Vergabekammer Lüneburg
Beschl. v. 25.06.2024, Az.: VgK-12/2024

Ausschreibung zum Betrieb einer Flüchtlingsunterkunft; Rechtmäßigkeit einer Dringlichkeitsvergabe

Bibliographie

Gericht
VK Lüneburg
Datum
25.06.2024
Aktenzeichen
VgK-12/2024
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 23277
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

In dem Nachprüfungsverfahren
der xxxxxx,
Verfahrensbevollmächtigte: xxxxxx,
- Antragstellerin -
gegen
die xxxxxx,
- Antragsgegnerin -
beigeladen:
xxxxxx,
Verfahrensbevollmächtigte: xxxxxx,
- Beigeladene -
wegen
Betrieb Flüchtlingsunterkunft, Ausschreibung zur Gemeinschaftsunterkunft xxxxxx, Vergabenummer: xxxxxx
hat die Vergabekammer durch den Vorsitzenden RD Gaus, die hauptamtliche Beisitzerin Dipl.-Ökonomin Tarnowski und die ehrenamtliche Beisitzerin Dipl.-Ing. Anne-Kristin Menneke auf die mündliche Verhandlung vom 19.06.2024 beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Es wird festgestellt, dass die Antragstellerin durch die festgelegte Dauer der Auftragsvergabe der Antragsgegnerin in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB verletzt ist. Der Vertrag mit der Beigeladenen ist unwirksam, soweit die Vertragslaufzeit über den für die Vorbereitung, Durchführung und den rechtswirksamen Abschluss eines europaweiten förmlichen Vergabeverfahrens erforderlichen Zeitraum von 12 Monaten beginnend ab dem xxxxxx.2024 hinausgeht. Im Übrigen wird der Nachprüfungsantrag zurückgewiesen.

  2. 2.

    Die Kosten werden auf xxxxxx € festgesetzt.

  3. 3.

    Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Nachprüfungsverfahrens (Gebühren und Auslagen der Vergabekammer) zu 4/5 zu tragen. Die Antragsgegnerin ist jedoch von der Entrichtung der Kosten persönlich befreit.

    Die Antragstellerin hat die Kosten des Nachprüfungsverfahrens (Gebühren und Auslagen der Vergabekammer) zu 1/5 zu tragen.

  4. 4.

    Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Aufwendungen zu 4/5 zu erstatten. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts war für die Antragstellerin erforderlich.

    Die Antragstellerin hat der Antragsgegnerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Aufwendungen zu 1/5 zu erstatten.

Begründung

I.

Die Antragsgegnerin forderte insgesamt sechs Unternehmen im Rahmen einer freihändigen Vergabe gemäß § 3a Abs. 3 VOB/A auf, ein Angebot für den Betrieb einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete mit bis zu xxxxxx Plätzen in dem Dienstleistungszeitraum vom xxxxxx.2024 bis xxxxxx.2029 mit optionaler Verlängerung abzugeben. Die Vergabe eines Dienstleistungsauftrags an einen Betreiber umfasste sowohl Heimleitung, Betreuung durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, als auch Sicherheitsdienst und Reinigungsleistungen. Eine Bekanntmachung der Ausschreibung auf TED fand nicht statt.

Mit E-Mail vom 07.12.2023 informierte die xxxxxx seitens der Antragsgegnerin die Vergabestelle über die anstehende Zuweisung von Schutzsuchenden an die Stadt in Verbindung mit der geplanten Flüchtlingsunterkunft und fragte nach den zu beachtenden Formalien für die Durchführung eines Vergabeverfahrens bzw. ob es aktuell offizielle Informationen über vereinfachte Verfahren gebe und ob es möglich wäre, drei Angebote wie früher praktiziert einzuholen.

Mit E-Mail vom 17.01.2024 übermittelte die xxxxxx an die xxxxxx das Rundschreiben des NLT (Niedersächsischer Landkreistag) Nr. 45/2024 sowie das Rundschreiben des BMWK (Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz) vom 09.01.2024. In der E-Mail hieß es u.a.:

"das Bundeswirtschaftsministerium hat mit einem aktuellen Rundschreiben, weiches uns über den NLT erreicht hat, auf die im Vergaberecht bestehenden Möglichkeiten für Dringlichkeitsvergaben und andere vergaberechtliche Erleichterungen hingewiesen, um im Zusammenhang mit der Unterbringung und Versorgung von Schutzsuchenden schnell und effizient beschaffen zu können."

In dem Rundschreiben des NLT Nr. 45/2024 gab es folgenden Hinweis:

"Das BMWK unterstreicht dabei, dass im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb Angebote formlos und ohne die Beachtung konkreter Fristvorgaben eingeholt werden können und - abweichend von dem Grundsatz, so viel Wettbewerb wie möglich zu eröffnen - im Einzelfall auch nur ein Unternehmen angesprochen werden kann (z.B., wenn nur ein Unternehmen in der Lage ist, den Auftrag unter den durch die zwingende Dringlichkeit auferlegten technischen und zeitlichen Zwängen zu erfüllen)."

In dem Rundschreiben des BMWK vom 09.01.2024 hieß es für öffentliche Aufträge oberhalb der EU-Schwellenwerte gemäß § 106 GWB u.a.:

"Sind dringende Bau-, Liefer- oder Dienstleistungen für die Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten erforderlich, können diese im Einzelfall schnell und verfahrenseffizient insbesondere auch über das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach § 119 Abs. 5 GWB i. V. m. §§ 14 Abs. 4 Nr. 3, 17 VgV bzw. bei Bauleistungen i. V. m. § 3a EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A beschafft werden. Voraussetzung ist, dass

(1) ein unvorhergesehenes Ereignis vorliegt,

(2) äußerst dringliche und zwingende Gründe bestehen, die die Einhaltung der in anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen nicht zulassen und

(3) ein kausaler Zusammenhang zwischen dem unvorhergesehenen Ereignis und der Unmöglichkeit besteht, die Fristen anderer Vergabeverfahren einzuhalten.

Es kann davon ausgegangen werden, dass angesichts der derzeitigen Migrationslage die einzelnen öffentlichen Auftraggeber im Voraus nicht immer wussten oder wissen konnten, wie viele Schutzsuchende sie zu versorgen haben würden. Der konkrete Bedarf einzelner Gemeinden an Wohnraum, Lieferungen von Waren oder an Dienstleistungen für Schutzsuchende konnte dann nicht im Voraus geplant werden und kann deshalb als ein von der betreffenden Gemeinde nicht voraussehbares Ereignis gelten. Bei einer Erfüllung der unmittelbaren Bedürfnisse der Schutzsuchenden innerhalb kürzester Zeit können in der Regel auch keine begründeten Zweifel am Kausalzusammenhang zwischen dem Anstieg der Geflüchtetenzahlen und der Notwendigkeit, deren Bedürfnisse zu erfüllen, bestehen.

Angebote können im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb formlos und ohne die Beachtung konkreter Fristvorgaben eingeholt werden (angemessene Frist, vgl. § 20 VgV, nach Würdigung der Gesamtumstände im Dringlichkeitsfall auch sehr kurze Fristen (bis hin zu 0 Tagen) denkbar). § 17 Abs. 15 VgV stellt zudem klar, dass der öffentliche Auftraggeber bei der Durchführung eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb wegen äußerster Dringlichkeit nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV von den Formanforderungen gem. §§ 9 bis 13, 53 Abs. 1, 54, 55 VgV befreit ist.

im Sinne einer effizienten Verwendung von Haushaltsmitteln empfiehlt es sich, nach Möglichkeit mehrere Unternehmen zur Angebotsabgabe aufzufordern."

Aus dem Vermerk über laufende Kosten vom 26.01.2024 geht hervor, dass mit der monatlichen Vergütung für den Betrieb der Flüchtlingsunterkunft gemessen am Maßstab der Vergleichsobjekte für die Kapazität von ca. xxxxxx Plätzen von einem xxxxxx Betrag bei Vollbelegung voraussichtlich gerechnet worden sei.

In dem Vergabevermerk 111 - Wahl der Verfahrensart vom 11.03.2024 wurde freihändige Vergabe gemäß § 3a Abs. 3 VOB/A für die Wahl der Verfahrenswahl zugrunde gelegt. Begründet wurde diese Entscheidung mit:

"Freihändige Vergabe ist zulässig, wenn die Öffentliche Ausschreibung oder beschränkte Ausschreibung unzweckmäßig sind, besonders, wenn die Leistung besonders dringlich ist. Dies ist hier der Fall. Es wird Bezug genommen auf das Rundschreiben des Wirtschaftsministeriums zur Anwendung des Vergaberechts im Zusammenhang mit der Versorgung und Unterbringung von Schutzsuchenden vom 09.01.2024 (siehe Anlage)."

Unter Ziffer 2 (Ausschreibungsgegenstand) der Leistungsbeschreibung hieß es:

"Gegenstand sind der Betrieb und die Betreuung der Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerberinnen, Asylbewerber und Flüchtlinge der xxxxxx.

Schwerpunkte der zu erbringenden Leistung sind der Betrieb der Gemeinschaftsunterkunft und die soziale Betreuung der untergebrachten Personen. Zu den unabdingbaren Voraussetzungen gehören Erfahrungen im Bereich der besonderen Betreuung unterstützungsbedürftiger Personenkreise" (Hervorhebung durch die Vergabekammer)

Unter Ziffer 3.2 (Hinweise zu den einzelnen Positionen der Kostenkalkulation des Angebotes) der Leistungsbeschreibung wurde definiert:

"In der Kostenkalkulation (Anlage 8) des Angebotes muss der Bieter Angaben zu der Kostenkalkulation seines Angebotspreises machen. Maßgeblich für die Angebotswertung ist der Gesamtangebotspreis (brutto) pro Monat."

Die Antragsgegnerin forderte am xxxxxx.2024 fünf Unternehmen auf, ein Angebot für den Betrieb einer Gemeinschaftsunterkunft abzugeben. Im Rahmen der Angebotsfrist fand eine Vor-Ort-Besichtigung statt, nach der ein weiteres Unternehmen sein Interesse an dem laufenden Verfahren bekundete. Am xxxxxx.2024 wurde dieses Unternehmen ebenfalls zur Angebotsabgabe ohne die Angebotsfristverlängerung (xxxxxx.2024) aufgefordert.

Im Rahmen der Angebotsfrist wurden an die Vergabestelle Bieterfragen gerichtet. Unter anderem die u.s. Frage der Beigeladenen. Die Antwort darauf wurde von der Vergabestelle an die Beigeladene per E-Mail zur Abstimmung am 28.03.2024 um 13:27 Uhr versandt. Am 28.03.2024 um 13:47 Uhr wurde die Bieterfrage von der Beigeladenen um einen Absatz ergänzt sowie die Antwort auf die Bieterfrage dementsprechend angepasst. Die Bieterfrage hat in den Vermerk Bieterfragen vom 28.03.2024 Einzug genommen, der allen Bietern zur Verfü- gung gestellt wurde. Diese lautete:

"Zur Vermeidung einer Rüge bedarf es aus unserer Sicht zumindest einer transparenten Aufklärung zur nachfolgenden Beantwortung des Vermerks / Bieterfragen vom 27.03.2024:

[Frage] Besteht die Möglichkeit, ein Angebot mit unserer Schwestergesellschaft .... GmbH zu erstellen? Durch den steuerlichen Nachlass, haben auch Sie deutliche Vorteile bzgl. der Angebotssumme, da netto gleich brutto ist.

Insofern dies für Sie in Ordnung ist, erstellen wir Ihnen Ihr Angebot mit der ..... GmbH.

[Antwort] Diese Möglichkeit besteht.

Aus unserer Sicht gibt es objektive Anhaltspunkte, die Zweifel an der Eigenständigkeit des Angebotes des möglichen Bieters aufkommen fassen (Schwestergesellschaft). Zudem ist grundsätzlich die GmbH als eine gewinnorientierte Unternehmensform voll steuerpflichtig und kann Leistungen nicht "netto gleich brutto" anbieten. Es bestehen somit Anhaltspunkte, dass sich ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile verschafft werden sollen.

Zur Vereinfachung und schnellen Abhilfe bitten wir zu prüfen, für die Angebotswertung den Gesamtangebotspreis (netto) pro Monat als maßgeblich zu definieren." (Hervorhebung durch die Vergabestelle)

Darauf antwortete Vergabestelle wie folgt:

"Der Einwand ist nachvollziehbar. Zur Wahrung der Chancengleichheit wird für die Angebotswertung der Gesamtangebotspreis netto pro Monat als maßgeblich definiert."

Die Antragstellerin und die Beigeladene reichten ihr Angebot fristgerecht ein.

Nach der Angebotsöffnung wurde von der Antragsgegnerin der Preisspiegel sowie der Vermerk über die erfolgte Angebotsauswertung erstellt, in dem die Angebotsprüfung bzw. -aufklärung dokumentiert wurde. Darüber hinaus wurde die Angebotsauswertung mit dem zuständigen Rechnungsprüfungsamt (RPA) abgestimmt. Die Ergebnisse der Abstimmung wurden in einem separaten Vermerk dokumentiert.

Mit Bieterinformation vom 19.04.2024 wurden die Bieter über die Verschiebung des Beginns für den Betrieb der Flüchtlingsunterkunft um einen Monat in Kenntnis gesetzt. Darüber hinaus wurde Folgendes mitgeteilt:

"In der Zwischenzeit fiel auf, dass einige Bewerber für einen Betreibervertrag bereits zum jetzigen Zeitpunkt nach Personal für die in Rede stehende Unterkunft suchen. Nachfragen zufolge sei das branchenüblich. Rückschlüsse auf den Stand des Vergabeverfahrens lässt dieses jedoch nicht zu."

Mit Schreiben vom xxxxxx.2024 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, den Zuschlag an die Beigeladene zu erteilen.

Mit Auftragsschreiben vom 07.05.2024 wurde der Zuschlag an die Beigeladene erteilt.

Mit Schreiben vom 08.05.2024 rügte die Antragstellerin die beabsichtigte Vergabeentscheidung als vergaberechtswidrig. Die Antragsgegnerin habe der Antragstellerin telefonisch mitgeteilt, dass sie ihr den Zuschlag erteilen werde. Stattdessen habe die Antragstellerin das Absageschreiben erhalten. Das Verfahren sei demnach nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Ferner werde die Zuschlagsentscheidung auch gerügt, da das Angebot der Beigeladenen nicht wirtschaftlich sein könne und insoweit nicht hätte berücksichtigt werden dürfen. Unter Berücksichtigung des Auftragsvolumens hätte die Ausschreibung europaweit durchgeführt werden müssen. Das durchgeführte Vergabeverfahren werde daher als vergaberechtswidrig beanstandet. Von dem beabsichtigten Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen solle Abstand genommen werden und das Vergabeverfahren neu durchgeführt werden.

Am 17.05.2024 wurde der Betreibervertrag zwischen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen unterzeichnet.

Mit Schreiben vom 22.05.2024 versendete die Antragsgegnerin die Nichtabhilfemitteilung an die Antragstellerin, in dem sie die durch die Antragstellerin vorgetragenen Rügen zurückwies. Begründet wurde die Zurückweisung zum einen damit, dass es sich hierbei im Wesentlichen, außer bei dem Hinweis auf die Ausschreibungskriterien, nicht um eine formale Rüge, sondern um formlose Kritik handele. Im Hinblick auf die telefonische Aussage, dass die Antragstellerin das wirtschaftlichste Angebot abgegeben habe, wies die Antragsgegnerin darauf hin, dass es nicht zutreffend sei. Unmittelbar nach der Angebotsöffnung habe sich herausgestellt, dass ein günstigeres Angebot eingereicht worden sei. Die Antragstellerin sei mit der Rüge ohnehin präkludiert.

Aufgrund der Nichtabhilfe der Rüge beantragte die Antragstellerin mit anwaltlichem Schriftsatz vom 17.05.2024 die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens gemäß § 160 ff GWB bei der Vergabekammer.

Die Antragstellerin begründete ihren Nachprüfungsantrag unter Wiederholung und Vertiefung ihrer Ausführungen in dem o.g. Rügeschreiben.

Bei einem Vertragszeitraum vom xxxxxx.2024 - xxxxxx.2029 und Auftragsvolumen von ca. xxxxxx Euro hätte zwingend eine europäische Ausschreibung erfolgen müssen. Somit sei die Vergabe aus diesem Grund nichtig. Unabhängig davon sei die Antragstellerin vor der Absage seitens der Antragsgegnerin darüber informiert worden, dass sie das günstigste Angebot abgegeben hätte. Die Antragsgegnerin habe nach Fristende des Angebotseingangs telefonisch zwei Mitarbeitende der Antragstellerin darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Antragstellerin das wirtschaftlichste Angebot abgegeben habe, wobei das Bewertungskriterium "Preis" zu 100 % gewichtet worden sei. Laut dieser Aussage sollte die Antragstellerin den offiziellen Zuschlag erhalten. Aus diesem Grund werde der beabsichtigte Zuschlag an die Beigeladene als vergaberechtswidrig gerügt, da das Verfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden sei. Ferner zweifele die Antragstellerin an, dass die Beigeladene mit noch günstigeren Angebotspreisen die Leistungen gemäß den Ausschreibungsunterlagen (Mindestkriterien) der Antragsgegnerin vollständig und wirtschaftlich umsetzen könne. Der Zuschlag werde auch gerügt, da das Angebot der Beigeladenen nicht wirtschaftlich sein könne und insoweit nicht hätte berücksichtigt werden dürfen.

Zur Glaubhaftmachung übersandte die Antragstellerin die per E-Mail vorgelegten Gedächtnisprotokolle von zwei Mitarbeitenden der Antragstellerin als Anlage. In Anbetracht der Aussagen zweier Mitarbeiter, die in glaubhafter Weise mitgeteilt haben, sie seien in zwei unabhängig voneinander geführten Telefonaten, am 04. bzw. 11.04.2024, von der Vergabestelle über die Abgabe des preisgünstigsten Angebotes und den Umstand, dass die Antragstellerin den Zuschlag erhalten würde, informiert worden, hält die Antragstellerin weiterhin daran fest, dass dies von der Vergabestelle so mitgeteilt worden sei.

Die Antragstellerin verweist auf Ziffer 3.2 der Leistungsbeschreibung, laut der das einzige maßgebliche Kriterium für die Vergabe allein der Gesamtangebotspreis (brutto) pro Monat gewesen sei. Soweit die Beigeladene darauf abstelle, die Antragstellerin hätte weder dargelegt noch bewiesen, die Anforderungen nach Ziffer 2 der Leistungsbeschreibung im Hinblick auf die technische und berufliche Leistungsfähigkeit erfüllen zu können, sei festzustellen, dass das Vergabeverfahren entsprechende Nachweise oder Darlegungen nicht vorgesehen habe. Ziffer 2 der Leistungsbeschreibung weise allein darauf hin, dass entsprechendes Personal einzusetzen sei. Unter Berücksichtigung der gestellten Anforderungen an die Qualifikationen und Erfahrungen habe die Antragstellerin entsprechende Personalkosten in Ansatz gebracht und werde Personal, welches den Anforderungen für das Projekt im Sinne von Ziffer 2 der Leistungsbeschreibung ohne weiteres entsprechen können.

Mit Schriftsatz vom 21.06.2024 teilt die Antragstellerin mit, dass den Einlassungen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen zu entnehmen sei, dass die Beigeladene bereits vor Angebotsabgabe über die Tatsache informiert gewesen sei, dass mit der Antragstellerin eine gemeinnützige GmbH angekündigt habe, ein Angebot abzugeben.

Die Antragstellerin beantragt,

  1. 1.

    der Antragsgegnerin zu untersagen, den Zuschlag an die Beigeladene zu erteilen,

  2. 2.

    den Zuschlag an die Antragstellerin zu erteilen,

  3. 3.

    hilfsweise das Verfahren für nichtig zu erklären und ordnungsgemäß ausschreiben zu lassen.

  4. 4.

    die Vergabeakte beizuziehen und der Antragstellerin Akteneinsicht zu gewähren,

  5. 5.

    die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin für notwendig zu erklären,

  6. 6.

    der Antragsgegnerin die Kosten des Nachprüfungsverfahrens sowie die Kosten einer zweckentsprechenden Rechtsverfolgung einschließlich der vorprozessualen Anwaltskosten aufzuerlegen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

  1. 1.

    den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen sowie

  2. 2.

    der Antragstellerin die Kosten des Nachprüfungsverfahrens aufzuerlegen.

Die Antragsgegnerin verweist auf das Rundschreiben Nr. 45/2024 des Niedersächsischen Landkreistages, das auf das beigefügte Rundschreiben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz vom 09.01.2024 Bezug nehme. Danach gelten beim Vergaberecht nach wie vor spezifische Erleichterungen im Zusammenhang mit der Unterbringung und Versorgung von Schutzsuchenden. Die Antragsgegnerin habe massive Probleme, der großen Herausforderung gerecht zu werden, die vielen Geflüchteten adäquat unterzubringen. Der erhebliche Aufwand und die daraus resultierende Dauer einer europaweiten Ausschreibung mache es unmöglich, den aktuellen Zustrom von Geflüchteten zu bewältigen. Eine Information an die Antragstellerin, dass diese das günstigste Angebot abgegeben habe, habe es nicht gegeben. Die Antragsgegnerin trägt vor, dass die Rüge noch vor der Angebotsabgabe seitens der Antragstellerin hätte erfolgen müssen und nicht erst, nachdem sie das Absagescheiben erhalten habe, Das Verfahren sei entsprechend den aktuell geltenden Regularien rechtskonform verlaufen. Die Absage an die Antragstellerin sei zu Recht erfolgt.

Die Antragsgegnerin verweist darauf, dass es die Aussage bzgl. der beabsichtigten Zuschlagserteilung an die Antragstellerin seitens der Antragsgegnerin nicht gegeben habe. Im Rahmen der Angebotsöffnung sei mit der Antragstellerin Anfang April 2024 telefoniert worden, um noch offene Fragen im Rahmen der Angebotsprüfung beantworten zu können. Am 05.04.2024 sei der Antragsgegnerin aufgefallen, dass die Antragstellerin auf ihrer Internetseite bereits Personal für die künftige Unterkunft für Geflüchtete suche. Auf eine folgende telefonische Anfrage dazu bei der Antragstellerin sei erklärt worden, dass dieses branchenüblich sei. Diese Aussage habe Einzug in den Vermerk vom 19.04.2024 genommen, der allen Bietern zur Information übersandt worden sei.

Die Beigeladene hat keine eigenen Anträge gestellt und sich zum Verfahren geäußert.

Der Nachprüfungsantrag sei unzulässig und unbegründet.

Die Antragstellerin sei nicht antragsbefugt, da sie keinen Schaden im Sinne des § 160 Abs. 2 Satz 2 GWB nachweisen könne, der ihr entstanden sei bzw. drohe. Ein Nachprüfungsantrag eines am Auftrag interessierten Marktteilnehmers könne nur dann erfolgreich sein, wenn Vergabefehler eine Beeinträchtigung seiner Bieterrechte nach sich ziehen. Wenn eine Verschlechterung der Zuschlagschancen durch den geltend gemachten Vergaberechtsverstoß offensichtlich ausgeschlossen sei, sei der Nachprüfungsantrag mangels Antragsbefugnis unzulässig. Nach diesen Maßstäben sei die Antragstellerin nicht antragsbefugt. Der Antragstellerin drohe durch das gewählte Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV kein Schaden im Sinne des § 160 Abs. 2 Satz 2 GWB. Der Umstand, dass die Absicht der Vergabe des Auftrags nicht europaweit, sondern nur national ausgeschrieben worden sei, sei unbeachtlich, wenn die Antragstellerin sich am Verfahren beteiligen konnte und ihr Angebot gegenüber dem Angebot der Beigeladenen schon aus anderen Gründen chancenlos gewesen sei.

Die Beigeladene verweist ferner auf Ziffer 2 der Leistungsbeschreibung. Die Antragstellerin erfülle nicht die von der Antragsgegnerin gestellten Anforderungen an die Eignung. Die Antragsgegnerin habe im Rahmen der Beschreibung des Ausschreibungsgegenstands Erfahrungen im Bereich der besonderen Betreuung unterstützungsbedürftiger Personenkreise zur unabdingbaren Voraussetzung für einen Zuschlag erklärt. Auch wenn die Antragsgegnerin damit keine Mindestzahl an Referenzen verlangt habe, fehle es Bietern ohne den Nachweis einschlägiger Erfahrungen an der erforderlichen Eignung. Mangels entsprechender Erfahrungen sei die Antragstellerin als ungeeignet anzusehen. Wenn die Schwestergesellschaft der Antragstellerin entsprechende Aufträge bereits erhalten und durchgeführt habe, sei dies unerheblich. Die Beigeladene habe nach dem einzig maßgeblichen Wertungskriterium "Gesamtangebotspreis netto pro Monat" das wirtschaftlich günstigste Angebot abgegeben. Selbst bei Annahme einer rechtsfehlerhaft unterbliebenen europaweiten Ausschreibung liege keine Rechtsverletzung bei der Antragstellerin vor. Sie habe an dem Vergabeverfahren ebenso wie die Beigeladene teilnehmen können und habe wegen ihres wirtschaftlich ungünstigeren Angebots von vornherein keine Chance auf einen Zuschlag gehabt. Selbst wenn man die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags unterstelle, sei er unbegründet. Die Voraussetzungen für die Wahl eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV liegen vor. Unter Zugrundelegung des einzigen Wertungskriteriums "Angebotspreis in EUR netto" sei das Angebot der Beigeladenen das wirtschaftlich günstigste Angebot.

Mit Verfügung vom 19.06.2024 hat die Vergabekammer die Frist für die abschließende Entscheidung in diesem Nachprüfungsverfahren über die gesetzliche 5-Wochen-Frist hinaus bis zum 05.07.2024 verlängert.

Wegen des übrigen Sachverhalts wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, die Vergabeakte und das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 19.06.2024 Bezug genommen.

II.

Der Nachprüfungsantrag ist trotz Bedenken gegen die Eignung der Antragstellerin zulässig. Nicht die Vergabekammer, sondern nur die Vergabestelle ist Herrin des Vergabeverfahrens. Es ist nicht Aufgabe der Vergabekammer, der Antragstellerin vor oder anstelle der Antragsgegnerin die Eignung abzusprechen (vgl. nachfolgend zu 1). Der Nachprüfungsantrag ist teilweise begründet. Die Dringlichkeitsvergabe ist wirksam, weil der Antragsgegnerin das Entstehen der Dringlichkeit nicht zuzurechnen ist (vgl. nachfolgend 2 a). Wegen der Dauer der Dringlichkeitsvergabe von 67 Monaten ist der Vertrag unwirksam, soweit er über einen Zeitraum von max. 12 Monaten hinausgeht. Der Zeitraum für die Dringlichkeitsbeauftragung darf als ultima ratio nur soweit bemessen werden, wie es erforderlich ist, die von der Antragsgegnerin beabsichtigte Vergabe in einem ordnungsgemäßen, förmlichen Vergabeverfahren durchführen. Die Vergabekammer hält dafür einen Zeitraum von max. 12 Monaten für ausreichend und angemessen (vgl. nachfolgend 2 b, 3). Dagegen erfolgte die Auswahl der Beigeladenen im Wesentlichen rechtsfehlerfrei (vgl. nachfolgend 2 c, d).

1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.

Die Antragsgegnerin ist als Gebietskörperschaft öffentliche Auftraggeberin gemäß § 99 Nr.1 GWB. Der streitbefangene Auftrag übersteigt den für die Zuständigkeit der Vergabekammer maßgeblichen Schwellenwert gemäß § 106 Abs. 1 GWB. Der 4. Teil des GWB gilt nur für Aufträge, deren geschätzter Auftrags- oder Vertragswert ohne Umsatzsteuer die Schwellenwerte erreicht oder überschreitet, welche aufgrund der EU-Richtlinien festgelegt sind. Bei den ausgeschriebenen Leistungen handelt es sich um einen Dienstleistungsauftrag i. S. d. § 103 Abs. 4 GWB, für den gemäß § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB i. V. m. der Richtlinie 2014/25/EU in der ab dem 01.01.2024 und damit zur Zeit der eigentlich zu erwartenden Auftragsbekanntmachung des Vergabeverfahrens geltenden Fassung ein Schwellenwert ohne Umsatzsteuer von 221.000 € gilt.

Die Antragsgegnerin hat den Betrieb der Gemeinschaftsunterkunft als Baumaßnahme missverstanden. Erstmals im Vermerk vom 26.01.2024, xxxxxx, erörterte sie die voraussichtlichen Betriebskosten, die sie zutreffend deutlich über dem Schwellenwert für Dienstleistungsaufträge einschätzt, ohne einen Zusammenhang zu einem Schwellenwert herzustellen. Die Antragsgegnerin verwendet irrtümlich § 3a, Abschnitt 1 VOB/A, ging daher davon aus, es handele sich um die freihändige Vergabe eines Bauauftrages unterhalb der Schwelle zur EU-weiten Bekanntmachung. Diese Zuordnung des Betreibervertrages zur Baumaßnahme ist auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklung des Vergaberechts im Zusammenhang mit der Vergabe von Bau- und Planungsleistungen nicht vertretbar.

Infolge des Wegfalls des § 3 Abs. 7 Satz 2 VgV im Herbst 2023 gibt es eine Diskussion über die gemeinsame Vergabe von als gleichzeitig (§ 103 Abs. 3 Satz 1 GWB) gewerteten Planungs- und Bauleistungen für ein Projekt als typengemischten Vertrag (vgl. Burgi, Rechtsgutachten, gemeinsame Vergabe von Aufträgen für Planungs- und Bauleistungen, kombiniert mit Fachlosbildung: Funktionsweise und Rechtskonformität eines alternativen Beschaffungskonzepts nach Streichung des § 3 Abs. 7 Satz 2 VgV, Februar 2024). Dieser Vertrag ist dann wegen des im Zweifel beim Bauauftrag liegenden Schwerpunktes insgesamt nach der VOB/A zu behandeln. Diese Annahme lässt sich nur für die Kombination von Planungs- und Bauleistungen rechtfertigen, weil die Planungsleistungen zumindest teilweise gleichzeitig mit den Bauleistungen vergeben werden. Die Annahme der Gleichzeitigkeit beruht neben den Planungsleistungen in der Bauphase auf dem Sachzusammenhang zwischen Planungs- und Bauleistung. Die vorgelagerten Planungsleistungen bereiten den Bau vor. Eine solche Auffassung wird für Betreiberverträge oder andere Verträge, welche erst nach Fertigstellung des Bauwerks beginnen können und die Nutzung betreffen, nicht vertreten. Daher ist es nicht zulässig, den Betreibervertrag dem Bauvertrag zuzuordnen und eine gemeinsame Vergabe nach VOB/A durchzuführen.

Dieser Rechtsirrtum der Antragsgegnerin führt jedoch nicht zu einer Verletzung der Rechte der Antragstellerin, weil die Vorschriften des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV oberhalb der Schwelle und des § 3a Abs. 3 VOB/A Abschnitt 1 unterhalb der Schwelle die gleiche Situation sehr ähnlich regeln.

Der obige Schwellenwert für Dienstleistungsaufträge wird über die gesamte Vertragsdauer ausweislich des Preisspiegels der eingegangenen Angebote deutlich überschritten.

Die Antragstellerin ist gemäß § 160 Abs. 2 GWB antragsbefugt, da sie ein Interesse am Auftrag hat und die Verletzung von Rechten durch die Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend macht, indem sie beanstandet, es hätte zwingend eine europaweite Ausschreibung stattfinden müssen, und ihr sei mitgeteilt worden, sie habe das günstigste Angebot abgegeben. Durch die Nichtberücksichtigung ihres Angebots werde sie in ihren Rechten aus § 97 Abs. 6 GWB verletzt. Voraussetzung für die Antragsbefugnis nach § 160 Abs. 2 GWB ist, dass das antragstellende Unternehmen einen durch die behauptete Rechtsverletzung entstandenen oder drohenden Schaden darlegt. Das bedeutet, dass der Antragsteller diejenigen Umstände aufzeigen muss, aus denen sich schlüssig die Möglichkeit eines solchen Schadens ergibt (vgl. Beck VergabeR/Hom/Hofmann, 4. Aufl. 2022, GWB § 160, Rn. 23). Nach herrschender Meinung und Rechtsprechung genügt es für die Zulässigkeit eines Nachprüfungsantrags, wenn der Bieter schlüssig einen durch die behauptete Rechtsverletzung drohenden oder eingetretenen Schaden behauptet, also darlegt, dass durch den behaupteten Vergaberechtsverstoß seine Chancen auf den Zuschlag zumindest verschlechtert sein können (BVerfG, Urteil vom 29.07.2004 - 2 BvR 2248/04; Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, GWB § 160, Rn. 43; vgl. Beck VergabeR/Hom/Hofmann, 4. Aufl. 2022, GWB § 160, Rn. 34; Schäfer in: Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, GWB-Vergaberecht, 5. Aufl., § 160, Rn. 30 ff.). Ob tatsächlich der vom Bieter behauptete Schaden droht, ist eine Frage der Begründetheit (vgl. BGH, Beschluss vom 29.06.2006 - X ZB 14/06, zitiert nach VERIS).

Die Beigeladene bestreitet die Eignung der Antragstellerin und damit deren Antragsbefugnis. Sie sei eine frisch gegründete Zwei-Personen-Gesellschaft mit geringen Umsatzerwartungen und ohne die in der Leistungsbeschreibung geforderten Erfahrungen im Bereich der besonderen Betreuung unterstützungsbedürftiger Personenkreise. Diese Einwände sind beachtlich. Die Antragstellerin ist dem Vortrag nicht entgegengetreten, hat den Sachverhalt in der mündlichen Verhandlung eingestanden. Die Antragsgegnerin hat sich dem Vortrag der Beigeladenen in einem internen Vermerk vom Vortag der mündlichen Verhandlung angeschlossen.

Dennoch ist die Vergabekammer verpflichtet, in der besonderen Situation der Dringlichkeitsvergabe bis zu einer anderslautenden Entscheidung der Antragsgegnerin von einer Eignung und damit auch einer Antragsbefugnis der Antragstellerin auszugehen. § 122 Abs. 1 GWB und die §§ 42 ff. VgV gehen von der Regelsituation aus, dass der öffentliche Auftraggeber mit einer Bekanntmachung die Vergabeabsicht offenlegt und darin darstellt, welche Eignungsanforderungen er an die Bieter setzt. Dann obliegt es dem jeweiligen Bieter, in einer ersten Stufe zu prüfen und zu entscheiden, ob er die Eignungsanforderungen erfüllt. Der öffentliche Auftraggeber prüft die Eignung später nach § 57 VgV.

Bei der Dringlichkeitsvergabe gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV wendet sich der öffentliche Auftraggeber direkt an bestimmte Bieter und bringt diesen gegenüber damit indirekt zum Ausdruck, dass er sie für geeignet hält, den Auftrag auszuführen. Die Ansprache ersetzt auch in der Wertung das sonst gebotene Teilnahmeverfahren.

Die Antragsgegnerin ist als öffentliche Auftraggeberin aktiv auf die potentiellen Bieter zugegangen. Die Argumentation der Antragsgegnerin in ihrer Stellungnahme vor der mündlichen Verhandlung, sie habe die Eignung bei der Bewertung der Angebote nicht geprüft, widerspricht der hierzu ergangenen Entscheidung des OLG Düsseldorf (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29.03.2021 - Verg 9/21). Das OLG führt für ein Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb aus: "Mit der positiven Eignungsprüfung (wird) - anders als im offenen Verfahren - ein Vertrauenstatbestand für die zum Verhandlungsverfahren zugelassenen Unternehmen begründet, dass sie nicht damit rechnen müssen, der ihnen durch die Erstellung der Angebote und Teilnahme am Wettbewerb entstandene Aufwand könnte dadurch nachträglich nutzlos werden, dass der Auftraggeber ihre Eignung auf - wie hier - gleichbleibender tatsächlicher Grundlage später nochmals abweichend beurteilt.", erfasst daher nicht die von ihr hergestellte Situation.

Die Antragsgegnerin hat ursprünglich nicht die Antragstellerin, sondern deren Schwesterfirma ansprechen wollen. Sie ließ sich dazu verleiten, zur Vermeidung der Umsatzsteuer die Schwestergesellschaft zur Angebotsabgabe aufzufordern. Die vergaberechtliche Notwendigkeit, zwei getrennte Gesellschaften getrennt zu betrachten, hat die Antragsgegnerin dabei zumindest übersehen. Die Antragsgegnerin hat es sogar akzeptiert, dass nicht die Antragstellerin, sondern jene Schwestergesellschaft der Antragstellerin das Angebot in deren Auftrag fertigte. Die Antragsgegnerin hat daher gegenüber der Antragstellerin zumindest einen Rechtsschein der Eignung gesetzt. Sie hat die Antragstellerin bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht mangels Eignung ausgeschlossen, erwartet eine Entscheidung mit ähnlicher Wirkung vielmehr nun von der Vergabekammer.

Nicht die Vergabekammer, sondern nur die Vergabestelle ist Herrin des Vergabeverfahrens. Es ist nicht Aufgabe der Vergabekammer, der Antragstellerin hier vor oder anstelle der Antragsgegnerin die Eignung abzusprechen. Die Vergabekammer würde mit einer solchen Entscheidung in den Beurteilungsspielraum der Antragsgegnerin als öffentliche Auftraggeberin eingreifen.

Überdies hat die Antragsgegnerin die Eignungsanforderung sehr allgemein formuliert. Von den konkreten Anforderungen insbesondere des § 46 Abs. 3 VgV hat sie keinen Gebrauch gemacht. Weicht der öffentliche Auftraggeber von der gesetzlichen Zielvorstellung einer Kombination aus Eignungs- und Zuschlagskriterien ab, weil es ihm vor allem auf ein besonders wirtschaftlich ausgerichtetes Angebot ankommt, indem er § 122 Abs. 1 GWB nur schwach inhaltlich abarbeitet, führt das nicht zu einer Verletzung der Rechte des Konkurrenten (vgl. VK Niedersachsen, Beschluss vom 28.09.2023, VgK-26/2023; VK Niedersachsen, Beschluss vom 30.11.2020, VgK-44/2020). In jenen Fällen hatten die Vergabestellen immerhin Referenzen gefordert, sie aber weder in Hinsicht auf die Gleichartigkeit, noch hinsichtlich des Volumens eingegrenzt. Die Antragstellerinnen forderten vergeblich den Ausschluss des preiswerteren Konkurrenten, weil jener nicht geeignet sei. Die Auftraggeber hatten nicht erkennen lassen, dass sie ein höheres Leistungsprofil einfordern wollten. So ist es auch hier, was bei einer Dringlichkeitsvergabe durchaus nachvollziehbar sein kann, dann im gesamten Verfahren stringent durchzuhalten ist.

Die Antragstellerin hat den angeblichen Vergabeverstoß auch rechtzeitig vor der Vergabekammer geltend gemacht. Gemäß § 135 Abs. 1 GWB ist ein öffentlicher Auftrag von Anfang an unwirksam, wenn der öffentliche Auftraggeber gegen § 134 GWB verstoßen hat oder den Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben hat, ohne dass dies aufgrund Gesetzes gestattet ist, und dieser Verstoß in einem Nachprüfungsverfahren festgestellt worden ist. Gemäß § 135 Abs. 2 GWB kann die Unwirksamkeit nach Abs. 1 jedoch nur festgestellt werden, wenn sie im Nachprü- fungsverfahren innerhalb von 30 Kalendertagen nach der Information der betroffenen Bieter und Bewerber durch den öffentlichen Auftraggeber über den Abschluss des Vertrags, jedoch nicht später als 6 Monate nach Vertragsschluss geltend gemacht worden ist.

Die Antragsgegnerin hat die Vergabe an die Beigeladene am xxxxxx.2024 bekannt gegeben, ohne eine Wartefrist entsprechend § 134 GWB zu erwähnen. Bei einem Vertragsbeginn am xxxxxx.2024 (Vermerk vom 19.04.2024, Blatt 418 der Akte) war wegen der notwendigen Rüstzeiten zur Anwerbung des erforderlichen Personals mit der Einhaltung einer Wartefrist von 10 oder 15 Tagen nicht mehr zu rechnen. Es handelt sich also um die Bekanntgabe einer Direktvergabe.

Ihren Nachprüfungsantrag erhob die Antragstellerin am 17.05.2024 bei der Vergabekammer. Der Nachprüfungsantrag wurde somit innerhalb von 30 Kalendertagen nach der Information über die Vergabe und damit im Sinne des § 135 Abs. 2 GWB fristgemäß bei der Vergabekammer eingereicht. Der Nachprüfungsantrag ist damit zulässig.

2. Der Nachprüfungsantrag ist teilweise begründet. Die Antragstellerin ist in Ihren Rechten aus § 97 Abs. 6 GWB verletzt, weil die Antraggegnerin mit der Dauer des Vertrags von 67 Monaten und unbeschränkten Verlängerungsoptionen über die Spielräume der Dringlichkeitsvergabe deutlich hinausgeht. Eine sachliche Begründung für dieses Vorgehen ist der Vergabeakte nicht zu entnehmen.

a) Die Antragsgegnerin war berechtigt, aufgrund des § 113 GWB i. V. m. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV einen Auftrag über den Betreib der Gemeinschaftsunterkunft im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb zu vergeben. Die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit sind ihr nicht zuzurechnen.

Das Kartellvergaberecht verpflichtet die öffentlichen Auftraggeber, zugunsten der einzelnen Wettbewerbsteilnehmer einen transparenten nichtdiskriminierenden Zugang zu öffentlichen Aufträgen zu gewährleisten. Deshalb verschafft das Kartellvergaberecht den jeweiligen Bietern einen individuellen vor der Vergabekammer durchsetzbaren Anspruch auf eine nichtdiskriminierende transparente Durchführung des Vergabeverfahrens.

Nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV darf der öffentliche Auftraggeber Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben, wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit unvorhersehbaren Ereignissen es nicht zulassen, die Mindestfristen für die Verfahren nach § 14 Abs. 2 VgV einzuhalten. Die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dürfen dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein.

Alle diese Tatbestandsmerkmale müssen im Einzelfall erfüllt sein. Die Vergabeakte beginnt am 07.12.2023 mit einem Hilferuf an eine andere Behörde. Diese E-Mail schließt mit dem Satz: "Wir sind alte schon mehr als etwas verzweifelt."

Zwar ist die Zuweisung von Flüchtlingen an eine Gemeinde zumindest seit 2022 in der öffentlichen Wahrnehmung der Regelfall, jedoch handelt es sich jedenfalls aus der Perspektive der einzelnen aufnehmenden Gemeinde nicht um einen stetigen und gleichmä- ßigen Zustrom von Flüchtlingen, sondern um weder im Volumen noch im zeitlichen Ausmaß vorab berechenbare Zuweisungswellen. Diesen steht ein gleichfalls nicht voraussehbarer Wegzug aus den bereitgestellten Gemeinschaftsunterkünften in den allgemeinen Wohnungsmarkt gegenüber. Die Antragsgegnerin hat in ihrer Vergabeakte nachvollziehbar dargelegt, dass sie erst im November 2023 bei weitgehend gefüllten Gemeinschaftsunterkünften durch eine Gelegenheit den Entschluss fasste, das ehemalige xxxxxx als Flüchtlingsunterkunft zu erwerben und herzurichten, um die ab April 2024 zu erwartende Aufnahmequote erfüllen zu können. Somit ergaben sich das Volumen und der mögliche Vertragsbeginn für den darauf aufbauenden Betreibervertrag erst ab Ende des Jahres 2023. Der Vertreter der Antragsgegnerin hat die Abläufe in der mündlichen Verhandlung plausibel und nachvollziehbar dargelegt.

Die Antragsgegnerin musste das Vorliegen dringlicher zwingender Gründe nicht in voller Tiefe individuell darlegen, weil das BMWK mit Runderlass vom 09.01.2024, Aktenzeichen: IB3 20609/022, u.a. für Verträge zur Versorgung ankommender Flüchtlinge, darunter soziale Dienstleistungen, Sicherheitsdienstleistungen, Reinigungsdienstleistungen eine Notlage als zumindest naheliegend angesehen hat. Der Runderlass stellt eine wichtige und konstruktive Arbeitshilfe für alle Vergabestellen dar.

Das BMWK hat auch darauf hingewiesen, dass die beschaffende Stelle in jedem Fall prüfen muss, ob die jeweiligen Anwendungsvoraussetzungen im Einzelfall gegeben sind. Außerdem hat die Vergabestelle dies entsprechend zu dokumentieren. Eine solche Dokumentation ist der Vergabeakte, insbesondere der Beschlussvorlage 2023/238 (Vergabeakte Blatt 49-51) und 2024/052, Beschlussvorlage zum Betrieb einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete (Vergabeakte Blatt 52 - 54) zu entnehmen.

Die Vergabekammer hat daher keinen Zweifel daran, dass ein unvorhergesehenes Ereignis im Sinne des § 14 Abs. 4 Nr. 3, Nr. 17 VgV vorliegt, darüber hinaus äußerst dringliche und zwingende Gründe bestehen, die die Einhaltung der in anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen nicht zulassen. Ebenso besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen dem unvorhergesehenen Ereignis und der Unmöglichkeit, die Fristen anderer Vergabeverfahren einzuhalten.

Der Runderlass des BMWK verweist darüber hinaus auf § 17 Abs. 15, VgV, wonach der öffentliche Auftraggeber bei der Durchführung eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb wegen äußerster Dringlichkeit nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV von den Formanforderungen gemäß den §§ 9 -13 VgV befreit ist. Die Antragsgegnerin war daher ausnahmsweise nicht verpflichtet, die Abläufe in diesem Vergabeverfahren elektronisch zu dokumentieren, etwa über ein Vergabemanagementsystem, wie sonst seit bereits sechs Jahren vorgeschrieben.

Ebenso war die Antragsgegnerin berechtigt, im Rahmen des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb formlos und mit besonders kurzen Fristen von mindestens 15 Tagen (§ 17 Abs. 3 VgV) Angebote einzuholen. Dies wurde durch die Angebotsfrist von 15 Tagen eingehalten.

Nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV dürfen die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein. Die Ausnahmen wegen besonderer Dringlichkeit sind eng formuliert und daher restriktiv auszulegen. Die Regelung des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV soll verhindern, dass die formellen und inhaltlichen Vorgaben des Vergaberechts nur anlässlich und nicht wegen einer Notsituation leichtfertig außer Kraft gesetzt werden. Andererseits ist auch die Leistungsfähigkeit des jeweiligen öffentlichen Auftraggebers zu berücksichtigen, ebenso die Dringlichkeit der zu vergebenden Dienstleistung.

Die grundsätzlich berechtigten Formalien des Vergabeverfahrens dürfen keinen Vorrang vor der Aufgabe der Daseinsvorsorge des öffentlichen Auftraggebers haben. Aus ähnlichen Gründen hat das OLG Düsseldorf mit Beschluss vom 15.02.2023 (Verg 9/22) dem EuGH einen in etwa vergleichbaren Fall zur Entscheidung nach Art. 267 Abs. 1 b und Abs. 2 AEUV zur Entscheidung vorgelegt. Der vorlegende Senat teilt die Auffassung etlicher anderer Gerichte, eine Vergabe im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb sei bei für die Allgemeinheit unverzichtbaren Leistungen auch dann möglich, wenn die Dringlichkeit auf Versäumnisse der Vergabestelle zurückzuführen sei. Der Aspekt der Zurechenbarkeit und Vorhersehbarkeit trete hinter die Notwendigkeit der Kontinuität der Leistungserbringung zurück, wenn bedeutende Rechtsgüter, wie etwa Leib und Leben oder hohe Vermögenswerte, unmittelbar gefährdet seien. Das OLG Düsseldorf hat mit diesem Vorlagebeschluss seine frühere Ansicht (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29.02.2012, Verg 75/11) aufgegeben. Es vertritt die Auffassung, dass in der werteund insbesondere grundrechtsgebundenen Ordnung des Grundgesetzes der Staat immer und unabhängig von früheren Versäumnissen in rechtmäßiger Weise in der Lage sein muss, auf Notlagen zu reagieren oder sie abzuwenden. Dazu muss er unverzichtbare Leistungen erbringen können. Über die Vorlage des OLG Düsseldorf hat der EuGH nach Wissensstand der Vergabekammer noch nicht entschieden. Die Vergabekammer schließt sich den Erwägungen des Vorlagebeschlusses an, weil sie sieht, dass die Antragsgegnerin sich hier nach Kräften bemüht hat, schnellstmöglich eine geeignete Unterbringung in transparenter nichtdiskriminierender Weise zu schaffen und bereitzustellen.

Etwaige Bedenken an der Unvorhersehbarkeit der Umstände hat der Vertreter der Antragsgegnerin in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar ausräumen können. Wenn man den Maßstab einer immer perfekt funktionierenden Verwaltung anlegt, hätte man bereits im November 2023 damit beginnen können neben dem Erwerb des Gebäudes auch die Vergabe des Betriebs des Gebäudes zu planen. Die Antragsgegnerin hat recht früh Tabellen zur Gemeinschaftsunterkunft angelegt, in denen systematisch überzeugend dargestellt wurde, was zu tun ist, welche Person dafür zuständig ist und in welcher Frist diese Aufgabe zu erledigen sein wird. Diese Tabellen wurden nach dem Planungsfortschritt immer wieder überarbeitet. Bis etwa zum Januar 2024, gab es unter Ziffer 42 eine durchgestrichene Zeile: "Betreiber der Unterkunft" mit zuständigen Personen. D. h., die Notwendigkeit, einen Betreiber zu finden, war der Antragsgegnerin zu Ende des Jahres 2023 dem Grunde nach bekannt Es ist allerdings nachvollziehbar, dass die Antragsgegnerin den Betrieb der Liegenschaft erst vorbereitete, als der Ankauf abgeschlossen war und die Bauverwaltung einen Betriebsbeginn nennen konnte. Erstmals in einer Fassung vermutlich vom Januar 2024 (Blatt 29 der Vergabeakte) wurde die Streichung beseitigt, es folgt der Vermerk vom 26.01.2024 und damit beginnend die Vorbereitungen zur streitbefangenen Vergabe.

Es war der Antragsgegnerin mit ihrem Personal und der Aufgabenbreite, welches dieses Personal neben der Vergabe parallel zu erfüllen hat (Soziales, Wohnen, Elterngeld), daher unmöglich, die Verträge termingerecht vorzubereiten. Der Tatbestand des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV war vorliegend erfüllt.

b. Die Antragsgegnerin verletzt die Rechte der Antragstellerin aus § 97 Abs. 6 GWB auf ein transparentes diskriminierungsfreies Vergabeverfahren, weil sie den Vertrag der Dringlichkeitsvergabe mit letztendlich unbestimmter Dauer abgeschlossen hat. Vorgesehen ist eine Vertragsdauer von 67 Monaten mit der uneingeschränkten Möglichkeit der Verlängerung. So ein Vertrag wird bei ordnungsgemäßer Vertragserfüllung erst dann gekündigt werden, wenn die vertraglich vereinbarten Preise wegen der nicht vorgesehenen Preisgleitklausel für den Anbieter nicht mehr auskömmlich sein werden. Unter Berücksichtigung der Anpassungsmöglichkeiten gemäß Seite 7 der Leistungsbeschreibung und der Anpassungsmöglichkeiten nach § 132 GWB handelt es sich nahezu um einen Ewigkeitsvertrag.

Der Abschluss eines langfristigen oder unbefristeten Vertrages in der Dringlichkeitsvergabe stellt nach Meinung der Literatur einen Missbrauch des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV dar (Krohn in: Willenbruch Wieddekind Hübner, Vergaberecht Kompaktkommentar, 5. Aufl., § 14 VgV, Rn. 57; Kern/Rubin in: Röwekamp/Kus/Marx/Portz/Prieß, VgV Kommentar, 2. Aufl. 2022, § 14, Rn. 58). Dem schließt sich die Vergabekammer unter Berücksichtigung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes (Beschluss vom 15.11.2023, 2 BvF 1/22, Rn. 132f) zum 2. Nachtragshaushaltsgesetz 2021 an. Das BVerfG fordert einen Veranlassungszusammenhang zwischen der Notsituation und der Maßnahme zur Überwindung der Notsituation. Die Maßnahmen müssen im Einzelnen gerade auf die konkrete Notsituation und deren Bewältigung zurückführbar sein. Dieses Erfordernis wird hier bei einer Vertragsdauer von 5 Jahren zuzüglich Verlängerung in einer die Zuschlagschancen der Antragstellerin beeinträchtigenden Weise verletzt.

Die Darlegungen der Antragsgegnerin in der mündlichen Verhandlung zur Begründung der Vertragsdauer sind plausibel und gut nachvollziehbar. Die Ziele der Mitarbeitergewinnung und -bindung können sowohl mit längerfristigen Betreiberverträgen für einzelne Gemeinschaftsunterkünfte ebenso erreicht werden, wie z B. mit einer einrichtungsübergreifenden Anstellung bei einem Dienstleister oder unmittelbar bei der Antragsgegnerin. Die Dringlichkeitsvergabe soll aber nur die aktuelle Notsituation bereinigen.

c. Die Antragstellerin ist nicht dadurch in ihren Rechten verletzt, dass die Antragsgegnerin den Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen erteilt hat. Nach Auswertung der Vergabeakte war das Angebot der Beigeladenen in nicht offenzulegendem Umfang niedriger als das der Antragstellerin. Die Antragsgegnerin hat auffällige Einzelpreise bei allen Bietern auf Plausibilität geprüft. Anlass zu einer erweiterten Prüfung nach § 60 VgV bestand nicht.

Die Beigeladene hat die geforderten Eigenerklärungen ihrem Angebot beigefügt (Blatt 355 bis 369 und 372 bis 374 der Vergabeakte).

Ob es am 11.04.2024 eine telefonische Auskunft der Antragsgegnerin gab, dass die Antragstellerin das günstigste Angebot abgegeben habe, lässt sich nicht mehr aufklären. Zwar sind die von der Antragstellerin vorgelegten Gedächtnisprotokolle glaubhaft, weil sie genaue Sachverhaltselemente enthalten. Auch die erste Reaktion des geschäftsführenden Gesellschafters xxxxxx vom 02.05.2024 per E-Mail auf die Absage enthält bereits einen Hinweis auf telefonische Aussagen im Verfahren. Beides spricht für eine von Anfang an bestehende und daher glaubhafte Wahrnehmung.

Gegen ein Telefonat mit diesem Inhalt zumindest an dem dargestellten Datum spricht der Eingang der Angebote. Die Antragstellerin reichte ihr Angebot am 28.03.2024 um 15.47 Uhr ein (Blatt 327 der Vergabeakte), die Beigeladene am 29.03.2024 um 17.36 Uhr (Blatt 352 der Vergabeakte). Aus der in der Sachverhaltsdarstellung zitierten Bieterfrage und der Vergabeakte (Blatt 282, E-Mail Beigeladene vom 28.03.2024) wird deutlich, dass die Beigeladene wegen der allen übermittelten Antworten auf die Bieterfragen wusste, dass Bieter ohne Umsatzsteuer anbieten würden.

Die Abstimmung der Bieterantworten der Antragsgegnerin am 27.03.2024/28.03.2024 im laufenden Vergabeverfahren scheinbar nur mit der Beigeladenen als einer der Anbieterinnen (Blatt 283, 290, 293 der Vergabeakte) irritiert allerdings erheblich.

Jedenfalls am 11.04.2024 bestand objektiv bei der Antragsgegnerin keine Unsicherheit mehr über die eingegangenen Preise und die Rangfolge der Bieter. Es ist daher unplausibel, dass die Antragsgegnerin die Antragstellerin in diesem Sinne unterrichtet haben soll.

Die Übermittlung der Angebote geschah wegen des Verfahrens nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV jeweils offen. Es fehlten die gebotenen Sicherungen, die im Rahmen einer ordnungsgemäßen Submission zur Geheimhaltung erforderlich sind, wie der Betrieb eines neutralen geschützten Servers oder aus analogen Zeiten das Lochen der schriftlichen Angebote an individueller Position im noch verschlossenen Umschlag.

Gegenstand der sukzessive übermittelten Verfahrensakte war nicht nur ein Ausdruck des Angebotes der Beigeladenen mit dem Preis, der in die Wertung eingeflossen ist, sondern auch eine E-Mail der Antragstellerin und der Beigeladenen mit den Angebotsunterlagen. Daher kann die Vergabekammer trotz der formlosen Dringlichkeitsvergabe nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV ausreichend sicher annehmen, dass die Beigeladene ihr Angebot in der Form abgab, in der es gewertet wurde.

Der Antragsgegnerin sind auch Fehler unterlaufen. Dazu gehört vor allem die oben erwähnte vorherige Abstimmung der an alle Bieter gerichteten Bieterantworten mit der Beigeladenen, die zu diesem Zeitpunkt zum Kreis der Bieter in der laufenden Vergabe gehörte. Deren Auswirkungen bleiben unklar.

Auf eine Bieterfrage hin (Blatt 193 Vergabeakte) übersandte die Antragsgegnerin allen Bietern eine geänderte Fassung der Anlage 8 "Kostenkalkulation" zum Angebot (Blatt 201 bis 207 der Vergabeakte, E-Mail vom 20.03.2024, 16:54 Uhr bis 16:56 Uhr). Danach sollte die Position 1.3 nicht mehr entfallen, dort vielmehr Preise für die Kosten von Hausmeister und Haustechnik angegeben werden. Die Positionen 3.2 und 4.2 sollten nicht mehr bepreist werden. Tatsächlich haben alle Bieter die Anlage 8 mit den Positionen 1.3, 3.2 und 4.2 bepreist. Dies war auch Gegenstand der Wertung. Die Antragsgegnerin hat also die Preise in einer Fassung gewertet, die sie zum Zeitpunkt der Wertung nicht mehr aufrechterhalten wollte.

Die Vergabekammer hat die Wertung nachvollzogen, dabei festgestellt, dass auch dann, wenn die Ziffern 3.2 und 4.2 nicht bepreist werden, auch wenn Netto statt Brutto gewertet wird, die Rangfolge zwischen der Antragstellerin und der Beigeladenen gleichbleibt. Die Rechte der Antragstellerin sind daher jedenfalls bei der Dringlichkeitsvergabe im Sinne des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV nicht verletzt.

d. Kein vergaberechtlicher Fehler dieser Dringlichkeitsvergabe liegt nach den obigen Ausführungen zu II.1 in der sehr allgemeinen Darstellung der Eignungsanforderungen (vgl. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 28.09.2023, 11 Verg 2/23 "Vor dem Hintergrund der Beschaffungsautonomie des öffentlichen Auftraggebers unterfällt die Definition von Eignungskriterien ausschließlich der Vergabestelle. Der Senat ist nicht berechtigt, der Vergabestelle Eignungskriterien vorzugeben. Er ist allein aufgerufen, gewählte Regelungen zur Eignung - wie hier die Referenzforderung - auf ihre Konformität mit dem Vergaberecht hin zu überprüfen.").

e. Die Antragsgegnerin hatte im Vergleich zu den Auftraggebern, die bereits gemäß den seit längerem bestehenden Pflichten nach §§ 10 - 12 VgV Vergabemanagementsysteme nutzen, erhebliche Probleme mit der Dokumentation nach § 8 VgV. Die Vergabeakte wurde daher entgegen § 163 Abs. 2 Satz 4 GWB der Vergabekammer nicht sofort zur Verfügung gestellt, sondern in einem ersten Anlauf sehr bald. Es war notwendig, immer wieder Akteninhalte nachzufordern, weil die Antragsgegnerin die Akteninhalte nicht in einem digitalen Ordner gebündelt hatte, daher E-Mail-Pakete nachliefern musste. Auch in der mündlichen Verhandlung begründete sie die Unterschiede zwischen der letzten Anforderung der Kostenkalkulation und der Wertung mit nicht vorgelegten Änderungen. Es war jedoch immer erkennbar, dass die Antragsgegnerin sich bereitwillig bemühte, die Anforderung der Vergabekammer schnellstmöglich zu erfüllen.

3. Gemäß § 168 GWB trifft die Vergabekammer die geeigneten Maßnahmen, um eine Rechtsverletzung zu beseitigen und eine Schädigung der betroffenen Interessen zu verhindern. Sie ist dabei an die Anträge nicht gebunden und kann auch unabhängig davon auf die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens einwirken.

Hier liegt ein Grund vor, mit Maßnahmen auf die Rechtmäßigkeit des Verfahrens einzuwirken. Die Antragstellerin ist in ihren Rechten i. S. des § 97 Abs. 6 GWB verletzt, weil die Antragsgegnerin beabsichtigt, den Auftrag für mindestens 67 Monate zu erteilen. Der Zeitraum für die Dringlichkeitsbeauftragung nach § 14 Abs. 4 VgV darf als ultima ratio nur soweit bemessen werden, wie es erforderlich ist, eine geordnete förmliche Vergabe durchzuführen. Die Vergabekammer hält dafür hier wie auch in einer anderen Entscheidung (vgl. VK Niedersachsen, Beschluss vom 21.07.2023, VgK-16/2023, mit zustimmender Anmerkung von Kus, ibr 2024/193) einen Zeitraum von 12 Monaten für ausreichend und angemessen. Eine Einzelfallabwägung ist zwar grundsätzlich geboten. Daneben ist aber auch zu berücksichtigen, wie hilfreich eine nicht übertragbare Einzelfallabwägung für eine Vergabestelle ist, welche die Dauer einer Dringlichkeitsvergabe plant. Daher empfiehlt sich der Zeitraum von 12 Monaten als Regelfall für die Dauer der Dringlichkeitsvergabe, damit die Vergabestelle zwischen Dringlichkeits- und regulärer Vergabe einmal Luft holen kann.

Die in § 135 Abs. 1 GWB normierte Unwirksamkeit von Anfang an ist hier bei der dem Grunde nach bereits richtig angewandten Dringlichkeitsvergabe nicht umzusetzen. Die Vergabekammer ist nach § 168 GWB an Anträge nicht gebunden und kann unabhängig davon auf die Rechtmäßigkeit des Verfahrens einwirken. Sie darf daher nach dem Argument "a majore ad minus" weniger anordnen, als ihr nach § 135 GWB vorgegeben ist. Obgleich gesetzlich nicht ausdrücklich normiert, wird daher die Unwirksamkeit aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht rückwirkend, sondern aufgrund der umfassenden Generalklausel des § 168 GWB erst ab dem 03.06.2025 erklärt. Eine Unwirksamkeit von Anfang an ist zwar geeignet, die obige Rechtsverletzung zu beseitigen. Sie würde aber zu erheblichen ungewollten Folgen fuhren. Die betriebsfertige Gemeinschaftsunterkunft wäre zu räumen, stünde bis zum Abschluss einer weiteren Dringlichkeitsvergabe leer. Der Dienstleistungsauftrag wäre nach Bereicherungsrecht abzuwickeln. Ihre geschlossenen Arbeitsverträge hätte die Beigeladene zu kündigen.

Die Unwirksamkeit von Anfang an ist zwar geeignet, aber nicht das mildeste der geeigneten Mittel, geht daher über das Erforderliche hinaus. Weil sie sich als Maßnahme nach § 168 GWB nicht auf den Teil der Vergabe beschränkt, der die Antragstellerin nach den obigen Gründen in ihren Rechten verletzt, wäre sie daher unverhältnismäßig.

Die Vergabekammer hatte aus den unter II.2 genannten Gründen zu berücksichtigen, dass die Beauftragung der Beigeladenen an sich gerechtfertigt ist. Insoweit war der Nachprü- fungsantrag der Antragstellerin als unbegründet zurückzuweisen.

III. Kosten

Die Kostenentscheidung folgt aus § 182 GWB.

Die in Ziffer 2 des Tenors festgesetzte Gebühr ergibt sich aus einer Interpolation des Auftragswertes innerhalb des Gebührenrahmens gemäß § 182 Abs. 2 GWB. Die von der Vergabekammer festzusetzende regelmäßige Mindestgebühr beträgt 2.500 €, die Höchstgebühr 50.000 € und die Höchstgebühr in Ausnahmefällen 100.000 €.

Die Gebührenermittlung erfolgt anhand einer Gebührentabelle des Bundeskartellamtes in der zzt. gültigen Fassung vom Dezember 2009. Hiernach wird der Mindestgebühr von 2.500 € eine Ausschreibungssumme von bis zu 80.000 € zugeordnet und dem regelmäßigen Höchstwert von 50.000 € eine Ausschreibungssumme von 70 Mio. € (höchste Summe der Nachprüfungsfälle 1996 - 1998) gegenübergestellt. Dazwischen wird interpoliert.

Der zugrunde zu legende Auftragswert beträgt xxxxxx €. Dieser Betrag entspricht in etwa der Gesamtsumme des Angebotes der Antragstellerin brutto für die feste Vertragslaufzeit von 67 Monaten und damit ihrem Interesse am Auftrag. Der genaue Betrag wird aufgrund des schutzwürdigen Interesses der Antragstellerin an der Geheimhaltung ihres Angebotspreises nicht offengelegt. Die Verlängerungsmöglichkeit wird nicht berücksichtigt, weil deren Umfang anders als bei begrenzten Optionen nicht berechenbar ist. Zugleich dient dies dem Kosteninteresse der Verfahrensbeteiligten.

Bei einer Vergabesumme von etwa xxxxxx € brutto ergibt sich eine Gebühr in Höhe von xxxxxx €. Diese Gebühr schließt einen durchschnittlichen sachlichen und personellen Aufwand ein. Gutachterkosten oder Kosten durch Zeugenvernehmungen in der mündlichen Verhandlung sind nicht angefallen.

Die in Ziffer 3 des Tenors verfügte Kostenlast folgt aus § 182 Abs. 3 Satz 1 GWB. Danach hat ein Beteiligter, soweit er im Nachprüfungsverfahren unterliegt, die Kosten zu tragen. Der Begriff der Kosten umfasst sowohl die Gebühren, als auch die Auslagen der Vergabekammer. Hier war zunächst zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin im Nachprüfungsverfahren teilweise unterlegen ist. Den Umfang des Unterliegens bemisst die Vergabekammer nach der Zahl der Monate der vorgesehenen Laufzeit, in denen der Vertrag für Unwirksam erklärt wird. Das sind 55 von 67 Monaten, gerundet auf 18 % der Laufzeit, was in etwa dem Verhältnis von 4/5 zu 1/5 entspricht.

Die Antragsgegnerin ist von der Pflicht zur Entrichtung ihres Kostenanteils gemäß § 182 Abs. 1 Satz 2 GWB i. V. m. § 8 Abs. 1 Nr. 3 BVerwKostG befreit (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 13.07.2005, Az.: 13 Verg 9/05; OLG Dresden, Beschluss vom 25.01.2005, Az.: WVerg 0014/04). Zwar ist das BVerwKostG mit Wirkung vom 15.08.2013 aufgehoben worden, jedoch ist es aufgrund der starren Verweisung aus § 182 Abs. 1 Satz 2 GWB auf das BVerwKostG in der Fassung vom 14.08.2013 hier weiter anzuwenden. Inhaltlich entspricht die dortige Regelung § 8 BGebG.

Gemäß Ziffer 4 des Tenors haben Antragsgegnerin und Antragstellerin einander die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Aufwendungen gemäß § 182 Abs. 4 Satz 1 GWB wechselseitig teilweise im Umfang des jeweiligen Unterliegens zu erstatten.

Gemäß § 182 Abs. 4 Satz 4 GWB i. V. m. § 80 Abs. 2 VwVfG in entsprechender Anwendung war antragsgemäß auszusprechen, dass die Zuziehung eines Rechtsanwalts durch die Antragstellerin im Nachprüfungsverfahren notwendig war. Obwohl das GWB für das Nachprü- fungsverfahren 1. Instanz vor der Vergabekammer keine rechtsanwaltliche Vertretung vorschreibt, ist wegen der Komplexität des Vergaberechts, des Verfahrensrechts im Nachprü- fungsverfahren sowie der Komplexität des konkreten streitbefangenen Vergabeverfahrens rechtsanwaltliche Beratung und Begleitung für die Antragstellerin erforderlich.

Gemäß § 182 Abs. 4 Satz 2 GWB sind die Aufwendungen der Beigeladenen nur erstattungsfähig, soweit sie die Vergabekammer aus Billigkeit der unterliegenden Partei auferlegt. Die Beigeladene hat das Verfahren schriftsätzlich maßgeblich gefördert, in der mündlichen Verhandlung keinen Sachantrag gestellt. Es gab daher keinen Grund Aufwendungen der Beigeladenen aus Billigkeitsgründen der unterlegenen Parteien aufzuerlegen.

Die Antragstellerin wird aufgefordert, innerhalb einer Frist von einem Monat nach Rechtskraft dieses Beschlusses den Betrag von xxxxxx € unter Angabe des Kassenzeichens

xxxxxx

auf folgendes Konto zu überweisen:

xxxxxx

IV. Rechtsbehelf

...

Gaus
Tarnowski
Menneke