Sozialgericht Hildesheim
Urt. v. 07.04.2008, Az.: 34 SO 144/05
Anspruch auf Leistungsbewilligung von Hilfe zur Pflege des Ehemannes als nicht rückzahlungspflichtige Beihilfe; Pflicht zur Einsetzung vorhandenen Vermögens vor Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen; Kriterien für die Angemessenheit eines Hausgrundstücks
Bibliographie
- Gericht
- SG Hildesheim
- Datum
- 07.04.2008
- Aktenzeichen
- 34 SO 144/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 36004
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGHILDE:2008:0407.34SO144.05.0A
Rechtsgrundlagen
- § 88 Abs. 2 Nr. 7 S. 2, 3 BSHG
- § 89 BSHG
Tenor:
Der Bescheid des Beklagten vom 15.12.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie - Landessozialamt - vom 23.06.2005 wird aufgehoben, soweit die geleistete Hilfe zur Pflege darlehensweise gewährt worden ist.
Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen einen Darlehensvorbehalt, unter dem der Beklagte Leistungen bewilligt hatte.
Die Klägerin ist die Ehefrau und Alleinerbin ihres am 26.08.2005 verstorbenen Ehemannes O. C., der Eigentümer des im G. Ortsteil P. gelegenen und 904 qm großen Hausgrundstücks "D." war. Die Eheleute lebten mit ihren beiden volljährigen Kindern in diesem Einfamilienhaus, das eine Gesamtwohnfläche von 138 qm hat. Hiervon nutzten sie die im Erdgeschoss befindlichen Räume mit einer Gesamtfläche von 74 qm. Die im Obergeschoss gelegenen Räume mit einer Gesamtfläche von 64 qm wurden ab November 2002 für eine "Warmmiete" in Höhe von mtl. 325,00 EUR an einen Herrn Q. vermietet.
Nachdem Herrn C. aufgrund eines Unfalls zum Pflegefall geworden war, gewährte der Beklagte ihm mit Bescheid vom 15.12.2003 Hilfe zur Pflege für den Aufenthalt in einem Pflegeheim. Insgesamt wurden Leistungen in Höhe von 17.846,33 EUR bewilligt. Der Beklagte stellte die Leistungsgewährung allerdings unter Darlehensvorbehalt, weil er davon ausging, dass das von Familie C. bewohnte Hausgrundstück aufgrund seiner Größe sowie der Wohnfläche des Hauses nicht "angemessen" im Sinne von § 88 Abs. 2 Nr. 7 des (damals noch anzuwendenden) BSHG sei.
Gegen den Darlehensvorbehalt legte Herr C. Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 23.06.2005 vom Landessozialamt zurückgewiesen wurde. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass nach allg. Auffassung für Haushalte mit 3 bis 5 Personen eine Wohnfläche von bis zu 130 qm und eine Grundstücksgröße von bis zu 500 qm als angemessen gelte. Diese Werte würden vom Hausgrundstück des Herrn C. überschritten.
Am 25.07.2005 hatte Herr C. Klage erhoben, seine Ehefrau hat nach seinem Tod das Verfahren mit Prozesserklärung vom 04.07.2006 fortgeführt. Zur Begründung der Klage wird vorgetragen, dass die vom Beklagten angenommen Richtwerte zur Beurteilung der Angemessenheit des Hausgrundstücks hier keine Anwendung finden könnten. In den dörflich geprägten Umlandgemeinden von F ... G. seien nahezu alle Hausgrundstücke mindestens so groß wie das ihrige. Die geringe Überschreitung der Richtlinien für Wohnungsgrößen im 2. Wohnungsbaugesetz dürfe nicht ins Gewicht fallen, zumal der Veräußerungserlös des einfach ausgestatteten Hauses gering sein dürfte. Die Veräußerung des Hauses, das einen Teil ihrer Alterssicherung darstelle, würde für die Klägerin eine außergewöhnliche und unzumutbare Härte bedeuten.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 15.12.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.06.2005 aufzuheben, soweit die Gewährung der Hilfe zur Pflege als Darlehen gewährt wird.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verteidigt die angefochtenen Bescheide und nimmt auf sie Bezug.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge Bezug genommen; diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass die Leistungsbewilligungen von Hilfe zur Pflege für ihren Ehemann als nicht rückzahlungspflichtige Beihilfen gewährt werden. Deshalb ist der Darlehensvorbehalt im Bescheid des Beklagten vom 15.12.2003 aufzuheben.
Da die streitbefangene Leistungsbewilligung mit Kostenanerkenntnis des Beklagten vom 15.12.2003 erfolgte, sind für dessen rechtliche Beurteilung die Bestimmungen des mit Ablauf des 31.12.2004 außer Kraft getretenen Bundessozialhilfegesetzes - BSHG - als Rechtsgrundlage heranzuziehen.
Dass der Ehemann der Klägerin grundsätzlich Anspruch auf Leistungen der Hilfe zur Pflege nach § 68 ff BSHG hatte, ist zwischen den Beteiligten unstreitig und braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Die Pflegeleistungen hätten vom Beklagten allerdings als Beihilfe und nicht als Hilfe unter Darlehensvorbehalt bewilligt werden müssen. Verfügt ein Hilfeempfänger über Vermögen, ist dieses zunächst vor Inanspruchnahme der Sozialhilfe nach den Maßgaben des § 88 BSHG einzusetzen. Nach § 89 BSHG soll Sozialhilfe als Darlehen bewilligt werden, wenn der Hilfebedürftige zwar über grundsätzlich einzusetzendes Vermögen verfügt, dessen sofortige Verwertung jedoch nicht möglich ist oder für den, der es einzusetzen hatte, eine Härte bedeutet. Vom Vorliegen eben dieses Tatbestandes ging der Beklagte indessen zu Unrecht aus.
Die Klägerin kann sich hier auf § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG mit Erfolg berufen, weil ihr Hausgrundstück "D." in F ... G. -P. gemäß der nach § 88 Abs. 2 Nr. 7 Sätze 2 und 3 BSHG vorzunehmenden Gesamtwürdigung, also nach den dort bezeichneten personen- und wertbezogenen Kriterien, angemessen (groß) ist. Dies ergibt sich aus folgendem: § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG regelt, dass die Sozialhilfe nicht abhängig gemacht werden darf vom Einsatz oder der Verwertung eines angemessenen Hausgrundstücks, das vom Hilfesuchenden und "engeren" Familienangehörigen allein oder zusammen ganz oder teilweise bewohnt wird. Dessen Angemessenheit bestimmt sich nach der Zahl der Bewohner, dem Wohnbedarf, der Grundstücksgröße, der Hausgröße, dem Zuschnitt und der Ausstattung des Wohngebäudes sowie dem Wert des Grundstücks einschließlich des Wohngebäudes. Weitere - inhaltliche - Vorgaben gibt das Gesetz nicht, sondern überlässt Verwaltung und Rechtsprechung die Ausfüllung des unbestimmtes Rechtsbegriffs der Angemessenheit. Die Wohnflächengrenzen des II. WoBauG geben unter Berücksichtigung außergewöhnlicher, vom Regelfall abweichender Bedarfslagen einen brauchbaren Orientierungsmaßstab für die Bewertung der Angemessenheit eines Grundstücks nach seiner Wohnfläche ab (so zu § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII, BSG, Urteil vom 07.11.2006 - 7 b AB 2/05 R -). Für einen Vierpersonenhaushalt gilt als Richtschnur somit eine Hausgröße von bis zu 130 qm grundsätzlich als angemessen, wobei für jede weitere Person sich die Wohnfläche um 20 qm erhöht (§ 82 Abs. 3 II. WoBauG). Das Haus der Klägerin hat eine Gesamtgröße von 138 qm, überschreitet damit die im Regelfall als angemessen anzusehende Größe um ca. 6%. Diesen Wert sieht die Kammer noch als vernachlässigenswert an, weil es sich bei der hier angebrachten wertenden Betrachtungsweise nicht um starre Grenz-, sondern nur um Richtwerte handelt. Hinzu kommt, dass bei der soeben vorgenommenen Berechnung außer Betracht blieb, dass für den im Zeitpunkt der Bescheiderteilung im Pflegeheim befindlichen Ehemann der Klägerin weiterer Wohnraum für den Fall einer Rückkehr hätte bereitgehalten bzw. berücksichtigt werden können. Hierfür spielt es keine Rolle, dass die Erkenntnislage aufgrund der Schwere der Erkrankung zum damaligen Zeitpunkt eher gegen eine mögliche häusliche Pflege des Herrn C. sprach. Denn es war nicht denknotwendig ausgeschlossen, dass sich die Klägerin zur Durchführung einer häuslichen Pflege entschlossen hätte. Eine Erhöhung des Wohnflächenbedarfes um 20 qm gemäß § 88 Abs. 2 Nr. 7 Satz 3 BSHG i.V.m. § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 82 II. WoBauG mit Rücksicht auf die Erkrankung des Ehemannes der Klägerin kommt also in Betracht. Dass dem Ehemann der Klägerin im maßgeblichen Zeitraum Pflegegeld gemäß § 69 BSHG a.F. nicht gewährt worden ist, ist unerheblich, denn für eine Berücksichtigung des Wohnflächenbedarfes wegen Pflegebedürftigkeit ist allein entscheidend, ob bei der pflegebedürftigen Person materiell die Voraussetzungen für die Gewährung häuslicher Pflege vorgelegen haben oder nicht. Ein entsprechender Pflegebedarf kann hier für Herrn C. ohne weitere Ermittlungen angenommen werden. Für 5 Bewohner, wozu fiktiv auch ein schwerpflegebedürftiger Mensch einzubeziehen gewesen wäre, wäre die Hausgröße somit angemessen gewesen.
Soweit der Beklagte meint, auch die Größe des Grundstücks sei nicht mehr angemessen im Sinne des § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG, teilt die Kammer diesen Einwand nicht. Davon ausgehend, dass die Grundstücksgröße ebenfalls den Gepflogenheiten des öffentlich geförderten Wohnungsbaus zu entsprechen hat (BayVGH, Urteil vom 24.07.2003 - 12 B 01.1454 - FEVS 55, 211, 213) und für ein freistehendes Haus ein Grundstück im Regelfall bis zu 500 qm als angemessen anzusehen ist, ist das Grundstück der Klägerin mit 904 qm zwar deutlich größer als der Bezugswert. Eben dieser berücksichtigt jedoch nicht die örtlichen Gegebenheiten in F ... G. -P. hinreichend. Es ist gerichtsbekannt und wurde vom Beklagten in der mündlichen Verhandlung im Rechtsgespräch auch nicht in Abrede gestellt, dass der Wert von 500 qm nur für den städtisch geprägten Raum, also zum Beispiel für die Kernstadt von F ... G. oder das Stadtgebiet von J. und R. einen verlässlichen Bezugswert darstellt. Grundstücke im dörflich geprägten Raum um F ... G. verfügen dagegen oft über einen großen Hausgarten (der meist und so auch hier nicht eigenständig bebaut werden kann) und sind in der Regel zwischen 800 und 1000 qm groß.
Schließlich spricht auch nichts dafür, dass der Verkehrswert des Hausgrundstücks der Klägerin einer Angemessenheit im Sinne von § 88 BSHG entgegenstünde. So sind nach der zu § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG ergangenen älteren Rechtsprechung Verkehrswerte nicht mehr dem "Schonvermögen" zugeordnet worden, wenn ihr Wert 130.000,00 EUR bis 150.000,00 EUR übersteigt (siehe etwa: BGH, Beschl. v. 15.11.1989 - IV B ZR 70/89 -, FamRZ 1990, 389: 590 qm Grundstücksgröße/ca. 300.000,- DM Verkehrswert; OVG, Rheinland-Pfalz, Urt. 13.9.1990 - 12 A 10183/90.OVG -: 803 qm Grundstücksflä-che/275.000,- DM Verkehrswert; Nds. OVG, Beschl. v. 12.11.1992 - 4 L 5456/92 -: 260.000,- DM Verkehrswert). Dafür, dass das Hausgrundstück der Klägerin einen derartigen Verkehrswert haben könnte, trägt der Beklagte nichts vor, was das Gericht zu einer weiteren Sachverhaltsaufklärung veranlasst hätte und spricht auch ansonsten nichts.
Ist aber das Hausgrundstück der Klägerin als geschütztes Vermögen im Sinne von § 88 Abs. 2 Nr. 7 BSHG zu behandeln, hätte die Hilfe zur Pflege für ihren verstorbenen Ehemann nicht darlehensweise, sondern als Beihilfe gewährt werden müssen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.