Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 28.05.2019, Az.: L 8 SO 109/19 B ER

Vorläufig zu erbringende Leistungen nach dem SGB II während eines Klageverfahrens gegen die Feststellung des Verlusts eines Freizügigkeitsrechts; Ausnahme von Leistungsausschlüssen; Keine Tatbestandswirkung einer Verlustfeststellung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
28.05.2019
Aktenzeichen
L 8 SO 109/19 B ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 25843
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - 05.04.2019 - AZ: S 33 SO 48/19 ER

Redaktioneller Leitsatz

1. Die Ausnahme nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II von den Leistungsausschlüssen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II kann vorliegen, wenn der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG festgestellt wurde, aber gegen die Feststellung Widerspruch erhoben worden ist und der Widerspruch aufschiebende Wirkung hat.

2. Eine Verlustfeststellung hat in diesem Zusammenhang keine Tatbestandswirkung.

Tenor:

Die Beschwerde des Beigeladenen gegen den Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 5. April 2019 wird zurückgewiesen.

Der Beigeladene hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch für das Beschwerdeverfahren zu erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.

Gründe

I.

Im Streit sind einem Unionsbürger während des Klageverfahrens gegen die Feststellung des Verlusts seines Freizügigkeitsrechts vorläufig zu erbringende Leistungen nach dem SGB II.

Der 1954 geborene Antragsteller ist französischer Staatsangehöriger, hält sich nach eigenen Angaben seit 1996 mit Unterbrechungen und seit 2004 dauerhaft in Deutschland auf und bezog bis September 2018 vom beigeladenen Jobcenter (vorläufig) Existenz sichernde Leistungen nach dem SGB II.

Nachdem das Migrationsamt der Freien Hansestadt Bremen festgestellt hatte, dass der Antragsteller keine Freizügigkeit nach dem FreizügG/EU genieße, und seinen Antrag auf Bestätigung eines Daueraufenthaltsrechts unter Setzung einer Ausreisefrist von einem Monat abgelehnt hatte (Bescheid vom 4. Juni 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. November 2018; Klage anhängig beim Verwaltungsgericht - VG - Bremen - 2 K 2994/18 -), lehnte der Beigeladene die Bewilligung von laufenden Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab Oktober 2018 ebenfalls ab (Bescheid vom 27. November 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2019). Der Antragsteller erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Sozialgericht (SG) Bremen, über die noch nicht rechtskräftig entschieden ist (- S 35 AS 416/19 -). Sein noch vor Klageerhebung gegen den Beigeladenen geführtes Eilverfahren hatte keinen Erfolg (Beschluss des SG Bremen vom 29. Januar 2019 - S 42 AS 2502/18 ER -).

Am 6. März 2019 hat der Antragsteller erneut beim SG um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht, um eine Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII oder AsylbLG zu erreichen. Wegen der Ablehnung dieser Leistungen durch Bescheid des Antragsgegners vom 18. Februar 2019 ist ein Widerspruchsverfahren anhängig. Zusätzlich hat der Antragsteller am 20. März 2019 erneut einen Leistungsantrag beim Beigeladenen gestellt. Das SG hat den Beigeladenen (Beiladungsbeschluss vom 22. März 2019) durch Beschluss vom 5. April 2019 in entsprechender Anwendung des § 75 Abs. 5 SGG im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig unter dem Vorbehalt der Rückforderung Arbeitslosengeld II ab dem 21. März bis zum 31. August 2019, längstens jedoch bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, zu gewähren. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, dass einer Verpflichtung des Beigeladenen die materielle Rechtskraft des Beschlusses des SG vom 29. Januar 2019 nicht entgegenstehe, weil mit dem im März 2019 gestellten Neuantrag auf Leistungen nach dem SGB II eine zeitliche Zäsur eingetreten sei. In der Sache habe der Antragsteller einen Leistungsanspruch gegen den Beigeladenen glaubhaft gemacht, weil er die personenbezogenen Voraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfülle und wegen der Härteregelung des § 7 Abs. 1 Satz 4 bis 6 SGB II (fünfjähriger gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland) nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen sei. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats (Beschluss vom 6. November 2017 - L 8 SO 262/17 B ER - juris) sei die Härteregelung trotz § 7 Abs.1 Satz 4 2. Halbsatz SGB II auch mit Vorliegen der Verlustfeststellung des Migrationsamtes anwendbar, weil der gegen diese gerichteten und beim VG anhängigen Klage (- 2 K 2994/18 -) aufschiebende Wirkung zukomme.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Beigeladenen vom 2. Mai 2019. Er macht geltend, auch im Falle der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen eine Verlustfeststellung sei eine Leistungsgewährung nach der Härteregelung bei einem fünfjährigen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gemäß § 7 Abs. 1 Satz 4 2. Halbsatz SGB II ausgeschlossen. Der Antragsteller erachtet die Entscheidung des SG für zutreffend. Der Antragsgegner hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II.

Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegte und auch zulässige, insbesondere statthafte (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) Beschwerde des Beigeladenen ist unbegründet. Das SG hat den Beigeladenen zu Recht gemäß § 86b Abs. 2 SGG zu einer vorläufigen Gewährung von Existenz sichernden Leistungen nach dem SGB II verpflichtet.

Der Senat weist die Beschwerde des Beigeladenen aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück und sieht - bis auf die folgenden Ausführungen - gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG von einer weiteren Begründung ab.

Das SG hat zu Recht über den Eilantrag in der Sache entschieden, weil der zuvor ergangene Beschluss des SG vom 29. Januar 2019 keine Präklusionswirkung aufgrund materieller Rechtskraft entfaltet (vgl. allg. hierzu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 12. Aufl. 2017, § 141 Rn. 5 ff.). Die Gerichtsentscheidungen betreffen unterschiedliche Streitgegenstände. Gegenstand des früheren Eilverfahrens in der Hauptsache ist der Bescheid vom 27. November 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2019 gewesen; das SG hat insoweit den auf eine vorläufige Leistungsgewährung während des Verwaltungsverfahrens gerichteten Eilantrag abgelehnt. Das vorliegende Eilverfahren betrifft den Leistungsantrag des Antragstellers vom 20. März 2019, über den der Beigeladene nach Prüfung der Voraussetzungen eines Leistungsanspruchs nach dem SGB II erneut für die Zeit ab 1. März 2019 (§ 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II) zu entscheiden hat. Damit hat das SG zutreffend auf das Vorliegen einer Zäsur im Sachverhalt abgestellt. Mit Vorliegen der erneuten Entscheidung des Beigeladenen dürfte sich zudem der Gegenstand des beim SG gegen die Ablehnungsentscheidung des Beigeladenen vom 27. November 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2019 geführten Klageverfahrens (nur noch) auf die Zeit von Oktober 2018 bis Februar 2019 erstrecken, weil sich der Ablehnungsbescheid für den durch die erneute Entscheidung geregelten Zeitraum gemäß § 39 Abs. 2 SGB X auf andere Weise erledigt (vgl. BSG, Urteil vom 2. Februar 2010 - B 8 SO 21/08 - juris Rn. 9).

Der seit mindestens 14 Jahren in Deutschland lebende Antragsteller hat nicht nur die besondere Dringlichkeit einer gerichtlichen Entscheidung (Anordnungsgrund), sondern auch einen Leistungsanspruch aufgrund der Härtefallregelung des § 7 Abs. 1 Satz 4 bis 6 SGB II glaubhaft gemacht. Nach Satz 4 der Regelung erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen abweichend von dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 des FreizügG/EU festgestellt wurde. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, nach der die Ausnahme nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II von den Leistungsausschlüssen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II eingreifen kann, wenn der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG festgestellt wurde, aber gegen die Feststellung Widerspruch erhoben worden ist und der Widerspruch aufschiebende Wirkung hat. Der Verlustfeststellung kommt insoweit keine Tatbestandswirkung zu (Senatsbeschluss vom 6. November 2017 - L 8 SO 262/17 B ER - juris Rn. 29 f.; Hess. LSG, Beschluss vom 10. Juli 2018 - L 9 AS 142/18 B ER - juris Rn. 12; Sächs. LSG, Beschluss vom 20. März 2018 - L 3 AS 73/18 B ER - juris Rn. 39 ff.; Siefert in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 23 Rn. 83 m.w.N.; a.A.: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19. März 2018 - L 19 AS 133/18 B ER, L 19 AS 134/18 B - juris Rn. 9; LSG Hamburg, Beschluss vom 28. September 2017 - L 4 SO 55/17 B ER - juris Rn. 6; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Mai 2017 - L 15 AS 62/17 B ER - juris Rn. 11 f. und vom 25. November 2016 - L 11 AS 567/16 B ER - juris Rn. 17). Eine Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) der Verlustfeststellung des Migrationsamts liegt nach Aktenlage nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Antragsgegner hat seine außergerichtlichen Kosten selbst zu tragen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.