Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 06.02.2013, Az.: 11 A 4367/12
langjähriger rechtmäßiger Aufenthalt; Lebensunterhaltssicherung; atypischer Fall; Schutz des Privatlebens; Verwurzelung
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 06.02.2013
- Aktenzeichen
- 11 A 4367/12
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2013, 64503
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG
- § 31 Abs 1 AufenthG
- § 31 Abs 4 S 2 AufenthG
- § 5 Abs 1 S 1 AufenthG
- Art 8 MRK
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Zur Möglichkeit der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG, wenn nach Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft zwischenzeitlich eine Aufenthaltserlaubnis aus anderen Gründen erteilt worden war.
Tenor:
Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen worden ist.
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach §§ 28 Abs. 3, 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG zu erteilen. Der Bescheid der Beklagten vom 7. August 2012 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.
Die Klägerin trägt 1/3 und die Beklagte 2/3 der Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Die Beteiligten dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der andere Beteiligte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Die am 12. November 1962 geborene Klägerin stammt aus der Russischen Föderation. Sie reiste am 30. April 2003 mit ihrem deutschen Ehemann, ihrer Schwiegermutter und ihren Kindern A. und V. in die Bundesrepublik Deutschland ein.
Am 7. Juli 2003 wurde der Klägerin erstmals eine Aufenthaltserlaubnis zur Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft mit ihrem deutschen Ehemann erteilt. In der Folgezeit wurde die Aufenthaltserlaubnis mehrfach verlängert. Nachdem ihr Ehemann am 23. September 2006 verstorben war, wurde ihr aufgrund des Zusammenlebens mit ihrer minderjährigen deutschen Tochter eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 AufenthG erteilt. Die Aufenthaltserlaubnis wurde zuletzt bis zum 4. Mai 2011 verlängert.
Am 28. Februar 2011 beantragte die Klägerin die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen. Ihrem Antrag fügte sie Unterlagen bezüglich ihrer bisherigen Erwerbstätigkeit und ihren bisherigen Bemühungen eine Erwerbstätigkeit zu finden bei, sowie eine Projektvereinbarung über eine berufsbezogene Sprachförderung.
Nach vorheriger Anhörung vom 29. Mai 2012 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 7. August 2012 den Antrag der Klägerin auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis ab und drohte die Abschiebung in die Russische Föderation an. Sie hat dies im Wesentlichen wie folgt begründet: Eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG scheitere daran, dass die Tochter der Klägerin nicht mehr minderjährig sei. Da nach dem Tod des Ehemannes der Klägerin ihre Aufenthaltserlaubnis nach der für sie wegen der fehlenden Notwendigkeit der Lebensunterhaltssicherung günstigeren Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG verlängert worden sei, komme eine Verlängerung nach § 31 AufenthG jetzt nicht mehr in Betracht. Auch auf § 36 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 4 AufenthG könne die Klägerin sich nicht stützen. Zum einen stelle sie mit ihrer Tätigkeit als Aushilfskraft ihren Lebensunterhalt nicht eigenständig sicher und zum anderen habe sie auch keine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nachgewiesen. Dass die Tochter bei der Bewältigung alltäglicher Angelegenheiten auf die Klägerin angewiesen sei, reiche nicht aus, um von einer außergewöhnlichen Härte und damit von einem zwingenden Schutz der Familieneinheit zu sprechen. Auch die schwierigen Lebensumstände in ihrem Heimatland würden eine solche Härte nicht darstellen. Ferner scheide eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG aus, da die Klägerin nicht hinreichend verwurzelt sei. Ihr sei es nicht gelungen, sich innerhalb von neun Jahren in die hiesigen wirtschaftlichen Verhältnisse zu integrieren. So sei sie seit dem Jahr 2005 durchgehend zumindest auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen gewesen. Da die Klägerin nur Kontakt zu ihren beiden Kindern und ihrer in Deutschland lebenden Schwiegermutter habe, sei auch von keiner besonders starken sozialen Verwurzelung auszugehen.
Am 6. September 2012 hat die Klägerin Klage erhoben und Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutz gestellt (11 B 4369/12). Mit Beschluss vom 28. September 2012 hat das erkennende Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet. Die dagegen beim Niedersächsischen OVG erhobene Beschwerde der Beklagten hat diese am 3. Dezember 2012 zurückgenommen.
Die Klägerin hat die Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen, soweit sie die Herausgabe ihres russischen Reisepasses und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG erstrebt hat.
Zur Begründung trägt die Klägerin im Wesentlichen vor: Sie sei die Tochter eines Russlanddeutschen. In ihrem russischen Pass sei die Nationalität Deutsch eingetragen. Im Jahr 1984 habe sie ihren Mann geheiratet, der auch deutscher Volkszugehöriger gewesen sei. Auf ihre Chance den Spätaussiedlerstatus nach § 4 BVFG zu erhalten, habe sie lediglich aus Zeitgründen verzichtet. Denn vor dem Hintergrund der drohenden Einziehung ihres Sohnes zur russischen Armee hätte die Bearbeitung eines weiteren Antrags neben dem schon anhängigen ihres Ehemannes zu viel Zeit in Anspruch genommen. Während der Zeit ihres Aufenthalts in Deutschland habe sie sich in die hiesigen Verhältnisse integriert und sich ein soziales Umfeld aufgebaut. So verfüge sie über einen großen Freundeskreis, auch unter den Mitgliedern der russisch-orthodoxen Kirche in B.. Ihre 19-jährige Tochter habe nach dem Tod des Vaters eine besonders enge emotionale Bindung zur ihr aufgebaut und benötige daher immer noch ihre Unterstützung. Zwar treffe es zu, dass sie während ihrer Beschäftigungszeiten auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen gewesen sei, jedoch müsse auch berücksichtigt werden, dass selbst bei einer Vollzeittätigkeit im Frisörgewerbe kein besonders hoher Verdienst erreicht werden könne. Der Lebensunterhalt für eine dreiköpfige Familie sei aus einer solchen Tätigkeit nicht zu bestreiten. Seit Anfang 2011 suche sie daher auch außerhalb des Frisörgewerbes unermüdlich nach einer Arbeitsstelle.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Beklagte zu verpflichten, ihr eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nach §§ 28 Abs. 3, 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG zu erteilen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, ihr eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG zu erteilen und den Bescheid der Beklagten vom 7. August 2012 aufzuheben soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte nimmt zur Begründung Bezug auf den angefochtenen Bescheid und trägt in Ergänzung hierzu vor, dass die Klägerin bislang lediglich für kurze Zeiträume einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sei. So habe auch das letzte Beschäftigungsverhältnis bei der Firma O. GmbH nicht länger als ein Monat gedauert und sei vom Arbeitgeber innerhalb der Probezeit gekündigt worden. Vor diesem Hintergrund könne keine positive Prognose abgegeben werden dahingehend, dass es der Klägerin in Zukunft gelingen werde, ihren Lebensunterhalt eigenständig zu sichern. Eine Verlängerung nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG scheide schon aus systematischen Gründen aus. Denn eine solche Verlängerung müsste an eine nach § 31 Abs. 1 AufenthG erteilte Aufenthaltserlaubnis (zeitlich) anknüpfen. Nach dem Tod ihres Ehemannes sei der Klägerin aber keine Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 AufenthG erteilt worden, sondern eine Aufenthaltserlaubnis nach der Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, die bis zur Volljährigkeit der Tochter jeweils verlängert wurde. Nach der Volljährigkeit der Tochter könne die Klägerin nun aber nicht mehr auf das eigenständige Aufenthaltsrecht des Ehegatten zurückgreifen.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen; sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Soweit die Klägerin die Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. Im Übrigen hat die Klage Erfolg.
Der Bescheid der Beklagten vom 7. August 2012 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), da sie einen Anspruch auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen hat.
Dieser Anspruch ergibt sich aus §§ 31 Abs. 4 Satz 2, 28 Abs. 3 AufenthG. Danach kann die Aufenthaltserlaubnis nach Ablauf der Ein-Jahres-Frist des § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG weiter verlängert werden, solange die Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG nicht vorliegen. Dies ist hier der Fall.
Ohne Bedeutung ist, dass der Klägerin in der Vergangenheit keine Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt wurde, an die § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG tatbestandsmäßig anknüpft, sondern ihr Aufenthalt nach dem Tod ihres Ehemannes gem. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 AufenthG erlaubt war. Denn die Klägerin hatte nach dem Tod ihres Ehemannes auch einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gehabt (und nicht nur auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 AufenthG). Die Klägerin hat in ehelicher Lebensgemeinschaft mit einem Deutschen gelebt, welcher zum Todeszeitpunkt seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet, in O., hatte (§ 28 Abs. 3 i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Zu selbem Zeitpunkt war die Klägerin zudem im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis (nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Auf eine eigenständige Lebensunterhaltssicherung kam es für die erste Verlängerung (für die Dauer eines Jahres) gemäß § 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht an. Nach Ablauf dieser ersten Verlängerung hatte die Klägerin auch einen Anspruch auf weitere Verlängerung(en) nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG gehabt. Zwar bezog die Klägerin nach dem Tod ihres Ehemannes (23. September 2006) - bis auf wenige Monate im Jahr 2008 - durchgängig zumindest ergänzende Leistungen nach dem SGB II (vgl. Bl. 226 der Verwaltungsvorgänge), jedoch lag seinerzeit ein atypischer Fall vor, der es erforderlich gemacht hätte von dem Vorliegen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen. Ein solcher atypischer Fall wird u. a. dann angenommen, wenn in unzulässiger Weise in die Grund- und Menschenrechte des Ausländers eingegriffen wird (vgl. u.a. BVerwG, Urteil vom 28. Januar 1997, - 1 C 23.94 -, juris Rn 16, sowie zur Anwendung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK im Bereich der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen, Bayerischer VGH, Urteil vom 15. März 2005 - 24 B 04.2005 -, juris Rn 55 f). Die Verweigerung der Aufenthaltsverlängerung aufgrund mangelnder eigenständiger Lebensunterhaltssicherung hätte in unzulässiger Weise in die Grundrechte der Klägerin eingegriffen. Da die Tochter der Klägerin bis zum Ablauf der letzten Aufenthaltsverlängerung minderjährig war und die familiäre Gemeinschaft zwischen Tochter und Klägerin aufgrund der deutschen Staatsangehörigkeit der Tochter nur in Deutschland gelebt werden konnte, wäre die Beklagte vor dem Hintergrund der Schutzpflicht aus Art. 6 Abs. 1 GG gezwungen gewesen von dem Vorliegen der Regelerteilungsvoraussetzung abzusehen (vgl. zu diesem Kriterium BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, - 1 C 3.08 -, juris Rn. 18 m.w.N.). Im Ergebnis bestand damit bis zuletzt (bis zum 4. Mai 2011) neben der erfolgten Verlängerung nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 AufenthG auch ein Verlängerungsanspruch nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG.
Dem stehen auch keine rechtsystematischen Gründe entgegen, wie die Beklagte mit Verweis auf den Beschluss des VG Düsseldorf vom 1. Juni 2012 (7 L 463/12, juris Rn. 24) meint. Denn zum einen waren die vom VG Düsseldorf gemachten Ausführungen bzgl. eines aus systematischen Gründen ausgeschlossenen Rückgriffs auf § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG für die dort zu treffende Entscheidung nicht tragend. Zum anderen überzeugt diese Auffassung auch aus folgenden Gründen nicht: Wie das Gericht im Verfahren 11 B 4369/12 dargelegt hatte, ist der mit § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verfolgte Zweck schon erfüllt, wenn dem Ehegatten bereits aufgrund der Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG oder anderer rechtlicher Grundlagen der Aufenthalt und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gestattet worden ist (vgl. Marx, in: GK-AufenthG, § 31 Rn 219, m.w.N.; zur Vorgängerregelung in § 19 AuslG: BVerwG, Urteil vom 24. Mai 1995 - 1 C 7.94 -). Es kommt in einem solchen Fall dann keine Verlängerung nach § 31 Abs. 1 AufenthG mehr in Betracht, sondern nur noch eine weitere Verlängerung nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG. Dies bedeutet aber auch, dass die Verlängerung nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG nicht voraussetzt, dass zuvor eine Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 AufenthG auch förmlich erteilt wurde. Es reicht für § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG vielmehr aus, wenn der Ausländer zuvor einen Anspruch auf eine erstmalige Verlängerung nach § 31 Abs. 1 AufenthG gehabt hatte (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Juni 2011 - 1 C 5.10 -, juris Rn. 13; OVG Lüneburg, Urteil vom 28. Juni 2012, 11 LB 301/11, juris Rn. 33). Dass der Ausländer zuvor tatsächlich eine andere Aufenthaltserlaubnis innehatte, z.B. eine nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, ist dabei also unbeachtlich.
Darüber hinaus liegen die für eine weitere Verlängerung (über den 4. Mai 2011 hinaus) des eigenständigen Aufenthaltsrechtes des Ehegatten erforderlichen allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG vor.
Zwar erfüllt die Klägerin auch nach Ablauf der letzten Aufenthaltsverlängerung noch nicht die Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, jedoch ist das Gericht der Auffassung, dass ein atypischer Sonderfall gegeben ist, welcher es ausnahmsweise gebietet vom Vorliegen dieser allgemeinen Erteilungsvoraussetzung abzusehen. Denn eine Ablehnung der begehrten Aufenthaltserlaubnis wegen mangelnder eigenständiger Lebensunterhaltssicherung würde im Fall der Klägerin einen unzulässigen Eingriff in das von Art. 8 EMRK geschützte Privatleben darstellen. Im Rahmen des geschützten Privatlebens kommt dem Aspekt der Verwurzelung der Klägerin in die deutsche Gesellschaft eine besondere Bedeutung zu.
Maßgeblich bei der Frage der Verwurzelung ist, inwieweit eine Integration des Ausländers in Deutschland gelungen ist, zum anderen ist die Möglichkeit seiner Reintegration in das Heimatland in den Blick zu nehmen. Gesichtspunkte sind dabei die Dauer des Aufenthalts in Deutschland, die deutschen Sprachkenntnisse und eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in der Innehabung eines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes, in einem festen Wohnsitz, einer Sicherstellung des ausreichenden Lebensunterhalts, einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel, und dem Fehlen von Straffälligkeit zum Ausdruck kommt. Die Frage einer möglichen Reintegration im Heimatland bemisst sich nach Kriterien wie der Kenntnis der dortigen Sprache, der Existenz dort lebender Angehöriger sowie sonstiger Bindungen an das Heimatland. Geboten ist bei alledem eine familienbezogene Betrachtung. Grundlage eines Vertrauens auf Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland kann dabei in aller Regel nur ein rechtmäßiger Aufenthalt sein. Bei langjährigem rechtmäßigem Aufenthalt spricht allerdings eine mangelhafte wirtschaftliche Integration nicht zwingend gegen eine Verwurzelung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Februar 2011 - 2 BvR 1392/10 - InfAuslR 2011, 235 <236 f.>; BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2010 - 1 C 18.09 - InfAuslR 2011, 92 <93 f.>; Urteil vom 30. April 2009 - 1 C 3.08 - InfAuslR 2009, 333 <335>; Urteil vom 27. Januar 2009 - 1 C 40.07 - juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 13. Oktober 2010 - 8 PA 232/10 - juris; Urteil vom 17. August 2010 - 10 LC 434/08 -; Beschluss vom 12. August 2010 - 8 PA 182/10 - juris; Beschluss vom 7. April 2010 - 8 PA 45/10 - juris; Beschluss vom 3. Februar 2010 - 8 PA 17/10 - juris).
Im Fall der 50-jährigen Klägerin ist zu berücksichtigen, dass ihre Erwerbsbiographie mehrfach wechselnde Beschäftigungsverhältnisse aufweist, die längstens 2 Jahre dauerten (vgl. Lebenslauf der Antragstellerin, Bl. 126 der Gerichtsakte) und die jeweils von Monaten der Erwerbslosigkeit unterbrochen waren. Diese Beschäftigungsverhältnisse waren zudem nicht vollständig lebensunterhaltssichernd, so dass die Klägerin auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen war. Seit 1. Januar 2005 war die Klägerin - abgesehen von der Zeit von Anfang September bis Ende Dezember 2008 - ununterbrochen im Bezug von (ergänzenden) SGB II Leistungen (vgl. Bl. 226 der Verwaltungsvorgänge). Auch gegenwärtig ist die Klägerin erwerbslos. Das letzte Arbeitsverhältnis wurde nach einem Monat im Dezember 2012 wieder beendet. Eine erfolgreiche wirtschaftliche Integration der Klägerin lässt sich vor diesem Hintergrund nicht feststellen. Eine Reintegration in die Verhältnisse in ihrem Heimatland sollte der Klägerin möglich sein. Sie hat bis zu ihrem 40. Lebensjahr in Russland gelebt, beherrscht die russische Sprache und ist daher mit den dortigen Lebensverhältnissen vertraut. Zuletzt hielt sie sich vom 13. bis 28. Juni 2012 in Russland auf (vgl. Bl. 228 der Verwaltungsvorgänge), um sich auf dem Arbeitsmarkt zu erkundigen. Die Schwester und der Bruder der Klägerin leben dort, so dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr über erste soziale Kontakte verfügen würde.
Dies steht jedoch im Ergebnis einer Verwurzelung in die hiesigen Lebensverhältnisse nicht entgegen. Denn es ist entscheidend zugunsten der Klägerin zu berücksichtigen, dass sie sich seit mittlerweile fast 10 Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhält (davon 8 Jahre im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis). Vor dem Hintergrund dieses langjährigen rechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet ist die mangelnde eigenständige Lebensunterhaltssicherung der Klägerin nicht zu stark zu gewichten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Februar 2011 - 2 BvR 1392/10 - InfAuslR 2011, 235 <236 f.>). Sie ist mit ihrem deutschen Ehemann und ihren deutschen Kindern hier her gekommen in nicht unberechtigter Erwartung eines dauerhaften Aufenthaltes (in Erwartung mit ihren deutschen Familienangehörigen das weitere Leben in Deutschland zu verbringen). Die Klägerin spricht gut Deutsch, was von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich bestätigt wurde. Sie ist nicht straffällig geworden (vgl. Bl. 240 der Verwaltungsvorgänge) und hat sich nach eigenen Angaben in Deutschland einen großen Freundeskreis aufgebaut. Die Klägerin wohnt zusammen mit ihrer 19-jährigen Tochter, die zu ihr eine enge emotionale Bindung unterhält (siehe z.B. Schreiben der Tochter vom 20. August 2012, Bl. 28 der Gerichtsakte). Die Tochter sei in ihrer Lebensführung noch verhältnismäßig unselbstständig und benötige daher noch die Unterstützung der Klägerin. In dieser mangelnden Reife, bzw. wirtschaftlichen Unerfahrenheit der Tochter ist zwar kein besonderes Angewiesensein zu sehen, welches ein Abschiebungshindernis i.S.d. Art. 6 GG vermittelt, denn dieses wird nur dann angenommen, wenn die erwachsenen Kinder ein eigenständiges Leben nicht führen können und sie deshalb besonders auf die gegenseitige Lebenshilfe eines anderen angewiesen sind und diese nur im Bundesgebiet erbracht werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. März 2011 - 1 C 7.10 - NVwZ 2011, 1199; OVG Lüneburg, Beschluss vom 7. April 2011 - 11 ME 72/11 - InfAuslR 2011, 249 <250>; Beschluss vom 19. Mai 2010 - 8 ME 88/10 - juris Rn. 3; Beschluss vom 2. November 2006 - 11 ME 197/06 - InfAuslR 2007, 67 <68>). Gleichwohl ist das Zusammenleben mit der Tochter in einem gemeinsamen Haushalt in abgeschwächter Form im Rahmen des Art. 8 EMRK als Teil des „Privatlebens“ mitzuberücksichtigen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Juli 2012, - 10 B 13/12 – juris Rn. 6). Hinzu kommt, dass sich die erfolgreiche Integration der Klägerin auch daran zeigt, dass sie ihren erzieherischen Beitrag dazu geleistet hat, dass ihre beiden Kinder in der deutschen Gesellschaft "angekommen" sind. Die Tochter besucht die Fachoberschule und der Sohn der Klägerin ist Soldat auf Zeit (12 Jahre) bei der Bundeswehr. Er wird gegenwärtig auf seinen nächsten Auslandseinsatz in Afghanistan vorbereitet. Gerade die Berufswahl des Sohnes spiegelt ein besonders Maß an Identifikation mit der deutschen Gesellschaft wieder. In wirtschaftlicher Hinsicht kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Klägerin im Rahmen ihrer Möglichkeiten immer wieder – teilweise für längere Zeiträume – einer Beschäftigung nachgegangen ist.
Aufgrund der aufgezeigten Verwurzelung der Klägerin war das von § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG eingeräumte Ermessen der Beklagten dahingehend reduziert, dass keine andere rechtmäßige Entscheidung als eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis in Betracht kam.
Ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass sofern man die oben dargelegte Ansicht zur Verlängerbarkeit der Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG nicht teilt, der Klägerin jedenfalls eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG zu erteilen wäre. Denn die aufgezeigte Verwurzelung würde jedenfalls eine außergewöhnliche Härte i.S.d. Vorschrift bedeuten.