Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 13.11.2007, Az.: 2 A 239/06
Alternativangebot; Amtsermittlungsgrundsatz; Dyskalkulie; Dyskalkulieeinheit; Dyskalkulietherapie; Elternbeitrag; Grundsatz von Treu und Glauben; Jugendhilfeleistung; Mehrkosten; Mehrkosten; Mehrkosteneinwand; seelische Behinderung; Stundenhöchstsatz; Teilleistungsstörung; Treu und Glauben; unverhältnismäßige Mehrkosten
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 13.11.2007
- Aktenzeichen
- 2 A 239/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2007, 71883
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 35a Abs 1 SGB 8
- § 5 Abs 2 S 1 SGB 8
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Grundsätzlich setzt der Mehrkosteneinwand nach § 5 Abs. 2 S. 1 SGB VIII voraus, dass der Leistungsträger dem Leistungsberechtigten eine zumutbare konkrete Alternative der Bedarfsdeckung nachweist und anbietet.
2. Davon ist dann eine Ausnahme zu machen, wenn der Leistungsberechtigte den Leistungsverpflichteten unter Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben darüber in Unkenntnis lässt, dass unverhältnismäßige Mehrkosten entstehen.
Tatbestand:
Der am ... H. ... geborene Kläger leidet unstreitig unter einer seelischen Behinderung in Form einer Teilleistungsstörung schulischer Fertigkeiten des Rechnens (Dyskalkulie).
Erstmals mit Bescheid vom 14. Mai 2003 bewilligte der Beklagte für eine Dyskalkulietherapie im Umfang von zunächst 40 Wochenstunden Jugendhilfeleistungen nach § 35 a SGB VIII zu einem Stundenhöchstsatz von 31,00 Euro. Der damalige Therapeut, Herr I. aus F., rechnete gegenüber dem Beklagten einen Stundensatz von 35,00 Euro ab, wovon der Beklagte 31,00 aus Mitteln der Jugendhilfe erstattete. Mit weiteren Bescheiden vom 27. August 2004 und 24. Februar 2005 bewilligte der Beklagte weitere 20 bzw. 40 Stunden Dyskalkulietherapie. Die im Einvernehmen mit dem Beklagten eingesetzte neue Therapeutin, Frau J. -K. aus F., rechnete gegenüber dem Beklagten bis einschließlich August 2005 einen Stundensatz in Höhe von 31,00 Euro, danach, nach einer entsprechenden Erhöhung des Stundenhöchstsatzes durch den Beklagten, einen solchen in Höhe von 38,00 Euro ab. Gegenüber der Mutter des Klägers rechnete die Therapeutin offenbar schon zu dieser Zeit weitere 10,00 Euro je Therapieeinheit ab.
Am 22. Dezember 2005 beantragte die Mutter des Klägers die Weiterbewilligung der Leistung. Nachdem dies der Beklage zunächst abgelehnt hatte, bewilligte er schließlich mit dem streitgegenständlichen Abhilfebescheid vom 17. Mai 2006 erneut Leistungen für 20 Dyskalkulietherapieeinheiten. Den Stundenhöchstsatz begrenzte er entsprechend einer in den Städten L. und F. sowie den Landkreisen F., M. und N. einheitlich geltenden Verwaltungsrichtlinie erneut auf 38,00 Euro. Diese Richtlinie hatte die Therapeutin, Frau J. -K. schriftlich gegenüber dem Beklagten am 3. Juli 2005 als für sich verbindlich anerkannt. Im Zusammenhang mit dem vom Kläger anhängig gemachten Klageverfahren bat der Beklagte die Therapeutin mit Schreiben vom 25. Juli 2006 erneut zu erklären, dass sie auch derzeit bereit sei, für die vom Jugendamt festgelegten 38,00 Euro - ohne zusätzlichen Elternbeitrag - eine Therapie durchzuführen. Daraufhin bestätigte Frau J. -K. dem Beklagten mit Schreiben vom 31. Juli 2006, bereit zu sein, gemäß dem in der gemeinsamen Verwaltungsrichtlinie der Städte L. und F. sowie der Landkreise M., N. und F. festgesetzten Kostenansatz von 38,00 Euro je Therapieeinheit - ohne zusätzlichen Elternbeitrag - eine Dyskalkulietherapie durchzuführen. Dennoch berechnete sie der Mutter des Klägers, belegmäßig nachgewiesen, von Februar bis Dezember 2006 für jede von ihr erbrachte Therapieeinheit einen „Elternbeitrag“ in Höhe von 10,00 Euro.
Mit beim Beklagten am 15. Juni 2006 eingegangenen anwaltlichem Schreiben machte der Kläger erstmals geltend, es müssten 48,00 Euro je Therapieeinheit erstattet werden. Dies sei die Summe der entstehenden tatsächlichen Kosten. Belege hierfür legte er nicht vor. Die Verwaltungsvorgänge schließen mit der Abrechnung der Therapeutin für die Monate April bis Juli über 38,00 Euro je Einheit und ihrer Erklärung vom 31. Juli 2006.
Am 19. Juni 2006 hat der Kläger Klage erhoben.
Er ist der Auffassung, der Beklagte habe die von seiner Mutter für seine Dyskalkulietherapie tatsächlich aufgewendeten 48,00 Euro je Therapieeinheit aus Mitteln der Jugendhilfe zu übernehmen. Einen Elternbeitrag kenne das Jugendhilferecht nicht. Die Erklärungen seiner Therapeutin gegenüber dem Beklagten müsse er sich nicht entgegenhalten lassen. Sie bezögen sich nicht auf ihn konkret, sondern brächten eine allgemeine Bereitschaft zum Ausdruck, auch, das hieße in anderen Fällen als seinem, für 38,00 Euro je Therapieeinheit tätig zu werden.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter entsprechender Aufhebung seines Bescheides vom 17. Mai 2006 zu verpflichten, die Kosten der Dyskalkulietherapie des Klägers im Umfang von 48,00 Euro je Therapieeinheit zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er meint, höhere Aufwendungen für eine Dyskalkulietherapieeinheit als 38,00 Euro seien nicht notwendig. Die gemeinsamen Verwaltungsrichtlinien, die diesen Höchstsatz festlegten, seien mit der Gesellschaft für Legasthenie-Therapie e.V. F. abgestimmt und auch von Frau J. -K. als verbindlich anerkannt worden. Deshalb habe für ihn auch keine Veranlassung bestanden, dem Kläger ein Alternativangebot für eine Therapie zu machen. Er habe schlicht nicht gewusst, dass die Mutter des Klägers mehr zu zahlen hatte als die von ihm bewilligten 38,00 Euro je Therapieeinheit.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist unbegründet
Der Kläger hat einen Anspruch auf Bewilligung von Jugendhilfeleistungen durch den Beklagten für seine Dyskalkulietherapie im Umfang von mehr als 38,00 Euro nicht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der Kläger hat - das ist zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig - Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form einer Legasthenietherapie gegen den Beklagten gemäß § 35 a Abs. 1 SGB VIII. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist nicht bloße Kostenstelle, sondern der Erbringer der Leistung. Da er selbst nicht über qualifizierte Legasthenietherapeuten verfügt, hat er die Eingliederungshilfe durch andere Personen zu erbringen, etwa - wie hier - durch privat-gewerbliche Anbieter. Will er die Kosten der Therapie begrenzen, kann er - in Anlehnung an § 77 Abs. 1 SGB VIII - eine Kostenvereinbarung abschließen. Geschieht das nicht, ist er im Grundsatz zur Übernahme der vollen Kosten verpflichtet. Zwischen dem Beklagten und der Therapeutin J. -K. besteht keine wirksame Vereinbarung darüber, dass Frau J. -K. Dyskalkulietherapie für 38,00 € pro Behandlungsstunde anbietet. Nach Aktenlage hat sich Frau J. -K. lediglich - wie zahlreiche andere Therapeuten auch - pauschal bereit erklärt, nach den von südniedersächsischen Jugendämtern aufgestellten Richtlinien Dyskalkulietherapie anzubieten; darin kann eine konkrete Kostenvereinbarung ebenso wenig erblickt werden wie in der allgemein gehaltenen Bestätigung der Therapeutin vom 31. Juli 2006, wonach sie bereit ist, zu einem Kostensatz von 38,00 Euro je Therapieeinheit ohne zusätzlichen Elternbeitrag tätig zu werden. Der Frage, ob der zwischen der Mutter des Klägers und Frau J. -K. geschlossene Vertrag nichtig oder anfechtbar ist, soweit darin eine höhere Leistung als 38,00 € pro Therapiestunde vereinbart ist, ist hier nicht weiter nachzugehen. Gleichwohl hat der Kläger einen Anspruch auf volle Kostenerstattung gegen den Beklagten nicht.
Gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII soll der Wahl und den Wünschen des Leistungsberechtigten entsprochen werden, sofern dies nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Träger der Jugendhilfe die Erbringung einer Leistung verweigern darf, wenn dies zu unverhältnismäßigen Mehrkosten führen würde. Auf diesen Rechtssatz beruft sich der Beklagte mit Erfolg.
Dem Beklagten ist im Zusammenhang mit der Erstellung der „ gemeinsamen Verwaltungsrichtlinie der Städte L. und F. sowie der Landkreise M., Osterode und F. vom 1. August 2003 zur Anwendung des § 35 a SGB VIII im Zusammenhang mit Teilleistungsstörungen im Lese- Rechtsschreibbereich bei Schulkindern zur Durchführung von systematischer Übungsbehandlung“ nach Abstimmung mit der Gesellschaft für Legasthenie-Therapie e.V. F. -GLT- nebst nachfolgender Anpassungen insbesondere des Stundensatzes bekannt geworden, dass die vom Kläger in Anspruch genommene Leistung tatsächlich auch für 38,00 Euro je Therapieeinheit erbracht werden kann. Eine um ca. 25 % teurere Leistung führt zu unverhältnismäßigen Mehrkosten im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII.
Allerdings ist für den Erfolg des Mehrkosteneinwands vorausgesetzt, dass der Leistungsträger dem Leistungsberechtigten eine zumutbare konkrete Alternative der Bedarfsdeckung nachweist und anbietet (so die Kammer im Urteil vom 12.10.2006 -2 A 173/05-, das zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe an den Kläger geführt hat, unter Hinweis auf OVG Lüneburg, Urteil vom 19.3.2003 -4 LB 111/02-, NDV-RD 2003, 81, insoweit vom BVerwG in dem Urteil vom 11.8.2005 -5 C 18.04-, BVerwGE 124, 83, 91 f unbeanstandet gelassen; OVG Münster, Urteil vom 14.3.2003 -12 A 122/02-, NVwZ-RR 2003, 867, 868; zur rechtsähnlichen Vorschrift des § 3 Abs. 2 Satz 3 BSHG, BVerwG, Beschluss vom 2.9.2004 -5 B 18.04-, FEVS 57, 54, 55; Urteil vom 2.9.1993 -5 C 50.91-, BVerwGE 94, 127, 130; Urteil vom 22.10.1992 -5 C 11.89-, BVerwGE 91, 114, 116). Ein derartiges Alternativangebot hat der Beklagte dem Kläger zwar nicht benannt; zur vollen Kostenübernahme führt dies indes hier ausnahmsweise nicht. Denn dem Beklagten war es aus Gründen, die im Einflussbereich des Klägers bzw. seiner Mutter liegen, überhaupt nicht möglich, ein Alternativangebot zu unterbreiten; für ihn stellte sich diese Problematik gar nicht, weil er nicht wusste und auch nicht wissen konnte, dass die Therapeutin J. -K. 48,00 statt 38,00 Euro je Therapiestunde gegenüber der Mutter des Klägers abrechnete. Insoweit unterscheidet sich die Sachlage von dem Urteilsfall im Verfahren 2 A 173/05, in dem dem zuständigen Mitarbeiter des Jugendamtes bekannt war, dass vom Therapeuten ein sog. Elternbeitrag zusätzlich zu dem aus Mitteln der Jugendhilfe erstatteten Betrag erhoben wurde und gleichwohl ein kostengünstigeres Alternativangebot nicht gemacht worden war.
Zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 17. Mai 2006 konnte der Beklagte davon ausgehen, dass 38,00 Euro je Therapieeinheit zu einer vollen Kostenerstattung für den Kläger führen. Die schon seit längerer Zeit mit dem Kläger arbeitende Therapeutin hatte - insoweit anders als der vormalige Therapeut I. - von Anfang gegenüber dem Jugendamt des Beklagten lediglich die in der gemeinsamen Verwaltungsrichtlinie festgelegten Beträge abgerechnet. Zu keinem vorangegangenen Zeitpunkt hatte die Mutter des Klägers dem Beklagten mitgeteilt, tatsächlich müssten sie aber mehr als die vom Beklagten bewilligten Beträge zahlen. Nimmt man die Erklärung der Therapeutin J. -K. vom 3. Juli 2005 hinzu, mit der sie die gemeinsame Verwaltungsrichtlinie und damit auch die Kostenbegrenzung als für sich verbindlich anerkannt hatte, konnte, ja musste, der Beklagte davon ausgehen, dass höhere Kosten als 38,00 Euro je Sitzung nicht entstehen. Erstmals mit anwaltlichem Schreiben vom 13. Juni 2006, also nach Bescheiderlass, wurde behauptet, 48,00 Euro je Sitzung zahlen zu müssen, was, wie sich mittlerweile durch Vorlage entsprechender Belege als richtig herausgestellt hat, der Wahrheit entspricht. Zum damaligen Zeitpunkt gab es indes lediglich eine entsprechende Behauptung der Eltern des Klägers. Dem Beklagten kann nicht vorgehalten werden, er sei dieser Behauptung nicht im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht nachgegangen. Er hat vielmehr mit Schreiben vom 25. Juli 2007 bei der Therapeutin zurück gefragt. Auch wenn sich diese Nachfrage nicht konkret auf die Behandlung des Klägers bezog, kann die Antwort der Therapeutin, bereit zu sein, für 38,00 Euro die Stunde ohne zusätzlichen Elternbeitrag tätig zu werden, nur so verstanden werden, dass dies für alle von ihr behandelten Probanden, also auch den Kläger gilt. Es wäre in Anbetracht dessen Sache des Klägers bzw. seiner Mutter gewesen, durch aktuelle Vorlage von Rechnungen der Therapeutin, mit der sie den sog. Elternbeitrag abrechnete, den Beklagten davon zu informieren, dass seine Annahme, die Therapeutin rechne lediglich 38,00 Euro je Sitzung ab, falsch war. Dies wäre dem Kläger bzw. seiner Mutter jederzeit vor und nach Erlass des Bescheides vom 17. Mai 2006 möglich gewesen. Stattdessen haben sie den Beklagten und das Gericht bis zur Vorlage der Belege mit Schriftsatz vom 12. Januar 2007 über die tatsächlichen Verhältnisse im Unklaren gelassen. Zu diesem Zeitpunkt war die Therapie im Umfang der mit Bescheid vom 17. Mai 2006 bewilligten 20 Therapieeinheiten indes bereits beendet und dem Beklagten so endgültig die Möglichkeit genommen, einen Alternativtherapeuten zu benennen. Ein derartiges Verhalten verstößt gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, der auch und gerade das jugendhilferechtliche Leistungsverhältnis beherrscht.
Schließlich kann sich der Kläger gegenüber dem Mehrkosteneinwand nicht auf besondere Gründe des Einzelfalles berufen, die zwingend nur eine Legasthenietherapie durch die Therapeutin J. -K. als für ihn erfolgversprechend und zumutbar erscheinen lassen. Es ist gerichtsbekannt und wird vom Kläger nicht in Abrede genommen, dass es auch sowohl im Einzugsbereich seines Wohnortes O. wie gerade auch in F., wo er die Therapie erhält, genügend andere Dyskalkulietherapeuten gibt, die seine Behandlung ebenso wirksam und erfolgversprechend hätten durchführen können. Da dem Beklagten aus im Verantwortungsbereich des Klägers bzw. seiner Mutter liegenden Gründen verwehrt war, ein solches Alternativangebot zu machen, ist dem Kläger auch die Berufung auf Gründe des Einzelfalles abgeschnitten.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.