Abschnitt II AV ÜM - Verfahren der Justizvollzugsanstalten und der Staatsanwaltschaften bei Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern nach den §§ 57, 57a StGB, §§ 454, 454a StPO
Bibliographie
- Titel
- Übergangsmanagement zwischen den Justizvollzugsanstalten, dem Ambulanten Justizsozialdienst Niedersachsen, den Staatsanwaltschaften und den Anlaufstellen für Straffällige und Haftentlassene der freien Träger der Straffälligenhilfe (AV Übergangsmanagement)
- Redaktionelle Abkürzung
- AV ÜM,NI
- Normtyp
- Verwaltungsvorschrift
- Normgeber
- Niedersachsen
- Gliederungs-Nr.
- 33350
1. Verfahren der Justizvollzugsanstalten bei Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach § 454 StPO
1.1 Verfahren bei Anträgen von Gefangenen
1.1.1 Die Justizvollzugsanstalt nimmt Stellung zu Anträgen von Gefangenen, die Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe nach den §§ 57, 57a StGB zur Bewährung auszusetzen. In der Stellungnahme soll insbesondere auf
die Persönlichkeit,
die Lebensverhältnisse der Gefangenen,
ihr Verhalten und ihre Entwicklung im Vollzug, ggf. die Zugehörigkeit zu einer besonderen Zielgruppe, die dem politisch oder religiös motivierten Extremismus zuzurechnen ist,
ihr Bemühen, Verantwortung für ihre Straftaten und deren Folgen zu übernehmen sowie
die Wirkungen, die von der Aussetzung der Strafe für sie zu erwarten sind,
eingegangen werden.
Auf die Notwendigkeit der Hinzuziehung einer Dolmetscherin oder eines Dolmetschers ist ggf. hinzuweisen.
Liegen der Vollstreckung Straftaten i. S. des § 16 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 NJVollzG zugrunde, so ist auch zu bisherigen verhaltens- und einstellungsändernden Maßnahmen im Vollzug sowie deren Ergebnissen Stellung zu nehmen. Auf die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen nach der Entlassung ist ggf. hinzuweisen.
1.1.2 Wird der Antrag befürwortet, so äußert sich die Justizvollzugsanstalt auch dazu, ob und ggf. welche Auflagen und Weisungen im Falle einer Strafaussetzung erteilt werden sollten und inwieweit diese bereits organisiert sind. Die Justizvollzugsanstalt soll zur Abstimmung bei anzuregenden Auflagen und Weisungen Kontakt mit dem AJSD aufnehmen. Soweit die zuständige Justizsozialarbeiterin oder der zuständige Justizsozialarbeiter noch nicht feststeht, ist die zuständige Bezirksleitung einzubinden. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die folgenden Punkte:
die Vermittlung der Anbindung an eine Therapeutin oder einen Therapeuten oder eine Nachsorgeeinrichtung oder in eine andere Behandlungsmaßnahme und die Klärung der Übernahme der Kosten,
die Vorbereitung einer Substitutionsbehandlung und die Klärung der Möglichkeit der Übernahme der in diesem Zusammenhang entstehenden Kosten sowie
die Vorbereitung der Umsetzung von Abstinenzkontrollen und die Klärung der Möglichkeit einer Kostenübernahme.
1.1.3 Der soziale Empfangsraum der oder des Gefangenen ist in den vollzuglichen Stellungnahmen so genau wie möglich zu beschreiben. Die Entlassungsanschrift ist mitzuteilen. Wenn möglich, soll neben der reinen Anschrift auch angegeben werden, um welche Art von Unterkunft es sich handelt und bei wem die oder der Gefangene ggf. unterkommt. Die Justizvollzugsanstalt teilt ferner mit, ob und ggf. wo die Gefangenen nach der Entlassung tatsächlich Arbeit finden werden, welche weiteren Maßnahmen zur Entlassungsvorbereitung erforderlich sind und, soweit Erkenntnisse vorliegen, wie viel Zeit diese voraussichtlich in Anspruch nehmen werden. Hierzu prüft sie die Angaben der Gefangenen. Sofern Miet- und Arbeitsverträge vorliegen, teilt die Justizvollzugsanstalt dies mit und fordert die Gefangenen auf, die Unterlagen dem AJSD beim ersten Kontakt vorzulegen.
Die Justizvollzugsanstalt teilt weiterhin mit, wie viele auf die Entlassung anrechenbare Freistellungstage erworben worden sind.
1.1.4 Die Justizvollzugsanstalt händigt den Gefangenen eine Durchschrift der Stellungnahme aus.
1.1.5 Der Antrag, die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt und eine etwaige Äußerung der Gefangenen sind der Vollstreckungsbehörde zu übersenden. Wird die Strafvollstreckung von einer ersuchten Staatsanwaltschaft betrieben, so werden die Unterlagen dieser Behörde übersandt.
1.1.6 Eine Durchschrift der Stellungnahme wird dem AJSD übersandt. Dabei sind die örtlichen Zuständigkeiten zu beachten (Abschnitt IV. Nummer 1.1).
1.1.7 Hat das Gericht nach § 57 Abs. 7, § 57a Abs. 4 StGB eine Frist gesetzt, vor deren Ablauf ein Antrag unzulässig ist, und wird diese Frist bei der Antragstellung nicht beachtet, so leitet die Justizvollzugsanstalt den Antrag ohne eine Stellungnahme weiter.
1.2 Verfahren ohne Antragstellung durch Gefangene
1.2.1 Zu Freiheitsstrafe von mehr als zwei Monaten verurteilte Gefangene, die keinen Antrag auf Aussetzung des Strafrestes nach § 57 Abs. 1, § 57 Abs. 2 Nr. 1 oder § 57a Abs. 1 StGB gestellt haben, sind rechtzeitig vor Beginn der in Nummer 1.3 bezeichneten Fristen zu befragen, ob sie in eine Strafaussetzung zur Bewährung einwilligen. Die Erklärung ist in einer Niederschrift festzuhalten. Wird eine Freiheits- oder Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen vorsätzlicher Straftaten oder von mindestens einem Jahr wegen Straftaten gemäß den §§ 174 bis 174c, 176 bis 180, 181a oder 182 StGB vollstreckt, ist bei der Befragung darauf hinzuweisen, dass nach vollständiger Vollstreckung mit der Entlassung regelmäßig Führungsaufsicht eintritt (§ 68f Abs. 1 Satz 1 StGB).
1.2.2 Erklären Gefangene ihre Einwilligung, so gelten für das weitere Verfahren die Nummern 1.1.1 bis 1.1.7 entsprechend.
1.2.3 Wird die Einwilligung in eine Strafaussetzung nicht gegeben, so übersendet die Justizvollzugsanstalt nur die Niederschrift über die Erklärung ohne eine Stellungnahme und unterrichtet die verurteilte Person darüber, dass die Einwilligung jederzeit abgegeben werden kann.
1.3 Fristen
1.3.1 Die zu übersendenden Unterlagen sollen, ohne dass es hierfür einer Anforderung bedarf, bei der Vollstreckungsbehörde oder ersuchten Staatsanwaltschaft spätestens eingehen
1.3.1.1 bei zeitigen Freiheitsstrafen
- a)
bis zu drei Monaten
sechs Wochen,
- b)
von mehr als drei Monaten bis zu zwei Jahren
zwei Monate,
- c)
von mehr als zwei Jahren
sechs Monate
vor dem Zeitpunkt, in dem von der zuletzt vollstreckten Strafe zwei Drittel, mindestens jedoch zwei Monate, oder - unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB - die Hälfte, mindestens jedoch sechs Monate, verbüßt sind.
1.3.1.2 bei lebenslangen Freiheitsstrafen zwölf Monate vor dem Zeitpunkt, in dem 15 Jahre der Strafe verbüßt sind.
1.3.2 Hat die Strafvollstreckungskammer bei zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen eine Feststellung über die besondere Schwere der Schuld gemäß § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu treffen, so regt die Justizvollzugsanstalt in der Regel 18 Monate vor dem Zeitpunkt, zu dem 15 Jahre der Strafe verbüßt sind, bei der Vollstreckungsbehörde an, eine solche Entscheidung herbeizuführen.
Erfüllen die Gefangenen die Voraussetzungen für die Bewilligung von Urlaub aus der Haft, kann die Justizvollzugsanstalt bereits vor dem in Satz 1 genannten Zeitraum, frühestens jedoch sechs Monate vor Ablauf eines Zeitraums von zehn Jahren, bei der Vollstreckungsbehörde eine Entscheidung über die besondere Schwere der Schuld gemäß § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB anregen.
1.3.3 Bei der einstweiligen Berechnung der Strafzeit nach den einschlägigen Vorschriften der VGO errechnet die Vollzugsgeschäftsstelle zugleich die Zeitpunkte, zu denen die Vollstreckung eines Strafrestes nach § 57 Abs. 1, § 57 Abs. 2 Nr. 1, § 57a StGB zur Bewährung ausgesetzt werden kann, und vermerkt diese in den beiden Stücken des Aufnahmeersuchens. Die nach Nummer 1.3.1 bestimmten Fristen sind von der Vollzugsgeschäftsstelle zu erfassen und zu überwachen. Bei Verlegungen von Gefangenen hat die aufnehmende Anstalt entsprechende Fristen besonders zu beachten.
2. Verfahren der Staatsanwaltschaften bei Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach §§ 57, 57a StGB, § 454 StPO
2.1 Die Staatsanwaltschaft leitet
den Antrag oder die Einwilligungserklärung der oder des Gefangenen,
die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt,
ggf. einen nach § 463d StPO eingeholten Bericht der Gerichtshilfe,
eine aktuelle Auskunft aus dem Bundeszentralregister,
das Vollstreckungsheft mit dem Vermerk nach § 36 Abs. 2 Satz 4 StVollstrO und
ihre Stellungnahme zur vorzeitigen Entlassung
unverzüglich an die Strafvollstreckungskammer weiter.
2.2 Ist neben Freiheitsstrafe auch Jugendstrafe zu vollstrecken, gibt die Staatsanwaltschaft die Unterlagen auch der Vollstreckungsleiterin oder dem Vollstreckungsleiter (§ 82 Abs. 1 Satz 1 JGG) zur Kenntnis, damit über die Aussetzung der Reste aller Strafen einheitlich und im zeitlichen Zusammenhang entschieden werden kann (§§ 88, 89a JGG).
2.3 Hat die Strafvollstreckungskammer die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung ausgesetzt, so prüft die Staatsanwaltschaft unverzüglich nach Zustellung der Entscheidung, ob sie sofortige Beschwerde nach § 454 Abs. 3 StPO einlegen will. Das Ergebnis der Prüfung ist der Justizvollzugsanstalt unverzüglich - falls erforderlich fernmündlich - mitzuteilen.
3. Verfahren der Justizvollzugsanstalten und der Staatsanwaltschaft bei Aufhebung der Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes nach § 454a Abs. 2 StPO
3.1 Treten nach der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes bis zur Entlassung neue Tatsachen auf oder werden Tatsachen neu bekannt, aufgrund derer eine Aussetzung nicht mehr verantwortet werden kann, so teilt die Justizvollzugsanstalt oder die Staatsanwaltschaft diese Tatsachen unverzüglich - in der Regel fernmündlich vorab - der Strafvollstreckungskammer zur Prüfung gemäß § 454a Abs. 2 StPO mit.
3.2 Hebt die Strafvollstreckungskammer die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes vor der Entlassung wieder auf, so unterbleibt die Entlassung aus der Strafhaft.
3.3 Im Übrigen gilt nach einer Entscheidung der Strafvollstreckungskammer nach § 454a Abs. 2 StPO Nummer 2.3 dieses Abschnitts entsprechend.
Außer Kraft am 1. Januar 2027 durch Abschnitt VIII Satz 1 der AV vom 21. Juli 2021 (Nds. Rpfl. S. 300)