Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 29.11.2005, Az.: 14 U 83/05
Schadenersatzpflicht bei auf Grund verbotswidrigen Verhaltens eines Radfahrers herbeigeführter Kollision mit einem geringfügig zu schnell fahrenden anderen Radfahrer
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 29.11.2005
- Aktenzeichen
- 14 U 83/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 27580
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2005:1129.14U83.05.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Verden - 08.03.2005 - AZ: 5 O 67/04
Rechtsgrundlage
- § 3 Abs. 1 S. 4 StVO
Fundstelle
- OLGReport Gerichtsort 2006, 197-198
Amtlicher Leitsatz
Wer als erwachsener Radfahrer verbotswidrig auf einem links befindlichen Fuß und Radweg fährt und auch eine für ihn "rot" zeigende Ampel nicht beachtet, wodurch es zu einer Kollision mit einem anderen Radfahrer kommt, dem allenfalls ein geringfügiges Zuschnellfahren vorzuwerfen ist, hat den entstandenen Schaden allein zu tragen.
In dem Rechtsstreit
hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 1. November 2005
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... und
die Richter am Oberlandesgericht ... und ...
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Grund und Teilurteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Verden vom 8. März 2005 wird zurückgewiesen.
Auf die Berufung des Beklagten wird dieses Urteil abgeändert und neu gefasst wie folgt:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Streitwert des Berufungsverfahrens: 29.058 EUR.
Gründe
I.
Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen wird Bezug genommen auf das angefochtene Urteil (Bl. 129 d. A.).
Das Landgericht ist der Ansicht, der Schaden aus dem Urteil müsse hälftig verteilt werden. Deshalb hat es den auf Zahlung gerichteten Klageantrag zu 1 dem Grund nach zur Hälfte und den Klageantrag zu 2, mit dem die Klägerin die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes begehrt, in Höhe des bei einer Mitverantwortung der Klägerin von 50 % angemessenen Betrags für gerechtfertigt erklärt. Darüber hinaus hat das Landgericht den Beklagten verurteilt, an die Klägerin ein (Teil)Schmerzensgeld in Höhe von 3.000 EUR nebst Zinsen zu zahlen. Zudem hat es noch festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die Hälfte aller zukünftigen immateriellen und materiellen Schäden zu ersetzen, die ihr noch aus dem streitbefangenen Verkehrsunfall entstehen, soweit diese Ansprüche nicht gesetzlich übergegangen sind oder noch übergehen.
Gegen dieses Urteil wenden sich beide Parteien mit ihrer Berufung.
Die Klägerin ist der Ansicht, sie treffe kein Mitverschulden. Insbesondere habe sie sich nicht verbotswidrig der Unfallstelle genähert, weil im Unfallbereich der Radweg in beide Richtungen freigegeben gewesen sei. Der Unfall habe sich allein deshalb ereignet, weil der Beklagte nicht auf Sicht und zu schnell gefahren sei. Sie hätte sich nicht anders verhalten können.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landgerichts abzuändern und den Klageantrag zu 1 zu 100 % für gerechtfertigt zu erklären vorbehaltlich des gesetzlichen Übergangs des Anspruchs auf Sozialversicherungsträger oder Dritte; den Klageantrag zu 2 auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes dem Grunde nach in Höhe von 100 % des angemessenen Betrages für gerechtfertigt zu erklären; den Beklagten zu verurteilen, an sie ein Teilschmerzensgeld in Höhe von 6.000 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 11. März 2004 zu zahlen; festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr noch entstehen aus dem Verkehrsunfall vom 1. Juli 2003 in O., S. Straße, Ecke M., soweit nicht die Ansprüche der Klägerin gesetzlich übergegangen sind oder noch übergehen werden auf Sozialleistungsträger oder andere Dritte.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen und - auf seine Berufung - das Urteil des Landgerichts abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Der Beklagte meint, der Unfall sei allein auf das fahrlässige Verhalten der Klägerin zurückzuführen. Sie sei verbotswidrig auf dem linksseitigen Fuß und Radweg gefahren. Hätte sie sich stattdessen korrekt verhalten (und wäre auf der anderen Straßenseite gefahren), wäre es nicht zu dem Verkehrsunfall gekommen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II.
Beide Berufungen sind zulässig, Erfolg hat aber nur die des Beklagten.
1.
Die Berufung der Klägerin ist unbegründet. Die Klägerin kann von dem Beklagten nicht nach §§ 823 f., 253 f. BGB Schadensersatz verlangen, weil ein Verschulden des Beklagten nicht vorliegt.
a)
Der Beklagte hat nicht gegen das Sichtfahrgebot gemäß § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO verstoßen. Die in der Akte befindlichen Lichtbilder (insbesondere Bild 5 a und 5 b auf Bl. 8 f. der Beiakte 138 Js 6790/04 StA Verden; vgl. auch die Bilder 1 und 2 im Gutachten des Sachverständigen M. vom 6. Januar 2005, dort Bl. 20 f.) zeigen, dass der Beklagte bei seiner Fahrt mit dem Fahrrad auf dem rechtsseitigen kombinierten Rad und Gehweg entlang der S. Straße in Richtung Einmündung M. auch den Überweg einschließlich der gegenüberliegenden für ihn maßgeblichen Fußgänger/Fahrradampel überschauen konnte (vgl. vor allem Bild 2 im Sachverständigengutachten). Seine Sicht wäre nur eingeschränkt gewesen, wenn er hätte nach rechts abbiegen wollen. Er wollte indes geradeaus weiterfahren. In diese Richtung war seine Sicht nicht beeinträchtigt. Dass der Beklagte die Klägerin nicht hat sehen können, kann ihm nicht angelastet werden. Das Sichtfahrgebot des § 3 Abs. 1 StVO dient nicht dazu, verkehrswidriges Verhalten anderer abzusichern.
b)
Ob die Geschwindigkeit des Beklagten aus sonstigen Gründen zu hoch war, kann dahinstehen.
Nach den Berechnungen des Sachverständigen M. in seinem Gutachten vom 6. Januar 2005 ergibt sich zwar für den Beklagten eine Annäherungsgeschwindigkeit im Bereich von 25 bis 30 km/h (S. 16, 18 des Gutachtens). Diese Geschwindigkeit ist für einen Radfahrer im Straßenverkehr relativ hoch, auch wenn man berücksichtigt, dass die für den Beklagten maßgebliche Fußgänger/Fahrradampel nach der Aussage des Zeugen Q. "grün" zeigte, als sich der Beklagte auf sie zu bewegte. Der Sachverständige stellt aber fest, dass das Unfallgeschehen trotz des überraschenden und verbotswidrigen Verhaltens der Klägerin, mit dem der Beklagte nicht zu rechnen und wogegen er keine Vorsorge zu treffen hatte, vermeidbar gewesen wäre, wenn er im Augenblick der Erkennbarkeit der Klägerin mit einer nur um etwa 3 bis 4 km/h langsameren Geschwindigkeit gefahren wäre (S. 18, 19 des Gutachtens). Der Beklagte ist demnach auch bei Berücksichtigung des verkehrswidrigen Verhaltens der Klägerin lediglich 10 bis 15 % zu schnell gefahren. Das ist schon an sich relativ wenig. Im Verhältnis zum eindeutigen und gravierenden Verkehrsverstoß der Klägerin (dazu gleich unter Ziffer 2.) fällt es jedenfalls nicht ins Gewicht.
c)
Nicht nachvollziehbar ist, wie das Landgericht zu der Auffassung gelangen konnte, der Beklagte habe seine Verpflichtung als Fahrzeugführer gegenüber älteren Menschen gemäß § 3 Abs. 2 a) StVO missachtet (LGU 6). Schon die amtliche Begründung zu dieser Vorschrift hält fest, dass von dem Fahrzeugführer nur dann die erhöhte Sorgfalt verlangt werden könne, wenn er "die geschützten Personen sieht oder bei dem hier zu fordernden Maß an Sorgfalt hätte sehen oder nach den Umständen mit ihnen hätte rechnen müssen" (vgl. Hentschel a. a. O., Rn. 10 a)). Wie erwähnt musste der Beklagte nicht damit rechnen, dass sich ein älterer Radfahrer aus der Richtung, aus der die Klägerin kam, näherte.
d)
Da der Fahrradweg in der von der Klägerin benutzten Richtung nicht freigegeben war, kann sie sich auch nicht auf ein etwaiges Vorfahrtsrecht gegenüber dem Beklagten berufen, umso mehr als im Moment des Zusammenstoßes die Verkehrsampel für Linksabbieger (vgl. Bild 2 in der Ermittlungsakte, Bild 6 im Gutachten) "rot" gezeigt haben muss, wenn die für den Beklagten verbindliche Ampel - wie erwähnt - "grün" hatte.
2.
Die Berufung des Beklagten ist begründet. Der Unfall beruht auf einem ganz überwiegenden Verschulden der Klägerin. Deshalb war ihre Klage insgesamt abzuweisen.
Unstreitig ist die Klägerin verbotswidrig auf dem linksseitigen Fuß und Radweg gefahren. Dass der von der Klägerin benutzte Weg erst unmittelbar vor dem Unfallort in beide Richtungen freigegeben war (vgl. das Lichtbild auf S. 3 des Sachverständigengutachtens sowie Bild 1 auf Bl. 6 der Ermittlungsakte), kommt der Klägerin nicht zugute. Sie kann daraus nicht herleiten, ihre verkehrswidrige Fahrweise zuvor sei dadurch "erledigt". Denn ohne diese wäre es insgesamt nicht zu dem Verkehrsunfall gekommen. Wenn die Klägerin sich vorschriftsmäßig verhalten und zunächst den rechtsseitigen Radweg neben der Fahrbahn M. benutzt hätte, um über den markierten Weg den Einmündungsbereich in die S. Straße zu queren und anschließend entlang dieser in Richtung B. weiterzufahren, wäre sie für den entgegenkommenden Beklagten frühzeitig erkennbar gewesen und er hätte seine Geschwindigkeit anpassen können (vgl. S. 17 und 19 des Gutachtens M.). Sie wäre dann außerdem auch nicht aus der für den Beklagten überraschenden Richtung von rechts auf die Unfallstelle zugekommen. Der Zusammenstoß hätte dann in der konkreten Art und Weise nicht geschehen können. Die Klägerin hätte es demnach in der Hand gehabt, nur durch ihr verkehrsgerechtes Verhalten den Unfall zu vermeiden. Wenn die Klägerin aber schon verbotswidrig auf dem linksseitigen Fuß und Radweg fuhr, hätte sie die links befindliche Autofahrerampel beachten und in Rechnung stellen müssen, dass von links kommende Radfahrer "grün" hatten und daher in einem Zug über die Straße fahren würden. Selbst wenn sie meinte, wie in der mündlichen Verhandlung erneut zum Ausdruck gekommen ist, die Ampel gelte für sie nicht, hätte sie wegen des zu erwartenden Querverkehrs rechtzeitig anhalten und vom Fahrrad steigen müssen, was problemlos möglich gewesen wäre. Auch dann wäre es nicht zu dem Unfall gekommen. Damit trägt sie letztlich allein die Schuld. Es ist deshalb gerechtfertigt, einen den Beklagten möglicherweise treffenden Schuldvorwurf, dass er unter den gegebenen Umständen relativ schnell mit dem Fahrrad gefahren ist, im Verhältnis zu dem groben Verkehrsverstoß der Klägerin völlig zurücktreten zu lassen.
3.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 108 Abs. 1 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision, wie sie § 543 Abs. 2 ZPO voraussetzt, werden nicht dargelegt und sind auch nicht ersichtlich.
Streitwertbeschluss:
Streitwert des Berufungsverfahrens: 29.058 EUR.
Zur Höhe des Streitwerts nimmt der Senat Bezug auf seinen Beschluss vom 27. Juni 2005 (Bl. 187 d. A.).