Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 06.12.2006, Az.: 1 A 367/04

Abwägung; Beamter; Beihilfe; Berufsbeamtentum; Bestandskraft; Ermessen; Ermessensdefizit; Ermessensnichtgebrauch; Ermessensreduzierung auf Null; Geldleistung; Heilung; rechtswidriger Verwaltungsakt; Rechtswidrigkeit; Rücknahme; Vertrauen; Vertrauensschutz; Verwaltungsakt; öffentlicher Dienst

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
06.12.2006
Aktenzeichen
1 A 367/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 53244
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung bzw. Teilaufhebung mehrerer Beihilfebescheide verbunden mit der Ablehnung bzw. der niedrigeren Neufestsetzung der beantragten Beihilfe.

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Sie ist als Beamtin des Landes Niedersachsen beihilfeberechtigt (zu 50 %). In der Zeit vom 4. September 2003 bis 2. Januar 2004 wurden der Klägerin mit vier Beihilfebescheiden, und zwar vom 4. September 2003, 31. Oktober 2003, 20. November 2003 und 2. Januar 2004, unter anderem oder ausschließlich Beihilfe zu den Kosten von Maßnahmen im Zusammenhang mit einer IVF-ICSI-Behandlung in Höhe von insgesamt 2.165,91 EUR gewährt. Den Bescheiden war eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht beigefügt.

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Nachdem das beklagte Amt im Rahmen des Widerspruchs der Klägerin gegen die Ablehnung der Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für eine künstliche Befruchtung (Bescheid vom 29.1.2004) festgestellt hatte, dass zu den Aufwendungen zu Maßnahmen im Zusammenhang mit der IVF-ICSI-Behandlung mit den hier genannten Bescheiden bereits Beihilfe gewährt worden war, hob sie mit den hier angefochtenen vier Bescheiden vom 6. Juli 2004 die Bescheide vom 4. September 2003, 20. November 2003 und 2. Januar 2004 vollständig auf und lehnte die Gewährung der beantragten Beihilfe vollständig ab. Den Beihilfebescheid vom 31. Oktober 2003 hob sie in Höhe eines Betrages von 239,49 EUR auf und setzte die Beihilfe neu auf 87,33 EUR fest.

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Die Klägerin legte gegen die Aufhebung bzw. Änderungsbescheide vom 6. Juli 2004 Widerspruch ein und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Die aufgehobenen bzw. geänderten Bescheide seien nicht rechtswidrig gewesen. Die nunmehr nicht anerkannten Maßnahmen hätten nicht allein einer künstlichen Befruchtung gedient. Die Maßnahmen und die Medikamente seien unabhängig von dem Kinderwunsch notwendig gewesen, wie ihr Frauenarzt bestätigt habe. Der Aufhebung der Bescheide stände darüber hinaus entgegen, dass sie sich gemäß § 48 Abs. 2 Satz 1 VwVfG auf Vertrauensschutz berufen könne. Sie habe die gewährten Leistungen im Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit der Leistungsgewährung verbraucht. Sie hätte die medizinischen Maßnahmen, für die sie das Geld verwendet habe, überhaupt nicht durchgeführt bzw. nicht weitergeführt, wenn sie nicht in der berechtigten Annahme gewesen wäre, dass die Leistungsgewährung Bestand habe.

5

Den Widerspruch wies das beklagte Amt mit Widerspruchsbescheid vom 5. Oktober 2004 zurück. Darin wurde dargelegt, dass durch Bescheid vom 29. Januar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 2004 bestandskräftig die Beihilfefähigkeit der Aufwendungen für eine künstliche Befruchtung der Klägerin nach der IVF-ICSI-Methode abgelehnt worden sei. Dies habe zur Folge, dass alle damit im Zusammenhang stehenden Aufwendungen nicht beihilfefähig seien. Die nunmehr abgesetzten Beträge, deretwegen die Bescheide aufgehoben bzw. teilweise geändert worden seien, hätten alle im Zusammenhang mit der IVF-ICSI-Behandlung gestanden. Dies habe der behandelnde Arzt ausdrücklich mit Bescheinigung vom 24. Mai 2004 bestätigt. Sie seien mithin insoweit rechtswidrig. Da die Bescheide wegen fehlender Rechtsmittelbelehrung noch nicht bestandskräftig gewesen seien, hätten sie ohne Weiteres noch berichtigt werden können. Die Schutzvorschrift des § 48 VwVfG greife in diesem Falle nicht ein.

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Am 25. Oktober 2004 hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt sie ihre Ausführungen aus dem Vorverfahren.

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Die Klägerin beantragt,

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die vier Neufestsetzungsbescheide des beklagten Amtes vom 6. Juli 2004 betreffend die ursprünglichen Bescheide vom 4. September 2003, 31. Oktober 2003, 20. November 2003 und 2. Januar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 2004 aufzuheben.

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Das beklagte Amt beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Zur Begründung wiederholt es im Wesentlichen seine Ausführungen aus dem Widerspruchsbescheid.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des beklagten Amtes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig und begründet.

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Die angefochtenen Bescheide des beklagten Amtes vom 6. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 2004 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

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Entgegen der Auffassung des beklagten Amtes kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der noch nicht bestandskräftig ist, nicht stets und ohne Weiteres berichtigt werden. Die Änderung oder Aufhebung rechtswidriger Verwaltungsakte auf dem Gebiet des Beihilferechts richtet sich mangels spezialgesetzlicher Regelung nach § 48 VwVfG. Diese Vorschrift gilt nicht nur für unanfechtbar gewordene Verwaltungsakte, sondern für alle im Sinne des § 43 Abs. 1 VwVfG wirksamen Verwaltungsakte (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Auf. 2005, § 48 Rdnrn. 1 und 15 a).

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Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG kann die Behörde einen rechtswidrigen Verwaltungsakt grundsätzlich jederzeit - auch während eines anhängigen Rechtsstreites über den Verwaltungsakt oder nachdem er bereits unanfechtbar geworden ist, und selbst nach Bestätigung durch ein gerichtliches Urteil - ganz oder teilweise zurücknehmen. Die Entscheidung über die Rücknahme eines Verwaltungsaktes steht dabei nach § 48 VwVfG grundsätzlich im Ermessen der Behörde. Die Befugnis zur Rücknahme schließt auch die Befugnis zur Änderung mit ein. Bei - wie hier - begünstigenden Verwaltungsakten darf die Rücknahme nur unter den Einschränkungen der Abs. 2 - 4 zurückgenommen werden (§ 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG). Nach § 48 Abs. 2 VwVfG darf ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewährt oder hierfür Voraussetzung ist, nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist.

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Die hiernach erforderliche Ermessensentscheidung, ob die nach Ansicht des beklagten Amtes rechtswidrigen Bescheide vom 4. September 2003, 31. Oktober 2003, 20. November 2003 und 2. Januar 2004 zurückgenommen werden sollen, hat das beklagte Amt weder in den vier Neufestsetzungsbescheiden vom 6. Juli 2004 noch in seinem Widerspruchsbescheid vom 5. Oktober 2004 getroffen. Dies führte zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung.

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Eine Heilung dieses Ermessensnichtgebrauchs nach § 114 Satz 2 VwGO ist nicht möglich. Denn § 114 Satz 2 VwGO schafft die prozessualen Voraussetzungen lediglich dafür, dass defizitäre Ermessenserwägungen ergänzt werden, nicht hingegen dafür, dass das Ermessen erstmals ausgeübt oder die Gründe einer Ermessensausübung (komplett oder doch in ihrem Wesensgehalt) ausgewechselt werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.1.1999 - 6 B 133.98 -, NJW 1999, 2912).

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Die Nichtausübung des Ermessens führt hier auch nicht ausnahmsweise deshalb nicht zur Rechtswidrigkeit, weil eine sogenannte Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. Eine derartige Fallkonstellation ist nicht gegeben. Es ist nicht ersichtlich, dass der Klägerin ein Vertrauensschutz nach § 48 Abs. 2 VwVfG von vornherein nicht zustehen kann. Dies bedarf hier vielmehr einer Abwägung.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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Gründe, die Berufung gemäß § 124 a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO zuzulassen, sind nicht gegeben.