Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 12.10.2006, Az.: 2 A 173/05

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
12.10.2006
Aktenzeichen
2 A 173/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 44423
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2006:1012.2A173.05.0A

Amtlicher Leitsatz

Der Einwand unverhältnismäßiger Mehrkosten nach § 5 Abs. 1 SGB VIII ist dem Leistungsträger abgeschnitten, wenn er dem Leistungsberechtigten ein konkretes, zumutbares Alternativangebot nicht macht.

Tatbestand:

1

Der am ... geborene Kläger besuchte im Schuljahr 2004/2005 die J. -Realschule in K.. Bei ihm wurde durch den Dipl. Psych. L. ausweislich der psychologischen Stellungnahme vom 16. Dezember 2004 eine behandlungsbedürftige Lese- Rechtschreibschwäche festgestellt.

2

Am 3. Januar 2005 beantragten die Eltern des Klägers für diesen bei dem Beklagten Leistungen für eine Legastheniebehandlung. Die zuständige Sachbearbeiterin in der Außenstelle K. des Jugendamtes des Beklagten äußerte keine Einwände gegen einen sofortigen Therapiebeginn bei dem Gymnasiallehrer M. N.. Sie setzte die Mutter des Klägers davon in Kenntnis, dass der Beklagte Herrn N., dessen Ausbildung zum Legasthenietherapeuten noch nicht abgeschlossen war, 23,00 € pro Stunde erstatte und dass die Erbringung eines Eigenbetrages durch die Eltern üblich sei. Die Eltern des Klägers schlossen daraufhin am 10. Januar 2005 mit Herrn N. einen Vertrag über Legasthenietherapie, in dem festgelegt wurde, dass das Honorar für eine Therapiestunde (von 50 Minuten) 36,00 € beträgt. Die Therapie begann auch bereits am 10. Januar 2005.

3

Den Antrag des Klägers leitete der Beklagte am 11. Januar 2005 an die Fachstelle Diagnostik bei dem Jugendhilfe Südniedersachsen e.V. weiter. Am 8. März 2005 stellte sich der Kläger in der Fachstelle vor. Der Befund des Dipl. Psych. L. bestätigte sich. Unter dem 18. März 2005 befürwortete die Fachstelle die Gewährung einer ambulanten Legasthenietherapie im Umfang von zunächst 30 Einheiten.

4

Mit Bescheid vom 22. März 2005 erteilte der Beklagte dem Kläger daraufhin eine Kostenzusage im Rahmen der Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII im Umfang von 30 Stunden Einzeltherapie ab Antragseingang. Da der Therapeut sich noch in Ausbildung befinde, übernehme er entsprechend Punkt 4.2 der "Gemeinsamen Verwaltungsrichtlinie der Städte K. und O. sowie der Landkreise D., P. und O. vom 1. August 2003 zur Anwendung des § 35 a SGB VIII im Zusammenhang mit Teilleistungsstörungen im Lese- Rechtschreibbereich bei Schulkindern zur Durchführung von systematischer Übungsbehandlung" nur 23.- Euro je Behandlungseinheit.

5

Am 11. April 2005 teilte die bereits oben erwähnte Sachbearbeiterin der Mutter des Klägers auf fernmündliche Nachfrage mit, nach ihrer, aus einer Mitteilung der Gesellschaft für Legasthenie-Therapie e.V. O. - GLT - folgenden Kenntnis gebe es in Ausbildung befindlichen Legasthenietherapeuten, die eine Therapieeinheit für 23.- Euro anböten. Sie sei bereit, einen solchen Therapeuten im Raum K. zu vermitteln. Dieses Angebot lehnte die Mutter des Klägers wegen des damit verbundenen Therapeutenwechsels und ggf. entstehender Fahrtkosten nach außerhalb ab.

6

Am 20. April 2005 hat der Kläger Klage erhoben.

7

Er ist der Ansicht, Anspruch auf Übernahme von 36.- Euro je Therapieeinheit durch den Beklagten zu haben. Eine Eigenbeteiligung sehe § 35 a SGB VIII nicht vor. Eine gleichwertige Therapie sei günstiger nicht zu bekommen, jedenfalls habe sie ihm der Beklagte nicht benannt. Es sei im hiesigen Raum absolut üblich, dass Eltern Zuzahlungen an Legasthenietherapeuten erbrächten; auch die der GLT angehörigen Therapeuten würden zwar den Trägern der Jugendhilfe 23,00 bzw. 31,00 € in Rechnung stellen, aber regelmäßig Zuzahlungen von den Eltern verlangen. Die Träger der Jugendhilfe müssten den Eltern jedoch die gesamten erforderlichen Kosten erstatten. Unverhältnismäßige Mehrkosten entstünden durch die Inanspruchnahme des Therapeuten N. nicht.

8

Der Kläger beantragt,

  1. den Beklagten unter entsprechender Aufhebung seines Bescheides vom 22. März 2005 zu verpflichten, die Kosten für 30 Stunden Legasthenietherapie in Höhe von 36.- Euro je Behandlungseinheit zu bewilligen.

9

Der Beklagte beantragt,

  1. die Klage abzuweisen.

10

Er meint, der Klaganspruch bestehe nicht, weil die Inanspruchnahme der Hilfe durch den Therapeuten N. zu unverhältnismäßigen Mehrkosten führe. Die Differenz zwischen den von Herrn N. abgerechneten Kosten zu denjenigen laut Richtlinie betrage mehr als 50 %. Diese Richtlinie sei in Zusammenarbeit mit dem Verband der Legasthenietherapeuten erarbeitet worden, der erklärt habe, seine Mitglieder würden für die in der Richtlinie genannten Kosten tätig werden. Zum 1. September 2005 seien der Betrag von 23.- Euro je Einheit auf 28.- Euro und derjenige von 31.- Euro je Einheit auf 38.- Euro angehoben worden. Auch dies zeige, dass die in der Richtlinie festgelegten Höchstbeträge am Markt orientiert seien. Über diese Betragsbegrenzung seien die Eltern des Klägers vorab informiert gewesen. Zeitnahe Alternativangebote habe der Beklagte nicht machen können, weil der Kläger unmittelbar nach Antragstellung mit der Therapie begonnen habe.

11

Die Kammer hat in der mündlichen Verhandlung Beweis erhoben über den Inhalt der Gespräche zwischen der Mutter des Klägers und der Mitarbeiterin des Jugendamtes des Beklagten, Frau Q., im Zuge der Beantragung der Eingliederungshilfe für den Kläger durch Vernehmung der Frau R. Q. als Zeugin. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird - soweit es nicht bereits im Tatbestand des Urteils dargestellt worden ist - auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

12

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

13

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Übernahme der von ihm geltend gemachten Kosten für eine Legasthenietherapie in Höhe von jeweils 36.- Euro je Behandlungseinheit. Insoweit ist der Bescheid vom 22. März 2005 aufzuheben und der Beklagte antragsgemäß zu verpflichten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

14

Die Verpflichtungsklage ist zulässig.

15

Zwar können Ansprüche auf Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe grundsätzlich nur für den Zeitraum bis zum Erlass der letzten Verwaltungsentscheidung in zulässiger Weise mit der Verpflichtungsklage geltend gemacht werden. Hiervon ist jedoch eine Ausnahme für den Fall zu machen, dass die letzte Verwaltungsentscheidung selbst eine über den Zeitpunkt ihres Erlasses hinausreichende Regelung enthält (BVerwG, Urteil vom 8.6.1995 -5 C 30/93-, FEVS 46, 94). So ist es hier, da mit dem angefochtenen Bescheid Jugendhilfeleistungen im Umfang von 30 Einheiten der Legasthenietherapie ab Antragstellung am 3. Januar 2005 gewährt worden sind. Hiervon waren nach Aktenlage zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses erst 10 Einheiten absolviert, so dass sich der Bescheid für 20 Therapieeinheiten Wirkung für die Zukunft beimaß.

16

Die Klage ist auch begründet.

17

Der Kläger hat - das ist zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig - Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form einer Legasthenietherapie gegen den Beklagten gemäß § 35 a Abs. 1 SGB VIII. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist nicht bloße Kostenstelle, sondern der Erbringer der Leistung. Da er selbst nicht über qualifizierte Legasthenietherapeuten verfügt, hat er die Eingliederungshilfe durch andere Personen zu erbringen, etwa - wie hier - durch privat-gewerbliche Anbieter. Will er die Kosten der Therapie begrenzen, kann er - in Anlehnung an § 77 Abs. 1 SGB VIII - eine Kostenvereinbarung abschließen. Geschieht das nicht, ist er im Grundsatz zur Übernahme der vollen Kosten verpflichtet. Zwischen dem Beklagten und dem Therapeuten N. besteht keine wirksame Vereinbarung darüber, dass Herr N. Legasthenietherapie für 23,00 € pro Behandlungsstunde anbietet. Nach dem unbestritten gebliebenen Vortrag des Beklagten hat sich Herr N. lediglich - wie zahlreiche andere Therapeuten auch - pauschal bereit erklärt, nach den von südniedersächsischen Jugendämtern aufgestellten Richtlinien Legasthenietherapie anzubieten; darin kann eine konkrete Kostenvereinbarung nicht erblickt werden, so dass auch nicht der Frage nachzugehen ist, ob der zwischen den Eltern des Klägers und Herrn N. geschlossene Vertrag nichtig oder anfechtbar ist, soweit darin eine höhere Leistung als 23,00 € pro Therapiestunde vereinbart ist.

18

Gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII soll der Wahl und den Wünschen des Leistungsberechtigten entsprochen werden, sofern dies nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Träger der Jugendhilfe die Erbringung einer Leistung verweigern darf, wenn dies zu unverhältnismäßigen Mehrkosten führen würde. Auf diesen Rechtssatz beruft sich der Beklagte - allerdings nicht mit Erfolg -.

19

Der Kläger kann sich gegenüber diesem Einwand möglicherweise schon auf besondere Gründe des Einzelfalles berufen, die zwingend nur eine Legasthenietherapie durch den Therapeuten N. als für ihn erfolgversprechend und zumutbar erscheinen lassen. Zwar ist gerichtsbekannt und wird vom Kläger nicht in Abrede genommen, dass es auch im Einzugsbereich seines Wohnortes genügend andere Legasthenietherapeuten gibt, die seine Behandlung ebenso wirksam und erfolgversprechend hätten durchführen können. Als besonderer Grund des Einzelfalles kann sich der Kläger jedoch evtl. darauf berufen, dass er in Absprache mit der zuständigen Sachbearbeiterin des Beklagten die erforderliche Therapie bei dem Therapeuten N. am 10. Januar 2005 begonnen hatte und im Zeitpunkt des Bescheiderlasses bereits 10 Stunden absolviert waren. Da der Kläger absprachegemäß handelte, kommt § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX, der die Erstattungspflicht des Rehabilitationsträgers bei selbstbeschafften Maßnahmen regelt, hier nicht zum Tragen. Der Beklagte hätte, da eine selbstbeschaffte Maßnahme nicht vorliegt, auch nicht "maßnahmeoffen" entscheiden können (vgl. dazu für den Fall selbstbeschaffter Hilfen BVerwG, Urteil vom 11.8.2005 -5 C 18.04-, BVerwGE 124, 83, 91 f.). Vielmehr hätte er die Auswirkungen eines Therapeutenwechsels bei seiner Entscheidung in Rechnung stellen müssen. Ob ein etwaiger Therapeutenwechsel den Erfolg der Therapie möglicherweise infrage gestellt hätte, kann im Ergebnis jedoch dahinstehen. Die Kammer braucht den Sachverhalt insoweit nicht weiter aufzuklären, weil dem Beklagten der Mehrkosteneinwand aus einem anderen Rechtsgrund versagt ist.

20

Denn für den Erfolg dieses Einwands ist vorausgesetzt, dass der Leistungsträger dem Leistungsberechtigten eine zumutbare konkrete Alternative der Bedarfsdeckung nachweist und anbietet (für das Jugendhilferecht, OVG Lüneburg, Urteil vom 19.3.2003 -4 LB 111/02-, NDV-RD 2003, 81, insoweit vom BVerwG in der o.a. zitierten Revisionsentscheidung vom 11.8.2005 unbeanstandet gelassen; OVG Münster, Urteil vom 14.3.2003 -12 A 122/02-, NVwZ-RR 2003, 867, 868; zur rechtsähnlichen Vorschrift des § 3 Abs. 2 Satz 3 BSHG, BVerwG, Beschluss vom 2.9.2004 -5 B 18.04-, FEVS 57, 54, 55; Urteil vom 2.9.1993 -5 C 50.91-, BVerwGE 94, 127, 130; Urteil vom 22.10.1992 -5 C 11.89-, BVerwGE 91, 114, 116). Daran fehlt es hier.

21

In dem angefochtenen Bescheid vom 22. März 2005 verweist der Beklagte lediglich auf Verwaltungsrichtlinien, nach denen bei Legasthenietherapeuten in Ausbildung, wie Herrn N., lediglich ein Satz von 23.- Euro je Therapieeinheit bewilligt werde. Er hätte jedoch - wenn er, wofür einiges spricht, die bei einem Stundensatz von 36,00 € aufgetretenen Mehrkosten gegenüber einem Satz von 23,00 € zu Recht als unverhältnismäßig ansah - dem Kläger konkret anbieten müssen, die Therapie durch einen anderen ebenso geeigneten und zu zumutbaren Bedingungen arbeitenden und erreichbaren Therapeuten, der seine Leistung zu dem Stundensatz von 23,00 € anbot, durchzuführen. Das hat er - wie die Beweisaufnahme bestätigt hat - weder im angefochtenen Bescheid noch bei anderer Gelegenheit getan. Der Umstand, dass den Eltern des Klägers die entsprechenden Verwaltungsrichtlinien bekannt waren und sie bei Antragstellung noch einmal ausdrücklich auf die darin enthaltene Kostenbegrenzung hingewiesen wurden, spielt insoweit keine Rolle. Denn weder dieser Hinweis noch die Verwaltungsrichtlinien sind geeignet, die Rechtslage zu modifizieren.

22

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat die Kammer sogar - ohne dass es rechtlich noch darauf ankommt - erhebliche Zweifel daran gewinnen müssen, dass es dem Beklagten, selbst wenn er gewollt hätte, gelungen wäre, einen Therapeuten zu benennen, der für die Stundensätze der Richtlinien tätig geworden wäre. Zwar haben wohl viele Therapeuten, wie auch der den Kläger behandelnde Therapeut N. und die Vorsitzende der Gesellschaft der Legasthenietherapeuten, die Richtlinien gegenüber dem Beklagten pauschal als für sie verbindlich anerkannt und damit suggeriert, sie würden zu den darin bezeichneten Stundensätzen arbeiten, tatsächlich aber von den Eltern der betroffenen seelisch behinderten Kinder erheblich höhere Beträge verlangt. Diese offenbar weit verbreitete Praxis entspricht jedoch - das sei noch einmal hervorgehoben - nicht der Rechtslage nach dem SGB VIII, welches eine Eigenbeteiligung der Leistungsberechtigten im Rahmen von § 35 a SGB VIII nicht kennt.

23

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.

24

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.