Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 24.10.2012, Az.: 5 LA 313/11

Qualifizierung von Aufwendungen zu einer operativen Verkleinerung der Brust (sog. Mamma-Reduktionsplastik) als "notwendig" i.S.d. § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BhV

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
24.10.2012
Aktenzeichen
5 LA 313/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 25967
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2012:1024.5LA313.11.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 08.07.2011 - AZ: 2 A 3363/10

Fundstelle

  • NVwZ-RR 2013, 197-198

Amtlicher Leitsatz

Zur Frage, ob die Aufwendungen zu einer operativen Verkleinerung der Brust (sog. Mamma-Reduktionsplastik) notwendig im beihilferechtlichen Sinne sind.

Gründe

1

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Denn die Voraussetzungen der geltend gemachten Zulassungsgründe sind nicht erfüllt.

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1. Die Voraussetzungen des Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen nicht vor.

3

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung sind erst dann zu bejahen, wenn bei der Überprüfung im Zulassungsverfahren, also aufgrund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts, gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zu Tage treten, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg. Das ist der Fall, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird. Die Richtigkeitszweifel müssen sich auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zur Änderung der angefochtenen Entscheidung führt. Um ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils darzulegen, muss sich der Zulassungsantragsteller substantiiert mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Welche Anforderungen an Umfang und Dichte seiner Darlegung zu stellen sind, hängt deshalb auch von der Intensität ab, mit der die Entscheidung des Verwaltungsgerichts begründet worden ist. Ist das angegriffene Urteil auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, müssen hinsichtlich aller dieser Begründungen Zulassungs-gründe hinreichend dargelegt werden (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 25.4.2008 - 5 LA 154/07 -).

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Ausgehend von diesen Grundsätzen führt das Vorbringen der Klägerin nicht zur Zulas-

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sung der Berufung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die Klägerin hat keine gewichtigen, gegen die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung sprechenden Gründe aufgezeigt, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg. Das Verwaltungsgericht ist rechtsfehlerfrei zu der Einschätzung gelangt, dass die Beklagte nicht verpflichtet ist, der Klägerin für die operative Verkleinerung der Brust (sog. Mamma-Reduktionsplastik) ihrer jetzt 21 Jahre alten Tochter Beihilfe zu gewähren. Der Senat macht sich die zutreffende Begründung des angefochtenen Urteils (UA S. 4 - 5) zu eigen und verweist auf sie (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

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Im Hinblick auf das Vorbringen der Klägerin im Zulassungsverfahren ist das Folgende hervorzuheben bzw. zu ergänzen:

7

Das Verwaltungsgericht hat entgegen der Ansicht der Klägerin seiner Entscheidung nicht einen fehlerhaften Krankheitsbegriff zugrunde gelegt; es hat die von der Tochter der Klägerin gewünschte operative Verkleinerung ihrer Brust zutreffend nicht als im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BhV notwendig eingestuft. Die Tochter der Klägerin leidet - was auch die Klägerin nicht in Zweifel zieht - nicht an einer organischen Störung der Brust. Es ist rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht bei der Prüfung der Frage, ob eine Krankheit die Operation notwendig macht, nicht eine "ganzheitliche" Betrachtung vorgenommen und auch die orthopädischen und psychischen Beeinträchtigungen, unter denen die Tochter der Klägerin leidet, einbezogen hat. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts stimmt insoweit mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts überein, das in seinem Beschluss vom 30. September 2011 (- BVerwG 2 B 66.11 -, [...] Rn 7 ff.) zum beihilferechtlichen Krankheitsbegriff und zum Begriff der beihilferechtlichen Notwendigkeit von Aufwendungen als Voraussetzung für die Beihilfegewährung das Folgende ausgeführt hat:

"7

Die Beihilfegewährung dient der Erstattung von Aufwendungen, die aus Anlass einer Krankheit entstanden sind (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 BhV; nunmehr § 1 Satz 1, §§ 12 f. BBhV). Da die Beihilfevorschriften keinen eigenständigen Krankheitsbegriff statuieren, ist grundsätzlich auf den sozialversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V und die dazu ergangene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zurückzugreifen (Urteil vom24. Februar 1982 - BVerwG 6 C 8.77 - BVerwGE 65, 87 <91> = Buchholz 238.4 § 30 SG Nr. 5 S. 5; Beschluss vom 4. November 2008 - BVerwG 2 B 19.08 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 370 Rn. 4). Danach ist Krankheit ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Zustand des Körpers oder des Geistes, der ärztlicher Behandlung bedarf oder - zugleich oder ausschließlich - Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Jemand ist krank, wenn er in seiner Körperfunktion beeinträchtigt ist oder an einer anatomischen Abweichung leidet, die entstellend wirkt (Urteile vom 24. Februar 1982 a.a.O. und Beschluss vom 4. November 2008 a.a.O.;BSG, Urteile vom 10. Februar 1993 - 1 RK 14/92 - BSGE 72, 96 <98>; vom 19. Oktober 2004 - B 1 KR 3/03 R - BSGE 93, 252 Rn. 4 f.; vom 28. Februar 2008 - B 1 KR 19/07 R - BSGE 100, 119 Rn. 11 [BSG 28.02.2008 - B 1 KR 19/07 R] und vom 28. September 2010 - B 1 KR 5/10 R - NJW 2011, 1899 Rn. 10).

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Danach steht außer Frage, dass Störungen, die sowohl mit seelischen als auch mit körperlichen Beeinträchtigungen verbunden sind, vom beihilferechtlichen Krankheitsbegriff erfasst werden. Es kommt darauf an, ob das Krankheitsbild sowohl körperlicher als auch seelischer Natur ist (BSG, Urteil vom 28. September 2010 a.a.O. Rn. 15). Hierfür reicht nicht aus, dass das subjektive Empfinden des Betroffenen, sein körperlicher Zustand sei unzulänglich, psychische Störungen hervorruft. Subjektive Wahrnehmungen sind ohne Bedeutung für die Frage, ob eine körperliche Krankheit vorliegt. Maßgeblich sind objektive Kriterien, insbesondere der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse (BSG, Urteile vom 19. Oktober 2004 a.a.O. Rn. 5 f.; vom 28. Februar 2008 a.a.O. Rn. 16 und vom 28. September 2010 a.a.O. Rn. 14).

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Diesen Krankheitsbegriff hat das Oberverwaltungsgericht seiner tatsächlichen und rechtlichen Würdigung zugrunde gelegt, wobei es Bezug auf die Senatsrechtsprechung genommen hat. Es hat den gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindend festgestellten Sachverhalt dahingehend gewürdigt, dass es sich bei der geringen Körpergröße der Tochter des Klägers objektiv nicht um eine Krankheit gehandelt hat. Das Oberverwaltungsgericht hat lediglich eine psychische Störung angenommen, die sich wegen des Empfindens der Unzulänglichkeit aufgrund der geringen Körpergröße ausgeprägt hat. Diese tatsächlichen Feststellungen lassen eine rechtliche Würdigung nicht zu, die Krankheit der Tochter des Klägers sei "ganzheitlich", d.h. körperlicher und seelischer Art. Vielmehr kann daraus nur der Schluss auf eine ausschließlich psychische Erkrankung gezogen werden.

...

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Der Begriff der beihilferechtlichen Notwendigkeit von Aufwendungen als Voraussetzung für die Beihilfengewährung (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BhV; nunmehr § 6 Abs. 1 Satz 1 BBhV) ist in der Rechtsprechung des Senats geklärt. Danach sind Aufwendungen dem Grund nach notwendig, wenn sie für eine medizinisch gebotene Behandlung entstanden sind, die der Wiedererlangung der Gesundheit, der Besserung oder Linderung von Leiden sowie der Beseitigung oder zum Ausgleich körperlicher Beeinträchtigungen dient. Entsprechend dem Zweck der Beihilfengewährung müssen die Leiden und körperlichen Beeinträchtigungen Krankheitswert besitzen. Die Behandlung muss darauf gerichtet sein, die Krankheit zu therapieren. Zusätzliche Maßnahmen, die für sich genommen nicht die Heilung des Leidens herbeiführen können, können als notwendig gelten, wenn sie die Vermeidung oder Minimierung von mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Behandlungsrisiken und Folgeleiden bezwecken (Urteil vom 7. November 2006 - BVerwG 2 C 11.06 - BVerwGE 127, 91 [BVerwG 07.11.2006 - BVerwG 2 C 11.06] = Buchholz 237.8 § 90 RhPLBG Nr. 2 <jeweils Rn. 13>).

12

Der beihilferechtliche Begriff der Notwendigkeit krankheitsbedingter Aufwendungen entspricht jedenfalls im hier maßgebenden Bereich inhaltlich dem Begriff der Notwendigkeit einer Krankenbehandlung im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Nach dieser Regelung muss die Behandlung notwendig sein, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts fehlt es an der Notwendigkeit im Sinne des§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V für operative Eingriffe in den gesunden Körper, durch die psychischen Krankheiten entgegengewirkt werden soll, die auf einen subjektiv als unzulänglich empfundenen körperlichen Zustand ohne Krankheitswert zurückzuführen sind. Denn nach dem gegenwärtigen Stand der medizinischen Erkenntnisse ist generell zweifelhaft, ob derartige Eingriffe zur Überwindung einer psychischen Krankheit geeignet sind. Die psychischen Wirkungen der körperlichen Veränderungen können nicht eingeschätzt werden, insbesondere ist nach dem Eingriff eine Symptomverschiebung zu besorgen. Hinzu kommt, dass der operative Eingriff dem subjektiven Empfinden des Betroffenen geschuldet ist, der eine körperliche Eigenschaft als belastend empfindet und sich damit nicht abfindet. Letztlich müssten Schönheitsoperationen auf Kosten der Allgemeinheit durchgeführt werden, wenn psychotherapeutische Maßnahmen nicht helfen, weil der Betroffene auf den Eingriff fixiert ist (BSG, Urteile vom 10. Februar 1993 a.a.O. S. 98 f.; vom 9. Juni 1998 - B 1 KR 18/96 R - BSGE 82,158 [BSG 09.06.1998 - B 1 KR 18/96 R]<163 f.>; vom 19. Oktober 2004 a.a.O. Rn. 7 f. und vom 28. September 2010 a.a.O. Rn. 14).

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Diese Erwägungen gelten gleichermaßen für die Auslegung des Begriffs der beihilferechtlichen Notwendigkeit. Sie schließen aus, die Notwendigkeit einer Operation zur Veränderung des Aussehens davon abhängig zu machen, ob die medizinisch gebotene psychotherapeutische Behandlung im konkreten Fall (noch) Erfolg verspricht."

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Nach Maßgabe dieser Grundsätze begegnet es keinen ernstlichen Richtigkeitszweifeln im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, dass das Verwaltungsgericht nach Würdigung der vorliegenden amtsärztlichen Stellungnahmen einerseits und der von der Klägerin vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen andererseits zu der Einschätzung gelangt ist, dass die orthopädischen und die psychischen Beschwerden der Tochter der Klägerin die operative Verkleinerung der Brust nicht im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BhV notwendig machen. Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Tochter der Klägerin hinsichtlich der orthopädischen Beschwerden noch nicht alle konservativen Maßnahmen ausgeschöpft hat und dass eine psychotherapeutische Behandlung nicht von vornherein ungeeignet ist, die psychischen Beschwerden der Tochter der Klägerin zu überwinden.

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2. Die Berufung ist auch nicht gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO zuzulassen.

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Soweit die Klägerin rügt, dass das Verwaltungsgericht es pflichtwidrig unterlassen habe, die für die Beurteilung relevanten Fragestellungen einer Krankheitssymptomatik gemäß § 86 Abs. 1 VwGO im Wege einer Beweisaufnahme aufzuklären, muss sie sich entgegenhalten lassen, dass sie in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht, in der sie durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten vertreten war, einen formellen Beweisantrag im Sinne des § 86 Abs. 2 VwGO nicht gestellt hat. Bei dieser Sachlage käme ein Verstoß des Verwaltungsgerichts gegen seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts nur dann in Betracht, wenn sich ihm eine Beweisaufnahme hätte aufdrängen müssen (vgl. BVerwG,Beschluss vom 14.1.2004 - BVerwG 2 B 30.03 -; Nds. OVG, Beschluss vom 24.7.2008 - 5 LA 168/07 -; Beschluss vom 11.10.2012 - 5 LA 257/11 -). Eine solche Situation war hier indes nicht gegeben. Denn einer Beweiserhebung bedurfte es nach dem materiellrechtlich zutreffenden Standpunkt des Verwaltungsgerichts, auf den insoweit abzustellen ist (vgl. BVerwG; Beschluss vom 30.9.2011, a.a.O., Rn 16 f.; Nds. OVG, Beschluss vom 7.4.2009 - 5 LA 129/08 -; Beschluss vom 11.10.2012 - 5 LA 257/11 -), nicht.

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Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124 a Abs. 5 Satz 4 VwGO).