange das Auftreten falscher Erinnerungen als möglich anzusehen, ihr Anteil aber nicht zuverlässig quantifizierbar ist, lassen sich aus der Sicht des Senates mit statistischen Erwägungen ohnehin keine verlässlichen Schlussfolgerungen über die Wahrscheinlichkeit des - tatsächlichen - Vorliegens sexuellen Missbrauchs ziehen.

Selbst soweit sich eine konkrete Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen sexuellen Missbrauchs bei Bestehen bestimmter Gesundheitsstörungen bestimmen lassen würde, würde allein darauf gestützt eine Glaubhaftigkeit des Vorliegens von sexuellem Missbrauch nicht herleiten lassen. Wenn etwa erwiesen wäre, dass bei einer bestimmten Krankheit in 80 v.H. der Fälle sexueller Missbrauch vorgelegen hat, so würde die statistische Wahrscheinlichkeit von 80 v.H. gedanklich für alle Erkrankten gelten müssen, also auch für diejenigen, bei denen sexueller Missbrauch in Wahrheit nicht vorgelegen hat. Die rein statistische Wahrscheinlichkeit müsste sogar für diejenigen Erkrankten gelten, die einen sexuellen Missbrauch gar nicht behaupten. Würden statistische Erwägungen wesentlichen Einfluss auf die Frage der Glaubhaftigkeit einer Schilderung haben, so müsste bei allen an der angenommenen Erkrankung Leidenden das Vorliegen eines sexuellen Missbrauches als glaubhaft gemacht angesehen werden, die zu einer halbwegs schlüssigen Schilderung wenigstens eines Ereignisses in der Lage sind. Dies müsste trotz der unbestreitbaren Erkenntnis gelten, dass bei 20 v.H. der Erkrankten ein Missbrauch aber gerade nicht vorgelegen hat. Dass der Gesetzgeber eine so weitreichende Beweiserleichterung gewollt hätte, ist nicht ersichtlich.

Ansätze für eine weitere Beweisaufnahme zu den behaupteten Geschehnissen sieht der Senat nicht. Solche sind auch von der Klägerin nicht aufgezeigt worden. Der Senat lässt es im Übrigen ausdrücklich dahingestellt, ob eine Anhörung der Klägerin vor dem erkennenden Gericht in solchen Fällen zwingend erforderlich ist, in denen - wie vorliegend - aus außerhalb ihres Aussageverhaltens liegenden Gründen Zweifel an der Erlebnisbasiertheit ihrer Angaben gerechtfertigt sind. Solche Zweifel sind ihrer Natur nach durch einen persönlichen Eindruck von der Klägerin schwerlich zu beseitigen oder auch nur zu erschüttern.

Den Zweifeln, ob die behaupteten Taten tatsächlich vor oder nach Vollendung des 14. Lebensjahres der Klägerin geschehen sind, muss der Senat nicht weiter nachgehen. Obwohl die Frage der zeitlichen Einordnung für die rechtliche Bewertung der Taten von entscheidender Bedeutung sein könnte, kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreites darauf nicht an, weil die Taten an sich bereits nicht glaubhaft gemacht sind. Aus diesem Grund muss der Senat auch die Frage nicht prüfen, welche der von der Klägerin behaupteten Gesundheitsstörungen womöglich im Rechtssinn durch die behaupteten Taten verursacht worden sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183,193 SGG.

Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.