Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 30.05.2020, Az.: 3 A 3953/18

Dublin; Italien; Systemische Mängel

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
30.05.2020
Aktenzeichen
3 A 3953/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 71806
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Systemische Mängel im italienischen Asylsystem; Rücküberstellung nach Italien im Rahmen des Dublin-Verfahrens;

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 30. Mai 2018 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 30.05.2018, mit dem sein Asylantrag als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Italien angeordnet wurde.

Der 1989 geborene Kläger ist nach eigenen Angaben eritreischer Staatsangehöriger vom Volk der Tigrinya. Gegenüber dem A. (Bundesamt) erklärte er, er habe sein Heimatland etwa 1998 verlassen. Er habe dann ca. 20 Jahre lang im Sudan gelebt. Danach sei er zunächst nach Ägypten und im Anschluss nach Libyen gegangen. Von dort sei er nach Italien gereist, wo er ca. 2 Monate verbracht habe, bevor er über Frankreich und Belgien schließlich am 24.04.2018 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei.

Am 25.04.2018 stellte der Kläger einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt gab er an, er habe in Italien seine Fingerabdrücke abgeben müssen. Einen Asylantrag habe er dort nicht stellen wollen. Er sei in Italien von seiner Frau und seinem Kind getrennt und nach E. zugewiesen worden. Als er zurückkam, habe er erfahren, dass seine Frau in Deutschland sei.

Ein am 25.04.2018 durchgeführter Abgleich mit der Eurodac-Datenbank ergab, dass der Kläger am 09.02.2018 in Italien registriert worden war und unter gleichem Datum einen Asylantrag gestellt hatte. Daraufhin richtete das Bundesamt am 15.05.2018 ein Übernahmeersuchen an die italienischen Behörden, das unbeantwortet blieb.

Den Asylantrag des Klägers lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30.05.2018 als unzulässig ab (Ziff. 1). Zur Begründung führte sie aus, dass Italien aufgrund des dort gestellten Asylantrages für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig sei. Zudem stellte die Beklagte fest, dass keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote vorlägen (Ziff. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziff. 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 4).

Der Kläger hat am 12.06.2018 Klage erhoben. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, im italienischen Asylsystem herrschten systemische Mängel. Im Übrigen hielten sich seine Frau und sein Kind ebenso in Deutschland auf. Er besuche sie so oft wie möglich.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 30.05.2018 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung beruft sie sich auf den streitgegenständlichen Bescheid. Ein Abschiebungsverbot aufgrund der Vaterschaft des Klägers komme darüber hinaus nicht in Betracht, da zwischen dem Kläger und seinem Kind aufgrund der räumlichen Distanz der Wohnorte keine tatsächliche Nähebeziehung bestehe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Das Verfahren wurde mit Beschluss vom 15.07.2020 zur Entscheidung auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen. Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Entscheidungsgründe

I.

Die erhobene Klage ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung, VwGO) zulässig. Weist das Bundesamt einen Asylantrag - wie hier - mit der Begründung als unzulässig ab, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens eines Asylsuchenden zuständig sei, ist die Anfechtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, Urteil v. 27. 10. 2015 - 1 C 32.14 – juris Rn. 14 f.).

II.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 28.03.2017 ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 S. 1 Var. 2 des Asylgesetzes, AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Die Beklagte hat den Asylantrag des Klägers auf Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig abgelehnt. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-Verordnung) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.

Die Beklagte hat weiterhin gemäß § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG die Abschiebung des Klägers nach Italien angeordnet. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung an, wenn der Ausländer oder die Ausländerin in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll.

Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

1.

Die Beklagte ist zunächst nach den Regelungen der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO) zutreffend von einer Zuständigkeit Italiens ausgegangen, weil der Kläger bereits in Italien einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat (Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin-III-VO).

Die italienischen Behörden haben auf das Wiederaufnahmegesuch, das am 15.05.2018 und damit rechtzeitig innerhalb der Zweimonats-Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO gestellt wurde, nicht reagiert. Demnach ist Italien aufgrund der Fiktionswirkung des Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO zunächst zuständig geworden.

2.

Jedoch entfällt die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO.

a) Danach setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Art. 8 bis 15 Dublin III-VO vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller oder eine Antragstellerin an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller*innen in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta für Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) mit sich bringen.

Dabei ist im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich zu berücksichtigen, dass hinsichtlich anderer EU-Mitgliedstaaten der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gilt, dem die Vermutung zugrunde liegt, dass die Behandlung der Asylbewerber*innen in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der EMRK steht (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris; Niedersächsisches OVG, Urteil vom 29. Januar 2018 – 10 LB 82/17 – juris Rn. 28 f.). Die Annahme systemischer Mängel des Asylsystems setzt daher voraus, dass im Zielstaat der Abschiebung das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht wird. Zwar sind die Vertragsparteien nicht verpflichtet, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen oder Geflüchteten im Allgemeinen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011, – 30696/09 (M.S.S./ Belgien und Griechenland) –, NVwZ 2011, 413; BVerwG, Urt. v. 08.08.2018, NVwZ 2019, 61, 62 [BVerwG 08.08.2018 - BVerwG 1 B 25.18]). Die Erheblichkeitsschwelle ist aber jedenfalls dann überschritten, wenn infolge der Gleichgültigkeit der Behörden des betreffenden Mitgliedstaates „eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. in diesem Sinne EGMR, 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, CE:ECHR:2011:0121JUD003069609, §§ 252 bis 263). Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.“ (EuGH, Urteil v. 19.03.2019 - C-163/17 (Jawo) – juris Rn. 92 f.)

Nach der Rechtsprechung des EuGH ist es dabei für die Anwendung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK unerheblich, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin-III-Verordnung einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Denn das Gemeinsame Europäische Asylsystem und der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen auf der Zusicherung, dass die Anwendung dieses Systems in keinem Stadium und in keiner Weise zu einem ernsthaften Risiko von Verstößen gegen Art. 4 der Charta führt. In dieser Hinsicht wäre es widersprüchlich, wenn das Vorliegen eines solchen Risikos im Stadium des Asylverfahrens eine Überstellung verhindern würde, während dasselbe Risiko dann geduldet würde, wenn dieses Verfahren durch die Zuerkennung von internationalem Schutz zum Abschluss kommt (EuGH, Urteil v. 19.03.2019 C-163/17 (Jawo) – juris Rn. 88 f.). Das mit dem vorliegend gegen eine Überstellungsentscheidung gerichteten Rechtsbehelf befasste Gericht muss auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (EuGH, Urteil v. 19.03.2019 -C-163/17 (Jawo) – juris Rn. 90).

Zu der Frage, ob eine anhand dieses Maßstabes zu beurteilende Notlage für eine gewisse Dauer fortbestehen muss, um die maßgebliche Erheblichkeitsschwelle zu überschreiten und in einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zu resultieren, ergibt sich aus der jüngeren Rechtsprechung des EuGH, dass auch ein nur vorübergehender Zeitraum, in dem sich die zu überstellende Person in einer solchen extremen Notlage befindet, bereits eine erhebliche Grundrechtsverletzung begründen kann. Zur Vorgängerregelung des Art. 17 der Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU v. 26.06.2013), Art. 13 RL 2003/9/EG (Allgemeine Bestimmungen zu materiellen Aufnahmebedingungen und zur Gesundheitsversorgung), hat der EuGH schon in seinem Urteil vom 27.02.2014 (Rs. C-79/13, juris Rn. 35) ausgeführt:

„Im Übrigen stehen die allgemeine Systematik und der Zweck der Richtlinie 2003/9 wie auch die Wahrung der Grundrechte, insbesondere das Gebot nach Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, dem entgegen, dass einem Asylbewerber, und sei es auch nur vorübergehend nach Einreichung eines Asylantrags, der mit den in dieser Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird.“

Zu Einschränkungen oder dem Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen nach Art. 20 AufnahmeRL hat der EuGH nunmehr entschieden, dass ein auch nur zeitweiliger Entzug von sämtlichen im Rahmen der Aufnahme gewährten Leistungen in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung mit der Verpflichtung des Art. 20 Abs. 5 S. 3 AufnahmeRL, einen würdigen Lebensstandard für den Antragsteller zu gewährleisten, unvereinbar wäre, weil sie ihm die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (EuGH, Urteil v. 12.11.2019 – C-233/18 – (Haqbin), juris Rn. 47; vgl. insgesamt auch VG Braunschweig, Urteil vom 02.06.2020 – 7 A 359/17 – juris Rn. 35 ff.).

b) Gemessen an den vorgenannten rechtlichen Maßstäben liegen die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 für Asylsuchende, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt sowie eine Unterkunft oder eine Region zugewiesen bekommen haben, jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 AsylG) vor (so im Ergebnis auch VG Braunschweig, Urteil vom 02.06.2020 – 7 A 359/17 – juris; VG Minden, Urteil v. 13.11.2019 - 10 K 2221/18.A – juris; VG Gelsenkirchen, Gerichtsbescheid v. 25.05.2020 – 1a K 9184/17.A – juris; a.A. VG Trier, Urteil v. 28.02.2020 – 7 K 1250/19.TR – juris; VG Würzburg, Urteil v. 03.04.2020 – W 10 K 19.30677 – juris; VG Würzburg, Gerichtsbescheid v. 12. 05. 2020 – W 8 K 20.50144 –juris; VG Gelsenkirchen, Urteil v. 26. 02. 2020 – 1a K 887/18.A –, juris in Bezug auf nicht besonders schutzbedürftige Asylsuchende). Es bestehen auf Grundlage der dem Gericht zur Verfügung stehenden aktuellen Erkenntnismittel hinreichend konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger im Falle seiner Überstellung nach Italien aufgrund einer systemischen Schwachstelle des dortigen Aufnahmesystems mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der Art.4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt sein wird.

Laut dem jüngsten Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zu den Aufnahmebedingungen für Dublin-Rückkehrer in Italien (Swiss Refugee Council (SFH), Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 22 ff.) gingen die Zahlen der gestellten Asylanträge in Italien in 2019 im Vergleich zu den Vorjahren zwar zurück. Jedoch überstieg die Zahl der sogenannten Dublin-Rückkehrer*innen in den ersten drei Monaten des Jahres 2019 die Zahl der über den Seeweg neu einreisenden Asylsuchenden. Während die Unterbringungskapazitäten in Italien bis 2018 gesteigert wurden, habe es zuletzt eine Tendenz gegeben, Unterkünfte zu schließen oder Belegungszahlen zu reduzieren. Im Januar 2019 gab es im italienischen Aufnahmesystem insgesamt 173.603 Unterbringungsplätze (SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 23 f.; Aida, Country Report Italy, 09.04.2019, S. 93). Die Bedingungen in den CAS-Zentren, welche den größten Anteil der Aufnahmekapazitäten ausmachen, haben sich nach dem aktuellen Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe weiter verschlechtert. Sie sind häufig weit außerhalb gelegen, überfüllt und bieten schlechte hygienische Zustände (SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 38 f.).

Antragsteller*innen, die im Rahmen der Dublin-III-VO nach Italien überstellt werden, werden seit Oktober 2018 nicht mehr in den SIPROIMI-Unterkünften des Zweitaufnahmesystems (ehemals SPRAR, vgl. dazu OVG Lüneburg, Urteil v. 09.04.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 38) aufgenommen, sondern können, solange sie sich im Asylverfahren befinden, nur noch in den Aufnahmezentren der sog. ersten Linie, centri governativi di prima accoglienza (CARA) und den strutture temporanee (CAS) untergebracht werden (SFH, reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 36). Ein Asylverfahren gilt als beendet, sofern ein Asylsuchender oder eine Asylsuchende im Rahmen seines oder ihres Asylverfahrens noch kein Interview durchgeführt hat und mehr als 12 Monate abwesend ist. In der Folge kann nur noch ein Zweitantrag gestellt werden, wenn sich entweder die persönliche Situation oder die Situation in Herkunftsland verändert haben. Dabei ist durch die mit dem „Salvini-Dekret“ einhergehenden Änderungen der Rechtslage ein Zweitantrag dann als unzulässig zu behandeln, wenn er gestellt wird, nachdem eine Person bereits eine Ausweisung erhalten hat. In diesem Fall wird davon ausgegangen, der Zweitantrag diene allein der Verzögerung des Vollzugs (SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 29 f.).

Es kann vorliegend dahinstehen, ob die Aufnahmebedingungen für aufgrund der Dublin-III-VO Rücküberstellte derart mangelhaft sind, dass von einem Verstoß der Aufnahmebedingungen gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK auszugehen ist. Denn selbst jene Aufnahmebedingungen stehen Antragsteller*innen in der Situation des Klägers, der in Italien bereits eine regionale Zuweisung erhalten hatte, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zur Verfügung. Diese – gesetzlich im Aufnahmesystem Italiens vorgesehene – Praxis ist nach der aktuellen Rechtsprechung des EuGH nicht mit Art. 20 Abs. 5 der Aufnahmerichtlinie vereinbar und steht dem Gebot des Art. 4 i.V.m. Art. 1 GRCh entgegen (vgl. ebenso VG Braunschweig, Urteil vom 02.06.2020 – 7 A 359/17 – juris Rn. 43).

Die Aufnahmemaßnahmen werden entzogen, wenn sich Antragsteller*innen nicht an der zugewiesenen Unterkunft einfinden, diese ohne Ankündigung verlassen oder zu der Anhörung in ihrem Asylverfahren nicht erscheinen. Art. 23 des Dekrets 142/2015 sieht vor, dass der Präfekt der Provinz, in dem sich die jeweilige Aufnahmeeinrichtung befindet, in den vorgenannten Fällen die Aufnahmemaßnahmen aufhebt. Der Artikel 23 bezieht sich dabei auf die CARA- (Art. 9 des Dekrets 142/2015) und die CAS-Einrichtungen (Art. 11). Auch für die SIPROIMI gelten nach Art. 40 der SIPROIMI-Richtlinien (Anhang A Dekret DM 9259 v. 18.11.2018) entsprechende Regelungen. Mit dem Entzug der Unterbringung geht dabei zugleich auch der Verlust sämtlicher weiterer, in der Unterkunft erbrachter Leistungen einher (siehe SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 42; SFH, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 8. Mai 2019, S. 14; VG Gelsenkirchen, Gerichtsbescheid v. 25.05.2020 – 1a K 9184/17.A – juris Rn. 82 ff.).

Verlässt eine Person das Unterbringungszentrum für mehr als 72 Stunden, ohne sich bei der Verwaltung abzumelden, wird davon ausgegangen, dass sie ihr Recht auf Unterbringung aufgegeben hat, und ihr Name wird durch den Betreiber der Einrichtung der zuständigen Präfektur gemeldet (SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 43). Daraufhin entzieht der Präfekt dem oder der Asylsuchenden das Recht auf Unterbringung, indem er dessen oder deren Namen, ohne ihm oder ihr dies mitzuteilen, auf eine bei der Präfektur geführte Liste setzt (VG Minden, Urteil v. 13.11.2019 – 10 K 2221/18.A – juris Rn. 83).

Von den Entzugsmöglichkeiten wird dabei in äußerst weitem Maße Gebrauch gemacht, sodass in den vorgenannten Fallgruppen regelmäßig von einem Entzug auszugehen ist. Dies belegen die in den Jahren 2017 sowie 2019 erhobenen Zahlen aus 60 der insgesamt 106 Präfekturen. Demnach wurde zwischen 2016 und 2019 insgesamt mindestens 100.000 Asylsuchenden und Schutzberechtigten der Anspruch auf Unterbringung im Aufnahmesystem entzogen (AIDA, country report: Italy, update 2019, S. 98).

Eine Wiederaufnahme in das Unterbringungssystem ist nur möglich, wenn die Asylsuchenden sich auf höhere Gewalt oder schwerwiegende persönliche Umstände berufen können (vgl. SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 43). Ein solches Verfahren dauert jedoch – in Abhängigkeit von der jeweiligen Region – mehrere Monate (VG Minden, Urteil v. 13.11.2019 – 10 K 2221/18.A – juris Rn. 83). In dieser Zeit hat der oder die Asylsuchende keinen Zugang zu staatlicher Unterbringung (vgl. OVG Lüneburg, Urteil v. 09.04.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 59; SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S. 43). Geldleistungen für Asylsuchende, die nicht in einer staatlichen Unterkunft untergebracht sind, sind im italienischen Recht grundsätzlich nicht vorgesehen (AIDA country report: Italy, update 2019, S.97).

Dieser vollständige Entzug respektive das Vorenthalten der materiellen Leistungen zur Befriedigung der elementaren Bedürfnisse wie Unterkunft und Nahrung bei Rücküberstellungen ist nach der aktuellen Rechtsprechung des EuGH mit der in Art. 1 GRCh verbürgten Menschenwürde sowie dem Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Art. 3 EMRK unvereinbar und führt somit zu einem beachtlichen systemischen Mangel im italienischen Aufnahmesystem. Es kann dabei dahinstehen, inwieweit der Entzug der Unterbringungsleistungen auf einem eigenen Verschulden des oder der jeweiligen Asylsuchenden beruht. Die Gewährleistung des Art. 3 EMRK enthält eine unbedingte staatliche Schutzpflicht, welche unabhängig vom Verhalten des oder der Betroffenen gilt (vgl. Meyer-Ladewig/Lehnert in: Meyer-Ladewig/ Nettesheim/ von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 3, Rn. 1; Gerhold in: BeckOK Strafvollzug, Stand Februar 2020, Art. 3 EMRK, Rn. 3), ebenso wie die Garantie der Menschenwürde nicht verschuldensabhängig gewährt wird.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.