Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 30.01.2020, Az.: L 10 VE 63/16

Feststellung von Schädigungsfolgen nach dem OEG; Feststellung eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Vollbeweis; Glaubhaftmachung einer behaupteten Tatsache; Relative Wahrscheinlichkeit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
30.01.2020
Aktenzeichen
L 10 VE 63/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 24032
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Lüneburg - 23.08.2016 - AZ: S 11 VE 2/16

Redaktioneller Leitsatz

1. Die Glaubhaftmachung einer behaupteten Tatsache ist durch seine Relativität gekennzeichnet; es muss nicht absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen.

2. Ausreichend ist vielmehr, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist.

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 23. August 2016 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung von Schädigungsfolgen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).

Die 1973 geborene Klägerin beantragte am 25. April 2013 bei dem Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG mit der Begründung, in verschiedenen Nächten in den Jahren 1983/1984 im Doppelstockbett ihres Kinderzimmers in Greifswald von ihrem Onkel mütterlicherseits, I., wiederkehrend sexuell missbraucht worden zu sein. Er sei nachts in das Zimmer von ihr und ihrem Bruder gekommen und sei mit Händen - oft mit beiden Händen gleichzeitig in beide Körperöffnungen - und Zunge in ihre Genitalien eingedrungen, was für sie sehr schmerzhaft gewesen sei. Er habe sie gewürgt und schmerzhaft ihre Beine auseinandergedrückt, habe gedroht, sie zu erwürgen, wenn sie etwas sage. Sie sei mit Samen bespritzt und an den Haaren gezogen worden. Ihr sei bis heute nicht bekannt, ob ihr Bruder, der 7-jährig in dem Bett über ihr gelegen habe, etwas darüber wisse. Sie sei damals 10 bis 11 Jahre gewesen. Ein Ermittlungsverfahren bei der Staatsanwaltschaft Stralsund zum Aktenzeichen 526 Js 10240/13 sei wegen Verjährung der Tat nicht durchgeführt worden. Bei ihr sei eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert worden, ihren Alltag könne sie nur sehr schwer bewältigen. Sie leide täglich an schweren Kopfschmerzen mit Erbrechen, Herzrasen, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen und plötzlichen Ohnmachtsanfällen, für die es keine medizinische Erklärung gäbe.

Das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie leitete den OEG-Antrag an das Landesamt für Gesundheit und Soziales Mecklenburg-Vorpommern zur weiteren Bearbeitung weiter. Dieses zog medizinische Unterlagen betreffend die Klägerin sowie die Akten der Staatsanwaltschaft Stralsund bei. Darüber hinaus veranlasste es eine schriftliche Stellungnahme des J., der unter dem 16. August 2014 ausführte, im angegebenen Tatzeitraum ca. 15-16 Jahre alt gewesen zu sein. Zwar sei es zutreffend, dass er seine Schwester - die Mutter der Klägerin -, ihren Partner und ihre Kinder hin und wieder besucht habe. Damals habe seine Schwester in einer 2 ½-Raumwohnung gewohnt. Nach Feierabend und zum Frühstück sei immer die gesamte Familie im Haus gewesen. Ihm sei unerklärlich, wie der von der Klägerin behauptete, angeblich durch ihn verübte sexuelle Missbrauch unter diesen Umständen hätte unbemerkt bleiben können. Ein sexueller Kontakt oder ein Missbrauch habe nicht stattgefunden. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales Mecklenburg-Vorpommern lehnte mit Bescheid vom 9. Dezember 2014 den Antrag der Klägerin mit der Begründung ab, dass das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen täglichen Angriffs weder nachgewiesen, noch glaubhaft gemacht worden sei. Den gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch der Klägerin wies es mit Widerspruchsbescheid vom 4. Januar 2016 zurück.

Dagegen hat die Klägerin am 8. Februar 2016 Klage beim Sozialgericht (SG) Lüneburg erhoben, mit der sie die Gewährung von Beschädigtenrente begehrt hat. Zur Begründung hat sie auf die bei ihr gestellten Diagnosen verwiesen sowie auf den Umstand, dass es für sie wegen der Verjährungsfristen strafrechtlich und zivilrechtlich "nichts zu gewinnen" gegeben habe. Die Strafanzeige sei nur verständlich, wenn die Anzeige als Teil der Aufarbeitung der Tat verstanden werde. Das SG hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts einen Befundbericht der behandelnden Ärztin der Klägerin beigezogen und sodann in dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 23. August 2016 die Zeugen K., I. und L. vernommen. Sodann hat das SG mit Urteil vom selben Tage die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass das Vorliegen eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG auf die Klägerin nicht glaubhaft gemacht worden sei. Stattdessen lasse sich nicht ausschließen, dass sich bei der Klägerin - zum Beispiel aufgrund einer psychischen Erkrankung sonstiger Genese - ohne tatsächliche Erlebnisbasis der irrige Eindruck verfestigt habe, in der Kindheit Opfer sexueller Übergriffe geworden zu sein. Dieser Verdacht ergebe sich bereits aus den Schilderungen der Klägerin zum Ablauf der Missbrauchhandlungen selbst, der Tatsache, dass die Klägerin gegen ihren Onkel erst ca. 30 Jahre später eine Strafanzeige erstattet habe, sowie der Tatsache, dass sich die von der Klägerin auf die vorgebrachten Handlungen zurückgeführten psychischen Beschwerden nach ihren eigenen Angaben erst im Jahre 2011 plötzlich entwickelt hätten. Allein die große Zeitspanne von mehreren Jahrzehnten zwischen den behaupteten Übergriffen und der Herausbildung der geltend gemachten Gesundheitsstörungen lasse es fraglich erscheinen, ob letztere ihre Ursache tatsächlich in den von der Klägerin geschilderten Geschehnissen hätten.

Gegen das ihr am 2. September 2016 zugestellte Urteil richtet sich die am 4. Oktober 2016 - dem Dienstag nach dem Tag der Deutschen Einheit - eingegangene Berufung der Klägerin. Sie weist darauf hin, dass es bei Fällen sexueller Gewalt geradezu typisch sei, dass die Opfer über Jahre oder Jahrzehnte hinweg benötigten, um sich zu offenbaren; ebenso sei es typisch, dass ein bestimmtes Ereignis die Taten plötzlich wieder "hochkommen" lasse. Die zwischen der Tat und dem Wiedererinnern derselben liegende lange Zeitspanne spreche deshalb für die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Taten genauso, wie von ihr behauptet, zugetragen hätten. Zu ihrer Mutter bestehe kein gutes Verhältnis, diese habe sie während ihrer Kindheit gezüchtigt, den Bruder stark bevorzugt sowie den Kontakt zum Vater unterbunden. Heute bestehe eine wirtschaftliche Abhängigkeit ihres Bruders von der Mutter. In der mündlichen Verhandlung vor dem SG habe der Täter falsche Tatsachen behauptet, seine Behauptungen seien erdacht, um die eigene Unschuld zu bestärken. Zwischen dem Täter und ihr habe es außer den Taten keinerlei Kontakt gegeben, weder sporadisch, noch regelmäßig. Außerdem habe ihr Lebensgefährte ausgesagt, dass ihre Mutter am 20. Mai 2015 ihm gegenüber bestätigt habe, dass sie, die Klägerin, ihr über sexuelle Übergriffe vor ca. 15 Jahren berichtet habe. Dieser Umstand sei weder weiter aufgeklärt, noch im Urteil erwähnt worden. Insbesondere sei ihre Mutter nicht als Zeugin vernommen worden. Diese könne jedoch zentrale Punkte weiter aufklären. Im Übrigen habe ihre Psychotherapeutin Dr. M. bestätigt, dass die Ursachen des bei ihr vorliegenden Krankheitsbildes in den sexuellen Übergriffen zu sehen seien.

Aktuell sei sie nicht bedürftig i.S.d. § 10 a Abs. 3 OEG. Deshalb begehre sie mit dem vorliegenden Verfahren allein die Feststellung von Schädigungsfolgen.

Die Klägerin beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 23. August 2016 sowie den Bescheid des Beklagten vom 9. Dezember 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Januar 2016 aufzuheben, 2. 3. den Beklagten zu verurteilen, bei ihr wegen des durch ihren Onkel, J., erlittenen sexuellen Missbrauchs in ihrer Kindheit eine posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge sowie einen darauf beruhenden GdS in Höhe von mindestens 50 festzustellen.

Das beklagte Land Niedersachsen beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 23. August 2016 zurückzuweisen.

Es hält das erstinstanzliche Urteil sowie den mit ihm überprüften Bescheid für zutreffend.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Beiziehung der Vorgänge der Staatsanwaltschaft Lüneburg (NZS 1109 Js 35861/16) sowie der Generalstaatsanwaltschaft Celle (2 ZS 239/17). Darüber hinaus hat er eine schriftliche Zeugenaussage von der Mutter der Klägerin, N., eingeholt sowie diese Zeugin im Wege der Rechtshilfe vom Sozialgericht Stralsund vernehmen lassen. Die Vernehmung dieser Zeugin hat am 29. Mai 2019 stattgefunden.

Wegen der Ergebnisse der Beweisaufnahme sowie der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Mecklenburg-Vorpommern Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig und insbesondere fristgerecht erhoben. Sie ist jedoch nicht begründet.

Das beklagte Land Niedersachsen ist passivlegitimiert. Durch die Neuregelung des § 4 Abs. 1 OEG seit dem 20. Dezember 2019 und den damit verbundenen Wechsel vom Tatort- zum Wohnortprinzip ist ein gesetzlicher Beteiligtenwechsel auf Beklagtenseite dergestalt eingetreten, dass nunmehr das Land Niedersachsen zutreffender Beklagter ist.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid des Landes Mecklenburg-Vorpommerns ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin demzufolge nicht in ihren Rechten. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Feststellung von Schädigungsfolgen zu.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Klägerin in den Jahren 1983/1984 im Doppelstockbett ihres Kinderzimmers von ihrem Onkel, I., wiederkehrend sexuell missbraucht und damit Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG geworden ist.

1. Grundsätzlich bedarf die Feststellung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG des Vollbeweises. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG auch im Opferentschädigungsrecht anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf mit der Schädigung im Zusammenhang stehende Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen und Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl. grundlegend BSG, Urteil vom 31. Mai 1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 Satz 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013, Az.: B 9 V 3/12 R).

Selbst dann, wenn unter Zugrundelegung dieser Grundsätze der erleichterte Beweismaßstab des § 15 KOVVfG angewendet werden könnte - wovon der Senat aber ausdrücklich nicht ausgeht, vgl. dazu 2.) - wäre das Vorliegen eines sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch ihren Onkel zur Überzeugung des Senats nicht glaubhaft gemacht i.S.d. § 15 KOVVfG.

Glaubhaftmachung i.S. des § 15 Satz 1 KOVVfG bedeutet die Darlegung einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Auflage, 2017, § 128, RdNr. 3d m.w.N.), d.h. der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 14 f m.w.N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Auflage, 2017, § 128, RdNr. 3d m.w.N.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Die bloße Möglichkeit einer Tatsache reicht dagegen nicht aus, um die Beweisanforderung zu erfüllen.

Die diesbezüglichen Tatschilderungen der Klägerin sind schon aus sich heraus nicht glaubhaft (a) und konnten außerdem von den Zeugen nicht bestätigt werden (b).

a) Zu Recht hat bereits das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass sich die Klägerin nach ihrer eigenen Darstellung erstmals im Jahr 2011 - nach einem mit ihrer Mutter geführten Telefonat - an den von ihr behaupteten Missbrauch erinnert hat. Hierauf basierend hat es zu Recht ausgeführt, dass es nicht relativ am wahrscheinlichsten erscheine, dass die behaupteten Missbrauchshandlungen durch den Onkel stattgefunden hätten, denn es lasse sich nicht ausschließen, dass sich bei der Klägerin ohne tatsächliche Erlebnisbasis der irrige Eindruck verfestigt habe, in der Kindheit Opfer sexueller Übergriffe geworden zu sein. Mit ihrer Berufungsbegründung macht die Klägerin nunmehr geltend, dass gerade bei Typ II-Traumatisierungen das mit größerem zeitlichem Abstand und nur sukzessive Äußern der erlittenen Taten typisch sei und gerade für die Wahrscheinlichkeit spreche, dass die behaupteten Taten stattgefunden haben. Dieses Phänomen des "späten Wiedererinnerns" ist dem Senat aus einer Vielzahl ähnlich gelagerter Streitsachen bekannt. Zugleich ist ihm auch bekannt, dass Therapeuten immer wieder auf diesen Umstand hinweisen. Davon zu unterscheiden ist nach Auffassung des Senats aber die Frage, wie die Erlebnisbasiertheit solcher spät und sukzessive geäußerten Taten zu beurteilen ist. Nach Kenntnis des Senates geht die ganz herrschende Lehrmeinung im Bereich der Gedächtnisforschung davon aus, dass späte und sukzessive Tatschilderungen eher Zweifel an der Erlebnisbasiertheit begründen. Diese Erkenntnis hat der Senat zum Gegenstand seiner ständigen Rechtsprechung gemacht und hält hieran auch weiterhin fest. Die Annahme, Erinnerungen an traumatische Ereignisse würden sich generell von anderen Erinnerungen qualitativ dahingehend unterscheiden, das sie gar nicht oder allenfalls fragmentiert erinnert werden könnten, findet durch empirische Untersuchungen keine systematische Unterstützung; im Gegenteil: Traumatische Erlebnisse können i.d.R. besonders langfristig erinnert werden (vgl. Volbert/Steller in: Venzlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 6. Auflage 2015, S. 697) und generell ist davon auszugehen, dass emotional bedeutsame Ereignisse besonders dauerhaft behalten und in der Regel auch explizit erinnert werden können (vgl. auch: Julia Shaw, Das trügerische Gedächtnis, S. 186, 187). Eine traumabedingte Amnesie ist jedenfalls sicherlich nicht die typische Folge eines stressreichen Erlebnisses (vgl. Volbert in: Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S. 98, so auch schon Senatsurteil vom 21. September 2017, L 10 VE 25/14 veröffentlicht in juris). Substanzielle Beeinträchtigungen der expliziten Erinnerung, die deutlich über normale Vergessensprozesse hinausgehen, treten als Folge von traumatischen Ereignissen insbesondere auch bei PTBS-Patientin in der Regel nicht auf (vgl. Volbert/Steller in: Venzlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 6.Auflage 2015, S. 697). Die Auffassung, dass traumatische Erinnerungen im Gegensatz zu alltäglichen Erinnerungen in einer reproduktiven, nonrekonstruktiven Weise bis zur Entdeckung der Erinnerung bzw. der Möglichkeit der weiteren Verarbeitung erhalten bleiben, steht im Widerspruch zu gedächtnispsychologischen Erkenntnissen, nach denen durchgängig gezeigt wurde, dass Erinnern ein konstruktiver Prozess ist, bei dem nicht nur gespeicherte Bilder aktiviert werden (vgl. Volbert in: Beurteilung von Aussagen über Traumata, S. 92). Zeitweise nicht zugängliche Erinnerungen können somit gerade nicht als zuverlässig eingestuft werden: Menschen neigen dazu, Informationen ihren eigenen Schemata hinzuzufügen. Sind Menschen intrusiven, irritierenden, nicht einzuordnenden fragmentarischen Erinnerungen ausgesetzt, ist zu vermuten, dass sie diese fragmentarischen Erinnerungen mit Schemata versehen, unabhängig davon, ob die so einer fragmentierten Erinnerung zugeordnete Bedeutung mit dem Ursprungserlebnis etwas zu tun hat oder nicht. Solche "Erinnerungen" können richtig sein, aber auch völlig falsch. Unter therapeutischen Gesichtspunkten können auch wenig mit der historischen Wahrheit korrespondierende Erinnerungskonstruktionen ihre Funktion erfüllen, ein Beleg für die Zuverlässigkeit der Erinnerung ergibt sich daraus nicht (Volbert in: Beurteilung von Aussagen über Traumata, S. 92). Bei der Wiederherstellung von Erinnerungen im wirklichen Leben ist nur eins klar: Wenn keine unanfechtbare Bestätigung vorliegt, kann ein Außenstehender nicht eindeutig sagen, ob eine bestimmte Erinnerung echt oder fabriziert ist (Volbert in: Beurteilung von Aussagen über Traumata, S. 92). Es gibt bislang keine Methode, die eine Differenzierung zwischen suggerierten, subjektiv aber als wirklich erachteten und tatsächlich erlebnisfundierten Aussagen erlaubt. Dies liegt u.a. darin begründet, dass lediglich vorgestellte, imaginierte bzw. intern generierte Pseudoerinnerungen nach denselben Organisationsprinzipien im menschlichen Gedächtnis repräsentiert sein können wie Erlebnisse in der Wachwirklichkeit. Folglich tragen die entsprechend rekonstruierten Gedächtnisinhalte bzw. Aussagen ein ähnliches Merkmalsgepräge und sind u.U. weder durch die betroffene Person selbst, noch durch Dritte hinsichtlich ihres Wirklichkeitsstatus unterscheidbar (vgl. Greuel: Was ist Glaubhaftigkeitsbegutachtung (nicht)? In: Themenheft Glaubhaftigkeitsbegutachtung der DGfPI, Heft 2 2009, S. 78). Zum anderen wird mit der Berufung geltend gemacht, dass aus der bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörung darauf zu schließen sei, dass sie Opfer von Gewalttaten geworden sein müsse. Auch dieser Gesichtspunkt ist dem Senat aus einer Vielzahl von Fällen bekannt. Die ständige Rechtsprechung des Senates geht auf der Grundlage der herrschenden medizinischen Lehrmeinung und aus juristischen Erwägungen heraus aber in die entgegengesetzte Richtung, dass nämlich aus dem Vorliegen bestimmter Gesundheitsstörungen nicht auf konkrete Ursachen geschlossen werden kann (vgl. u.a. Urteil des Senats vom 29. September 2016, L 10 VE 44/11, vgl. hierzu auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. Februar 2018, L 13 VG 26/14).

b) Keiner der im Verfahren gehörten Zeugen - mit Ausnahme des Zeugen L., hierzu unten - hat die Behauptungen der Klägerin stützen können. Besonderes Gewicht misst der Senat dabei der Aussage des Bruders der Klägerin, dem Zeugen K., bei. Die Klägerin hat insoweit im Verfahren wiederholt darauf hingewiesen, dass der sexuelle Missbrauch durch ihren Onkel in einem Doppelstockbett stattgefunden habe. Dabei habe sie - die Klägerin - im unteren Bett (vgl. Antrag vom 30. Juli 2013, Protokoll der Polizeiinspektion Lüneburg/Lüchow-Dannenberg/Uelzen vom 29. Mai 2013) oder auch im oberen Bett gelegen, während ihr Bruder, der Zeuge K., zeitgleich in dem anderen (also jeweils oberen bzw. unteren) Bett gelegen habe. Dabei soll der Missbrauch "unzählige Male" bzw. "wirklich sehr oft" stattgefunden haben. Hierzu befragt, hat der Zeuge K. in der mündlichen Verhandlung vor dem SG bestätigt, mit der Klägerin dasselbe Kinderzimmer genutzt zu haben. Er hat auch bestätigt, dass sich dort Doppelstockbetten befunden haben. Im Übrigen hat dieser Zeuge zu den gegenüber dem Onkel der Klägerin erhobenen Vorwürfen keine Angaben tätigen können, weil er insoweit keine entsprechenden Beobachtungen gemacht hat. Mehr noch: Der Zeuge hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nach seiner Auffassung die Vorwürfe der Klägerin aus der Luft gegriffen sind.

Damit aber ergeben sich durchgreifende Zweifel an der Behauptung der Klägerin, sexuell in der von ihr behaupteten Weise und Frequenz missbraucht worden zu sein. Der Senat hält es für ausgeschlossen, dass eine dritte Person - zumal ein 15 bis 16jähriger Jugendlicher - ein Doppelstockbett, noch dazu (auch) das obere Bett, mitbenutzen kann, ohne, dass dies von anderen in diesem Bett liegenden Kindern unbemerkt bliebe. Dies insbesondere unter Berücksichtigung der Behauptung, dass die Ereignisse "unzählige Male" bzw. "wirklich sehr oft" stattgefunden haben und der Onkel im Bett erhebliche Aktivitäten (Eindringen mit Händen und Zunge in Körperöffnungen und Genitalien, Würgen der Klägerin, Auseinanderdrücken der Beine, Bespritzen mit Samen, Ziehen an den Haaren) entfaltet haben soll, also dort nicht etwa reglos verharrt ist. Auch soll der Onkel mit der Klägerin gesprochen haben ("er habe gedroht, sie zu erwürgen, wenn sie etwas sage") und er hat, um zu der Klägerin im oberen Bett gelangen zu können, an dem Bett hochklettern müssen. Aus dem Vorgesagten wird deutlich, dass der behauptete Missbrauch mit nicht unerheblichen Geräuschen (wie etwa Sprechen, Quietschen, Knarren, Knacken, Rascheln, Rumoren, etc.) und Vibrationen, Gerüttel und Stößen verbunden gewesen sein muss. Dass dies alles und in zahllosen Fällen von dem damals ca. 8jährigen Bruder der Klägerin, der in demselben Doppelstockbett gelegen hat, unbemerkt geblieben sein soll, hält der Senat für unwahrscheinlich.

Zusammenfassend konnte der Zeuge die Behauptungen der Klägerin nicht stützen. Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge im Hinblick auf den Geschehensablauf zu Ungunsten der Klägerin bewusst falsche Angaben gemacht hat, hat der Senat nicht. Diese kann er etwa auch nicht mit hinreichender Sicherheit der Behauptung der Klägerin entnehmen, heute bestehe eine wirtschaftliche Abhängigkeit ihres Bruders von der Mutter, womit die Klägerin möglicherweise andeuten möchte, dass ihr Bruder keine solche Aussage tätigen würde, die ihrer Mutter zum Nachteil gereichen könnte. Allerdings streitet die Mutter der Klägerin selbst entschieden ab, Wahrnehmungen im Zusammenhang mit dem behaupteten sexuellen Missbrauch gemacht zu haben und auch die Klägerin hat ihre Mutter nicht etwa als Mittäterin (durch Duldung des von ihr wahrgenommenen Missbrauchs) oder etwa Mitwisserin bezeichnet. Insofern bleibt für den Senat letztlich unklar, welches Motiv die Mutter und der Bruder der Klägerin für Falschaussagen haben könnten. Dass jedenfalls zwischen dem Zeugen K. und dem Onkel der Klägerin ein solches Verhältnis bestünde, das eine Falschaussage des Zeugen nahelegen könnte, hat weder die Klägerin behauptet, noch lässt sich dies den Akten entnehmen. Vielmehr haben der Zeuge und der Onkel der Klägerin unabhängig voneinander, aber übereinstimmend am 23. August 2016 ausgesagt, kein enges Verhältnis zueinander zu haben; der Kontakt beschränke sich auf gelegentliches zufälliges Zusammentreffen, wobei man sich grüße, im Übrigen aber jeder seines Weges gehe. Aus welchen Gründen der Bruder der Klägerin den mutmaßlichen Täter mit seiner Aussage schützen sollte, hat letztlich auch die Klägerin nicht zu erklären versucht.

Soweit der Zeuge L. in der mündlichen Verhandlung vor dem SG erklärt hat, die Mutter der Klägerin habe ihm in einem Gespräch am 20. Mai 2015 zu seiner Überraschung erklärt, dass sich die Klägerin ihr gegenüber schon vor ca. fünfzehn Jahren offenbart habe, als Kind von ihrem Onkel missbraucht worden zu sein, ist diese Behauptung von der Mutter der Klägerin, der Zeugin N., nicht bestätigt worden. Vielmehr hat diese Zeugin in ihrer Vernehmung am 29. Mai 2019 ausgesagt, dass es nicht zutreffe, dass ihr die Klägerin davon berichtet habe, von ihrem Onkel in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein. Im Übrigen hat die Zeugin zu dem mit dem Zeugen O. im Mai 2015 geführten Gespräch ausgesagt, dass es eher ein schlechtes bis gar kein Verhältnis zu diesem Zeugen gäbe, dieser Zeuge Hausverbot gehabt habe und dieses Hausverbot bereits vor dem 20. Mai 2015 ausgesprochen worden sei. Der Zeuge sei lediglich gekommen, um Beleidigungen auszusprechen, so habe dieser zu ihrem Sohn gesagt, er solle sich betrinken und betrunken vor einen Baum fahren. Im Übrigen habe sie mit dem Zeugen nicht reden wollen und ihm gleich gesagt, dass er vom Erbe nichts bekommen werde. Zu dem Verhältnis zu der Klägerin befragt, hat die Zeugin angegeben, jahrelang keinen Kontakt gehabt zu haben, weil die Klägerin immer nur wegen Geld gekommen und nicht mit den Geschwistern klargekommen sei. Damit bleibt im Ergebnis für den Senat unklar, was genau zwischen dem Zeugen O. und der Zeugin N. am 29. Mai 2019 besprochen worden ist. Aus der Zeugenaussage der Zeugin P. wird jedoch deutlich, dass ein mehr als angespanntes/aggressives Gesprächsklima vorgeherrscht und zwischen den Zeugen ein zerrüttetes Verhältnis bestanden hat. Dass die Zeugin P. vor diesem Hintergrund gegenüber dem Zeugen O. tatsächlich Erzählungen der Klägerin über sexuellen Missbrauch eingeräumt hat, erscheint dem Senat daher ebenfalls unwahrscheinlich. Hinzu kommt der Umstand, dass sich selbst die Klägerin nicht mehr daran erinnern konnte, ihrer Mutter vor etwa 15 bis 20 Jahren den sexuellen Missbrauch anvertraut zu haben, was sie noch in ihrem Schriftsatz vom 28. September 2015 (Bl. 111 VA) mitgeteilt hat.

2.) Da die Klägerin vorliegend ihren Bruder als Zeugen benannt hat, der sich bei den Geschehnissen des sexuellen Missbrauchs in unmittelbarer räumlicher Entfernung aufgehalten haben soll, ist die Anwendbarkeit von § 15 KOVVfG ausgeschlossen. Es stellt einen Unterschied dar, ob ein Zeuge nicht vorhanden ist, oder ob ein anwesender Zeuge das Behauptete schlicht nicht bestätigen kann. Dies ist keine Frage des fehlenden (Zeugen-)Beweises, wie ihn § 15 KOVVfG im Blick hat, sondern eine Frage der Beweiswürdigung. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass der Bruder der Klägerin während eines Teiles der Geschehensabläufe oder während gesamter Taten womöglich geschlafen habe, so dass ihm "eigene Wahrnehmungen" insofern nicht möglich gewesen sein können. Denn vor dem Hintergrund der behaupteten Anwesenheit des Zeugen im unmittelbaren örtlichen (Doppelstockbett) und zeitlichen Zusammenhang des sexuellen Missbrauchs, ist es durchaus von Wert für die Beweiswürdigung, wenn der von der Klägerin benannte Zeuge insoweit nichts beobachtet, gehört oder sonst wahrgenommen hat. Dies gilt umso mehr, als der damals ca. 8jährige Zeuge der Bruder der damals ca. 11jährigen Klägerin gewesen ist. Denn dass der 8jährige Bruder in der geschilderten Situation nicht reagiert hätte oder aber das Ereignis etwa vergessen hätte, ist für den Senat nicht nachvollziehbar.

Ist aber § 15 KOVVfG nicht anwendbar, so bedarf die Feststellung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG des Vollbeweises. Weil der Senat den sexuellen Missbrauch schon nicht für glaubhaft hält, ist er erst recht nicht im Vollbeweis dargetan.

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.