Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 22.05.1996, Az.: II 596/95
Erlass eines Einkommensteuerbescheides nach Ablauf der Festsetzungsfrist; Fristwahrung im Fall des § 169 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 AO nur durch bekanntgegebenene, also dem Steuerpflichtigen zugegangene Verwaltungsakte; Vergleich der Vorschrift des § 169 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 AO (Abgabenordnung) mit § 270 Abs. 3 ZPO (Zivilprozeßordnung)
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 22.05.1996
- Aktenzeichen
- II 596/95
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1996, 18739
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:1996:0522.II596.95.0A
Rechtsgrundlagen
- § 169 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 AO
- § 270 Abs. 3 ZPO
Fundstelle
- EFG 1996, 1071-1073 (Volltext mit amtl. LS)
Verfahrensgegenstand
Keine Wahrung der Festsetzungsfrist durch nicht zugegangenen Bescheid
(gegen BFH-Urteil vom 31.10.1989, VIII R 60/88, BStBl II 1990, 518 Rev. zug.)
Einkommensteuer 1987
Redaktioneller Leitsatz
Der in § 169 AO verwendete Begriff "Steuerbescheid" meint nach der Legaldefinition des § 155 Abs. 1 S. 2 den nach § 122 Abs. 1 AO bekanntgegebenen Verwaltungsakt. Die am Wortsinn orientierte Auslegung ergibt somit, dass die Frist nur gewahrt ist, wenn der Verwaltungsakt dem Steuerpflichtigen zugeht.
In dem Rechtsstreit
hat der II. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts
ohne mündliche Verhandlung
in der Sitzung vom 22. Mai 1996,
an der mitgewirkt haben:
1. Vorsitzender Richter am Finanzgericht ...
2. Richter am Finanzgericht ...
3. Richter am Finanzgericht ...
4. ehrenamtlicher Richter ...
5. ehrenamtlicher Richter ...
fürRecht erkannt:
Tenor:
Der Einkommensteuerbescheid 1987 vom 27.12.1993 und der Einspruchsbescheid vom 22.09.1995 werden aufgehoben.
Die Revision wird zugelassen.
Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der an den Kläger zu erstattenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit leistet.
Tatbestand
Streitig ist in verfahrensrechtlicher Hinsicht, ob der angefochtene Einkommensteuerbescheid nach Ablauf der Festsetzungsfrist ergangen ist. In der Sache geht es um Feststellungen während einer Außenprüfung für die Folgejahre, die auf Anregung des Prüfers zu einer Änderung des unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Einkommensteuerbescheids des Klägers (Kl.) durch den Innendienst führten.
Der Kl. ist Steuerberater. Er war an der C. Datenverarbeitungsgesellschaft mbH zu 30 v.H. beteiligt. Diese mußte liquidiert werden, als ihr wesentlicher Geschäftspartner, gegen den noch Forderungen in Höhe von ca. 250.000 DM bestanden, in Konkurs fiel. Der Kl. hatte für die GmbH gebürgt und wurde von der kreditgebenden Bank 1985 in Anspruch genommen. Die Zinsen für das zur Begleichung der GmbH-Verbindlichkeiten aufgenommene Darlehen machte der Kl. im Streitjahr steuermindernd geltend.
Der Kl. gab seine Einkommensteuererklärung 1987 im Jahr 1989 (Bl. 3 Einkommensteuerakte - EStA - 1987) ab. Das damals zuständige Finanzamt F. veranlagte den Kl. unter dem Vorbehalt der Nachprüfung und setzte die Einkommensteuer auf 0 DM fest. 1993 fand bei dem inzwischen nach B. verzogenen Kl. eine Außenprüfung für die Jahre ab 1988 statt. Der Prüfer vertrat die Auffassung, daß Aufwendungen des Kl. im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme aus der Bürgschaft sich nicht steuermindernd auswirken dürften. Nach einem Hinweis des Prüfers änderte der Beklagte (Bekl.) den Einkommensteuerbescheid 1987 entsprechend der Rechtsauffassung des Prüfers, erhöhte die Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit und kürzte die Verlustvorträge. Die Einkommensteuer wurde auf 26.010 DM festgesetzt. Wegen der Einzelheiten wird auf den Einkommensteuerbescheid vom 27.12.1993 nebst Anlage (Bl. 11 Gerichtsakte-GA) verwiesen. Der Finanzbeamte R. führte am 15.12.1993 die EDV-Eingabe der geänderten Daten durch. Der Änderungsbescheid mit dem maschinell aufgedruckten (Absende-)Datum 30.12.1993 lag dem FA am 22.12.1993 vor. Der Finanzbeamte R. will dann den Bescheid auf den 27.12.1993 vordatiert und am 27.12.1993 mittags persönlich in die Poststelle gebracht und auf den Stapel der abzusendenden Briefe gelegt haben. Auf den Vermerk des Finanzbeamten R. (Bl. 22 GA) wird verwiesen.
Nach der im FA B. im Jahr 1993 bestehenden Übung wurde die abzusendende Post zunächst frankiert und verschlossen, sodann zum Transport in Kisten gepackt und dann einmal täglich mit dem Pkw zu einem Postamt befördert und abgeliefert (Vermerk vom 16.01.1996 - Bl. 23 GA).
Der Kl. reichte die Mahnung der Finanzkasse wegen Einkommensteuer 1987 vom 01.03.1994 an den Bekl. zurück mit dem Bemerken, es müsse sich um einen Irrtum handeln, da ihm ein Steuerbescheid, nach dem er Einkommensteuer für 1987 zu zahlen habe, nicht vorliege (Bl. 37 EStA). Mit Schreiben vom 10.03.1994 übersandte der Bekl. dem Kl. Fotokopien des geänderten Einkommensteuerbescheids 1987 nebst Anlage. Demgegenüber berief sich der Kl. darauf, daß Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Der Bekl. sah hierin einen Einspruch. Der Einspruch wurde als unbegründet zurückgewiesen (Bl. 15 GA). Zwar könne - so der Bekl. im Einspruchsbescheid - davon ausgegangen werden, daß der am 27.12.1993 abgesandte Bescheid dem Kl. nicht zugegangen sei. Unter Hinweis auf das BFH-Urteil vom 31.10.1989 (VIII R 60/88, BStBl II 1990, 518) meinte der Bekl., die Festsetzungsfrist sei aber auch dann gewahrt, wenn der Steuerbescheid vor Ablauf der Festsetzungsfrist den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen und die Finanzbehörde alle Voraussetzungen eingehalten habe, die für den Erlaß eines wirksamen Steuerbescheids vorgeschrieben seien. Nicht erforderlich sei es, daß der Bescheid dem Adressaten tatsächlich zugehe und wirksam werde. Es genüge, wenn der Bescheid nach dem Inhalt der Steuerakten hätte wirksam werden können. Hiergegen richtet sich die Klage.
Der Kl. meint weiterhin, der angefochtene Bescheid sei erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist ergangen. Der Bekl. habe nicht, wie es erforderlich sei, die Übergabe des Bescheides und seiner Anlage zur Beförderung an die Deutsche Bundespost dokumentiert. Im übrigen bestünden auch in der Sache Bedenken gegen die Prüfungsfeststellungen, die zu dem Änderungsbescheid geführt haben. Insoweit werde auf die Ausführungen in dem Verfahren wegen Einkommensteuer 1992 (Az. II 132/95) verwiesen.
Der Kl. beantragt sinngemäß,
den angefochtenen Bescheid vom 27.12.1993 und den Einspruchsbescheid vom 22.09.1994 aufzuheben.
Der Bekl. hält an seiner Rechtsauffassung fest und beantragt Klagabweisung.
Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet (Schreiben des Kl. vom 17.01.1996 - Bl. 18 GA, Schreiben des Bekl. vom 17.01.1996 - Bl. 20 GA).
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet. Der Einkommensteuerbescheid 1987 ist erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist (§ 169 Abgabenordnung-AO) ergangen. Die Änderung des vom FA Freudenstadt erlassenen Einkommensteuerbescheids ist daher unzulässig (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO).
Der angefochtene Einkommensteuerbescheid 1987 ist durch die Bekanntgabe im März 1994 wirksam geworden (§ 124 AO), als die Festsetzungsfrist des § 169 AO bereits abgelaufen war. Die Festsetzungsfrist lief am 31.12.1993 ab. Sie hatte mit Abiauf des Jahres 1989, in dem der Kl. die Steuererklärung abgegeben hatte, begonnen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO) und betrug vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO). Daß der Erstbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen war,ändert hieran nichts. Der Vorbehalt der Nachprüfung entfällt, wenn die Festsetzungsfrist abläuft (§ 164 Abs. 4 AO).
Allerdings ist die Festsetzungsfrist auch dann gewahrt, wenn vor ihrem Ablauf der Steuerbescheid den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen hat (§ 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO). Auf diese Vorschrift kann der Bekl. sich im Streitfall indes nicht berufen. Das gilt selbst dann, wenn man zugunsten des Bekl. die vom Kl. bestrittene Behauptung als wahr unterstellt, der Bescheid sei am 27.12.1993 im Postamt abgeliefert worden. Die Festsetzungsfrist ist nur dann gewahrt, wenn der vor Ablauf der Festsetzungsverjährung abgesandte Steuerbescheid dem Steuerpflichtigen tatsächlich zugeht. Daran fehlt es im Streitfall, wovon auch der Bekl. ausgeht.
Die Vorschrift des § 169 Abs. 1 Satz 3 AO behandelt lediglich einen Sonderfall der Fristwahrung. Hierfür spricht zunächst der Wortlaut des Gesetzes. Der in§ 169 AO verwendete Begriff "Steuerbescheid" meint nach der Legaldefinition des § 155 Abs. 1 Satz 2 den nach§ 122 Abs. 1 AObekanntgegebenen Verwaltungsakt. Die am Wortsinn orientierte Auslegung ergibt somit, daß die Frist nur gewahrt ist, wenn der Verwaltungsakt dem Steuerpflichtigen zugeht.
Die Gründe, die in dem BFH-Urteil vom 31.10.1989 (a.a.O.) zur Rechtfertigung dafür angeführt werden, daß dem Begriff "Steuerbescheid" ein anderer Inhalt als in der Legaldefinition vorgesehen, beizulegen sei, vermögen nicht zu überzeugen.
Aus dem Vergleich der Vorschrift des § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO mit § 270 Abs. 3 Zivilprozeßordnung (ZPO) läßt sich nicht ableiten, daß die Festsetzungsfrist auch dann gewahrt werden kann, wenn der Zugang des Steuerbescheids nicht erfolgt ist oder nicht nachgewiesen werden kann. Daß § 270 Abs. 3 ZPO Vorbild für die hier streitige Regelung gewesen ist, in § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO jedoch auf die Einschränkung des § 270 Abs. 3 "sofern die Zustellung demnächst erfolgt" verzichtet wird, rechtfertigt das Abweichen vom Wortlaut des Gesetzes nicht. Schon von der Logik her läßt sich aus dem Verzicht auf die Formulierung, "sofern die Zustellung demnächst erfolgt", nur herleiten, daß es auf eine Zustellung "demnächst" nicht ankommen soll, nicht aber, daß eine Zustellung bzw. ein Zugang des Steuerbescheides überhauptüberflüssig wäre.
Ob es nahegelegen hätte, die einschränkende Regelung des § 270 Abs. 3 ZPO auch in den Wortlaut des§ 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO ausdrücklich aufzunehmen, wenn der Gesetzgeber die fristwahrende Wirkung nur für den Fall hätte eintreten lassen wollen, daß der vor Ablauf der Festsetzungsfrist zur Post gegebene Steuerbescheid den Empfänger inabsehbarer Zeit auch tatsächlich erreicht (so der BFH a.a.O.), kann dahinstehen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes kommt es nur darauf an, daß der vor Fristablauf zur Post gegebene Bescheid dem Steuerpflichtigen tatsächlich zugeht. Die Beförderungsdauer des Briefes spielt keine Rolle. Es wäre auch nicht einzusehen, wenn der Gesetzgeber Rechtsfolgen an die von der Finanzbehörde nicht beeinflußbare Beförderungsdauer knüpfte.
Daß nach § 270 Abs. 3 ZPO die fristwahrende Wirkung eintritt, "sofern die Zustellung demnächst erfolgt", hängt mit der besonderen (Verfahrens-)Rechtslage im Zivilrecht zusammen, die dadurch geprägt ist, daß sich die Parteien zur Fristwahrung durch Klageerhebung des Gerichts bedienen müssen. Da die Klage erst mit Zustellung der Klageschrift erhoben ist (§§ 253, 496, 498 ZPO), hinge die Fristwahrung ohne § 270 Abs. 3 ZPO auch von Umständen ab, auf die der die Zustellung Betreibende keinen Einfluß hat. Um die Partei vor Nachteilen durch Zustellungsverzögerungen innerhalb des gerichtlichen Geschäftsbetriebs zu bewahren, läßt § 270 Abs. 3 ZPO bereits die Anbringung des Antrags oder der Erklärung bei Gericht (und nicht erst die Zustellung beim Verfahrensgegner) zur Fristwahrung ausreichen, "sofern die Zustellung demnächst erfolgt", d.h. in einer den Umständen nach angemessenen Frist, ohne besondere von der Partei zu vertretende Verzögerungen, wie etwa die nicht rechtzeitige Zahlung des angeforderten Gerichtskostenvorschusses (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 270, 15, 16).
Einer dem § 270 Abs. 3 ZPO vergleichbaren Regelung bedarf es unter der Geltung des § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO nicht. Die Festsetzungsfrist ist bereits gewahrt, wenn der Steuerbescheid den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Behörde vor Fristablauf verlassen hat. Hat der Bescheid aber den Bereich der Finanzbehörde verlassen, hat die Behörde, anders als die Partei, die eine Klage bei Gericht angebracht hat, auf die Beförderungsdauer keinen Einfluß mehr.
In der Rechtsprechung zu § 270 Abs. 3 ZPO werden zudem durch Nachlässigkeit der Partei oder ihres Prozeßbevollmächtigten verursachte Verzögerungen von bis zu 14 Tagen noch als unschädlich angesehen (Bundesgerichtshof, Urteil vom 09.11.1994 VIII ZR 327/93, NJW-RR 1995, 254 m.w.N.). Dieser Zeitraum liegt erheblich über der regelmäßigen Beförderungsdauer von Briefen im Inland und auch über der in § 122 Abs. 2 AO aufgestellten Fiktion, daß ein Brief im Inland am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben gilt. Wenn aber die Beförderungsdauer deutlich kürzer ist als der Zeitraum, in dem selbst vermeidbare Verzögerungen die Fristwahrung gem. § 270 Abs. 3 ZPO nicht beeinträchtigen, ist eine dem § 270 Abs. 3 ZPO nachgebildete Vorschrift in § 169 AOüberflüssig. Geht der Bescheid zu, erreicht er ohnehin regelmäßig schon wenige Tage nach der Aufgabe zur Post, also auf alle Fälle "demnächst", den Empfänger. Geht der vor Fristablauf zur Post gegebene Bescheid nicht zu, tritt bereits nach dem Wortlaut des § 169 AO dieselbe Wirkung ein, wie die, wenn die Zustellung i.S.d. § 270 Abs. 3 ZPO unterbleibt: Die Frist ist nicht gewahrt.
Die hier abgelehnte Ansicht ist auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten bedenklich, da nach ihrer Auffassung ein Rechtsnachteil des Steuerpflichtigen, die Wahrung der Festsetzungsfrist, durch einen mangels Bekanntgabe unwirksamen (§ 124 AO) Bescheid herbeigeführt wird. Der unwirksame Bescheid "wahrt" jedoch nicht selbst die Festsetzungsfrist, sondern verlängert sie im Ergebnis, weil die Steuerfestsetzung durch einen erstmaligen Bescheid nach Fristablauf nachgeholt werden muß. Die Fristverlängerung wäre zudem zeitlich nahezu ohne jede Begrenzung. Die Finanzbehörde könnte, soweit nicht im Einzelfall zugunsten des Steuerpflichtigen der Vertrauensschutz dem entgegensteht, auch noch Jahre nach Ablauf der Festsetzungsfrist eine Steuer festsetzen, wenn sie nur vor Ablauf der Frist versucht hat, den Bescheid bekanntzugeben. Eine solche Möglichkeit widerspricht den Wertungen der AO, deren Verjährungsregeln darauf abzielen, zeitnah zum Veranlagungszeitraum Rechtsfrieden eintreten zu lassen.
Wenn es, wie der BFH (a.a.O.) meint, "der erkennbare Zweck der Regelung" des § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO wäre, die Wahrung der Festsetzungsfrist nicht von den "Zufälligkeiten des Bekanntgabevorgangs" abhängig zu machen, auf die die Finanzbehörde im allgemeinen keinen Einfluß hat, könnte dies allerdings für die Auslegung des BFH sprechen. Dem ist indes nicht so. Die Frage, ob ein abgesandter Bescheid zugeht, gehört zwar zu den "Zufälligkeiten des Bekanntgabevorgangs". Die Formulierung "Zufälligkeiten des Bekanntgabevorgangs" stammt jedoch aus der Begründung des Regierungsentwurfs (Bundestagsdrucksache VI/1982, 150) und ist dort anders gemeint. Dort heißt es nämlich weiter, die Vorschrift vermeide den sonst möglichen Streit, "wann der Steuerbescheid zugegangen ist". Nach dem Wortlaut des Gesetzes und der Begründung des Regierungsentwurfs ist es daher der Zweck der Regelung, die Fristwahrung vom Zeitpunkt des Zugangs, nicht aber vom Zugang selbst unabhängig zu machen.
Für die hier vertretene Auffassung spricht ferner, daß § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AO dann, wenn der Aufenthaltsort des Steuerpflichtigen unbekannt ist, einen rechtzeitigen Aushang zur Bekanntgabe des Bescheids durch öffentliche Zustellung zur Fristwahrung verlangt. Nach Ablauf der in § 15 Abs. 3 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) genannten Frist ist der Bescheid als zugestellt anzusehen. Es wäre nicht einsichtig, daß dann, wenn der Aufenthaltsort des Steuerpflichtigen bekannt ist, die Frist ohne Bekanntgabe des Bescheids gewahrt werden könnte.
Das vom VIII. Senat des BFH (a.a.O.) und den Vertretern der Gegenansicht in der Literatur (Hübschmann-Hepp-Spitaler, AO,§ 169, 59; Klein-Orlopp, AO, § 169, 8) angeführte Argument, ein Steuerpflichtiger, dem kurz vor Ablauf der Festsetzungsfrist Steuerbescheide übersandt würden, dürfe sich nicht mit der bloßen Behauptung, die Bescheide seien ihm nicht zugegangen, der Besteuerung entziehen können, vermag ebenfalls nicht zu überzeugen. Die Finanzbehörde ist auch bei drohendem Ablauf der Festsetzungsfrist nicht gehindert, den Bescheid förmlich zuzustellen und damit die Bekanntgabe des Bescheides sicherzustellen. Auch im Fall der förmlichen Zustellung käme es für die Wahrung der Festsetzungsfrist nur darauf an, daß der Bescheid vor Ablauf der Festsetzungsfrist den Bereich der Behörde verläßt.
Es ist auch nicht zutreffend, daß eine Bekanntgabe durch eingeschriebenen Brief oder durch Postzustellungsurkunde eine Handhabung sei, die den Grundsätzen der vereinfachten Bekanntgabe von Steuerbescheiden widerspräche. Die Zustellung des Bescheides steht im Ermessen des Finanzamts (§ 122 Abs. 5 AO). Bei drohendem Ablauf der Festsetzungsfrist ist es ermessensgerecht, wenn nicht sogar geboten, die förmliche Zustellung von Bescheiden anzuordnen. Da das Gesetz die förmliche Zustellung der Bescheide ausdrücklich vorsieht, kann sie den Grundsätzen der vereinfachten Bekanntgabe von Steuerbescheiden nicht widersprechen.
Die Vorschrift des § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO entbindet die Behörde danach nur davon, den Zeitpunkt des Zugangs eines Steuerbescheides nachzuweisen. Sie ersetzt aber nicht die Bekanntgabe des Bescheides, sondern setzt diese voraus. Die Festsetzungsfrist wird danach nur gewahrt, wenn nach dem nach § 169 Abs. 1 Satz 3 AO bestimmten Zeitpunkt der Steuerbescheid tatsächlich wirksam wird, wozu insbesondere die richtige Adressierung, die Bekanntgabe an den richtigen Adressaten und die Einhaltung sonstiger Wirksamkeitsvoraussetzungen (vgl. §§ 122, 124, 125 AO) gehört. Allein die Absendung des Steuerbescheids genügt nicht, um die Festsetzungsfrist zu wahren (BFH-Urteil vom 16.05.1990 X R 147/87, BStBl II 1990, 942, 943; BFH-Beschluß vom 12.06.1991 II B 151/90, BFH/NV 1992, 556: Gegenansicht "bedenklich"; FG-Düsseldorf, Urteil vom 09.08.1985 XV 431/85 E EFG 1986, 57; Hessisches Finanzgericht, Urteil vom 26.09.1995 1 K 2373/94, EFG 1996, 251; Tipke-Kruse, AO,§ 169, 12; Kühn-Hofmann, AO-Finanzgerichtsordnung,§ 169 AO, 4; Koch-Scholtz, AO, § 169, 18; Guth, Verlängerung der Festsetzungsfrist durch unwirksame Bescheide?, DStZ 1990, 538; offengelassen im BFH-Urteil vom 27.04.1995 VII R 90/93, BFH/NV 1995, 943).
Die Revision wird zugelassen, weil das Urteil von dem BFH-Urteil vom 31.10.1989 (a.a.O.) abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 151 Abs. 3 FGO i.V.m.§§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.