Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 21.09.2022, Az.: 3 K 159/22

Ablehnung eines Erlassantrags bei Rückzahlunsganspruch für überzahltes KIndergeld

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
21.09.2022
Aktenzeichen
3 K 159/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 36203
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE::2022:0921.3K159.22.00

Amtlicher Leitsatz

Das Demokratieprinzig erfordert eine klare Zuordnung von Verwaltungszuständigkeiten und verbietet das Tätigwerden einer anderen Behörde (Agentur für Arbeit Recklinghausen mit seinem Inkasso-Personal oder dem Personal einer anderen Familienkasse) unter dem Briefkopf einer anderen Behörde (nämlich der materiell zuständigen Behörde). Gleichwohl in dieser Weise erlassene Bescheide stammen von der unzuständigen Behörde und sind aufzuheben.

Tatbestand

Streitig ist, ob die zuständige Behörde den Erlassantrag der Klägerin zutreffend als unbegründet abgelehnt hat.

Die Klägerin hatte u.a. für die Zeiträume von Februar 2016 bis Dezember 2016 und Februar 2018 bis Juni 2019 für ihren Sohn X Kindergeld erhalten. Die Ausbildung im Garten- und Landschaftsbau (ab September 2015) wurde vom Ausbildungsbetrieb im Januar 2016 fristlos gekündigt. Die Klägerin teilte dies der Familienkasse nicht mit. Die Familienkasse hob die Kindergeldfestsetzung ab Februar 2016 auf. Der Rückforderungsbescheid (2.156 €) wurde bestandskräftig. Eine weitere Ausbildung begann der Sohn zum 1. August 2017. Mit dem Betrieb schloss der Sohn im Januar 2018 einen Aufhebungsvertrag. Die Klägerin teilte dies der Familienkasse nicht mit. Die Familienkasse hob die Kindergeldfestsetzung ab Februar 2018 auf und forderte das überzahlte Kindergeld (3.298 €) von der Klägerin zurück. Der Einspruch der Klägerin blieb erfolglos (Einspruchsbescheid vom 6. Dezember 2019). Die Bescheide wurden bestandskräftig. Die Klägerin erbrachte ab Dezember 2017 monatliche Ratenzahlungen à 50 € auf die beiden Rückforderungsbeträge.

Die Agentur für Arbeit Recklinghausen - Inkasso Service Familienkasse bestätigte der Klägerin unter dem 26. August 2020 deren Angebot, weiterhin 50 € Raten auf die rückständige Gesamtforderung von 4.402,50 € zahlen zu können.

Im September 2021 beantragte der jetzige Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Änderung der Kindergeldfestsetzung bezüglich des Rückforderungsbescheides über 3.298 € und den Erlass des zurückgeforderten Kindergeldes.

Unter dem 24. September 2021 übersandte die Beklagte (Familienkasse Niedersachsen-Bremen) den Erlassantrag der Klägerin der "Familienkasse Inkasso" in Recklinghausen "zur Kenntnis und weiteren Veranlassung".

Mit Schreiben vom 19. Oktober 2021 forderte die "Agentur für Arbeit Recklinghausen - Inkasso-Service Familienkasse" bei der "Familienkasse Niedersachsen-Bremen" konkrete Angaben zur Entstehung der Forderung. Die Familienkasse Niedersachsen-Bremen beantwortete die Anfrage unter dem 26. Oktober 2021 und übersandte den Rückforderungsbescheid sowie den Einspruchsbescheid.

Die "Familienkasse-Inkasso", handelnd durch den Sachbearbeiter "Herrn A" (jetzt "B"), der nach Angaben der Beklagten bei der Agentur für Arbeit Bad-Hersfeld-Fulda (Hessen) seinen originären Dienstsitz habe, lehnte mit Bescheid vom 8. November 2021 den Erlassantrag der Klägerin ab. Der Bescheid enthielt folgende Angaben zu der Behörde, die die Entscheidung getroffen hatte:

[Briefkopf:]Familienkasse Niedersachsen-Bremen
Familienkasse - Inkasso
Mein Zeichen:6805003772128
Name:Herr A
E-Mail:Familienkasse-Inkasso @arbeitsagentur.de
[Absender für Fensterumschlag:]
Bundesagentur für Arbeit, Familienkasse Niedersachsen-Bremen 30131 Hannover
[Fußzeile der ersten Seite (Auszug):]
Postanschrift Familienkasse Niedersachsen-Bremen 30131 Hannover
[Rechtsbehelfsbelehrung (Auszug):]
... Der Einspruch ist bei der im Briefkopf angegebenen Familienkasse - Rechtsangelegenheiten schriftlich einzureichen oder dort zur Niederschrift zu erklären oder an Familienkasse-Inkasso-Rechtsbehelf@arbeitsagentur.de elektronisch zu übermitteln. ...'
[Unterschrift:]
A

Der Bescheid wurde nach Aktenlage von dem Sachbearbeiter nicht der Familienkasse Niedersachsen-Bremen zu deren Kindergeldakte übersandt.

Gegen den Ablehnungsbescheid wandte sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerin unter der angegebenen E-Mail-Adresse mit dem Einspruch. Parallel sandte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Einspruch an die angegebene Postanschrift.

Der handelnde Sachbearbeiter des Inkasso Service ("B" - früher "A") gab den Einspruch an die "Teams für Rechtsangelegenheiten in der FamKa NRW Nord" ab. Den per Briefpost in Hannover eingegangenen Einspruch übersandt die "Familienkasse Niedersachsen-Bremen" der "Familienkasse Inkasso" unter der Anschrift in Recklinghausen "zur Kenntnis und weiteren Veranlassung" per Briefpost.

Der frühere Sachbearbeiter (B/A) fragte im März bei der "Familienkasse NRW-Nord" - nämlich bei der zuständigen Rechtsbehelfsbearbeiterin "C" - nach dem Sachstand des Einspruchsverfahrens. Unter dem 19. Mai 2022 übersandte Frau C "meine Einspruchsentscheidung" dem Sachbearbeiter bei der "Familienkasse-Inkasso" zur Kenntnisnahme.

Am gleichen Tag (19. Mai 2022) sandte Frau C den Einspruchsbescheid unter dem Briefkopf "Familienkasse Niedersachsen-Bremen" aber im Rubrum mit dem vorangestellten Geschäftszeichen des Inkasso-Services ("6805003772128 - ...") ab. Der Familienkasse Niedersachsen-Bremen wurden vom Inkasso-Service bzw. der Familienkasse NRW-Nord Durchschriften der Bescheide (Ablehnung des Erlasses und Einspruchsbescheid) nicht übersandt. In der Kindergeldakte der Familienkasse Niedersachsen-Bremen sind diese Bescheide daher nicht enthalten. Diese befinden sich ausschließlich in der Akte mit dem Geschäftszeichen des Inkasso-Services ("6805003772128 - ..."). Gegen diese Einspruchsentscheidung richtet sich die Klage.

Der Beklagte räumte inzwischen auf richterliche Nachfrage ein, dass die im Streitfall tätig gewordenen Inkasso-Fachkräfte nicht an die Familienkasse Niedersachsen-Bremen abgeordnet gewesen seien. Ebenso habe die Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord für die Familienkasse Niedersachsen-Bremen gehandelt. Unter Vorlage von Vollmachten sei die Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord berechtigt, die Beklagte im Klageverfahren zu vertreten. Dies sei im Rubrum wie folgt zu berücksichtigen:

"gegen

Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit, vertreten durch die Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord der Bundesagentur für Arbeit, vertreten durch deren Leiterin"

Die Klageerwiderung ist demgemäß von der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord der Bundesagentur für Arbeit erstellt und von dort dem Gericht unter Hinweis auf die Vertretung übermittelt worden. Beigefügt war die elektronische Inkassoakte (Übersendung vom 22. August 2022 durch diese Familienkasse). Die Kindergeldakte wurde unter dem 30. August 2022 nachgesandt.

Die Klägerin bestreitet weiterhin die Zuständigkeit der handelnden Behörde und verweist auf die dazu ergangene BFH-Rechtsprechung. Gehandelt hätten im Streitfall tatsächlich Bedienstete der Familienkasse Recklinghausen unter fremdem Briefkopf (Familienkasse Niedersachsen-Bremen). Dies sei nicht zulässig gewesen.

Im Übrigen seien hinreichende Gründe für einen Erlass der Rückforderungsbeträge vorgetragen worden.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 8. November 2021 und die Einspruchsentscheidung vom 19. Mai 2022 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen

und räumt ein, dass die Bescheide im Auftrag der Familienkasse Niedersachsen-Bremen von der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord der Bundesagentur für Arbeit bzw. der Familienkasse Inkasso in Recklinghausen bzw. einem Mitarbeiter mit Dienstsitz bei der Agentur für Arbeit Bad-Hersfeld-Fulda (Hessen) stammten, auch wenn dies durch die Verwendung des Briefkopfes "Familienkasse Niedersachsen-Bremen" nicht kenntlich gemacht worden sei.

Die nur virtuelle Zu-/Abordnung der dortigen Inkasso-Fachkräfte in Recklinghausen zur Bearbeitung für die Familienkasse Niedersachsen-Bremen sei zulässig gewesen. Im Wortlaut:

"Es genügt vielmehr eine virtuelle Zu-/Abordnung unter Nutzung der technischen Möglichkeiten zur gesamtzuständigen Familienkasse Niedersachsen-Bremen. Durch mittlerweile digital unterstützte Geschäftsprozesse wird sichergestellt, dass Verwaltungstätigkeiten unabhängig von der physischen Anwesenheit einzelner Mitarbeiter in einer bestimmten Liegenschaft oder Dienststelle ausgeübt werden.

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) setzt hierfür entsprechende IT-Basisdienste ein. Diese IT- Verfahren ermöglichen eine verfahrensübergreifende Abbildung und Bereitstellung von Organisationseinheiten innerhalb der BA entsprechend der vorgegebenen Ablauforganisation. Die temporäre Zuordnung ermöglicht im Bedarfsfall - etwa bei Belastungsspitzen - schnelle, ressourcenschonende und überregionale Unterstützung. Im konkreten Fall bedeutet dies, dass durch die Nutzung der IT-Anwendungen keine Übertragung einzelner Sachaufgaben von der gesamtzuständigen Familienkasse Niedersachsen-Bremen auf eine andere Familienkasse oder Behörde stattfindet oder stattgefunden hat. Im Gegenteil; mittels der IT-Anwendungen wird die Einhaltung des Grundsatzes der Gesamtzuständigkeit beachtet, indem die Mitarbeitenden temporär der gesamtzuständigen Familienkasse Niedersachsen-Bremen zugeordnet werden.

Es trifft zu, dass Frau C ihren originären Dienstsitz in der Liegenschaft der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord hat. Aufgrund der oben beschriebenen Arbeitsweise und des in diesem Zusammenhang genutzten IT-Verfahrens, ist es technisch möglich, dass Frau C temporär und somit auch ausschließlich für die Familienkasse Niedersachsen-Bremen handelt.

Sobald die virtuelle Abordnung beendet wird, kann Frau C wieder für die Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord tätig werden.

In Bezug auf Herrn B (vormals Herr A) ist dem Unterzeichner nur bekannt, dass er in der Liegenschaft der Agentur für Arbeit B (Hessen) seinen originären Dienstsitz hat."

Ein Anspruch auf Erlass habe schon deshalb nicht bestanden, da die Klägerin nicht erlasswürdig gewesen sei, denn sie habe ihre Mitwirkungspflichten verletzt, indem sie zweimal den Abbruch der Ausbildung durch ihren Sohn nicht mitgeteilt habe.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet.

Der Bescheid vom 8. November 2022 und die Einspruchsentscheidung vom 19. Mai 2022 zum Erlassantrag der Klägerin sind von der sachlich unzuständigen Behörde, nämlich der Agentur für Arbeit Recklinghausen - Familienkasse Inkasso oder einem Sachbearbeiter der Agentur für Arbeit Bad-Hersfeld-Fulda (Hessen), erlassen worden und sind daher als rechtswidrige Bescheide aufzuheben. Die Bescheide verletzen die Klägerin in ihren Rechten.

1. Die Familienkasse Inkasso war - wie insbesondere auch der BFH mehrfach entschieden hat (BFH-Urteile vom 25. Februar 2021 III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712; ebenfalls vom 25. Februar 2021 III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100; vom 7. Juli 2021 III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457 und vom 7. April 2022 III R 33/20, BFH/NV 2022, 824) - nicht die sachlich zuständige Behörde.

a) Nach § 227 der Abgabenordnung (AO) können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Erlass bestimmt sich nach der Verwaltungshoheit, welche sowohl die im Festsetzungsverfahren als auch die im Erhebungsverfahren zu treffenden Entscheidungen umfasst.

Der BFH hat bereits mehrfach entschieden, dass die Konzentration der Aufgaben des Erhebungsverfahrens - insbesondere der Erlass und die Stundung von Kindergeldrückforderungen - bei der Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse und der Familienkasse NRW Nord rechtswidrig ist (BFH-Urteile, aaO.). In diesen Urteilen, auf die hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen wird, hat der BFH dargelegt, dass für die örtliche Zuständigkeit (§§ 16 ff. AO) der Grundsatz der Gesamtzuständigkeit gilt. Die Zuständigkeit der örtlich zuständigen Familienkasse umfasst daher grundsätzlich alle Verwaltungstätigkeiten der Finanzbehörde, die sich aus dem gesamten Besteuerungsverfahren ergeben (Festsetzung, Rechtsbehelfsverfahren, Erhebung und Vollstreckung); eine abweichende Regelung über die örtliche Zuständigkeit setzt mithin eine Übertragung der Gesamtzuständigkeit für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten voraus. Der BFH hat weiter entschieden, dass § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG) dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit nur die Befugnis einräumt, innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten abweichend von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden einer anderen Familienkasse zu übertragen. Die Übertragung lediglich einzelner Sachaufgaben für bestimmte Gruppen von Berechtigten von der örtlich und damit gesamtzuständigen Familienkasse auf eine andere Familienkasse oder Behörde betrifft demgegenüber den Gegenstand und Inhalt der der Finanzbehörde zugewiesenen Aufgaben und damit eine Frage der sachlichen Zuständigkeit. Für eine derartige Aufspaltung der Gesamtzuständigkeit, wonach für Entscheidungen des Festsetzungsverfahrens weiterhin die Wohnsitz-Familienkasse, für Entscheidungen des "Inkasso-Bereichs" hingegen eine andere Familienkasse zuständig sein sollte, fehlt die erforderliche gesetzliche Grundlage.

b) Im Streitfall hat ausschließlich die frühere "Familienkasse Inkasso-Service", jetzt im Ablehnungsbescheid als "Familienkasse Inkasso" benannt, den Erlassantrag bearbeitet, diesen abgelehnt und durch sein Personal (bzw. sogar das Personal der Agentur für Arbeit Bad-Hersfeld-Fulda oder das Personal der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord den Einspruchsbescheid - wie vor der entgegenstehenden BFH-Rechtsprechung - bearbeitet. Die Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord hat schriftsätzlich in der Klageerwiderung eingeräumt, dass der Sachbearbeiter bei der Familienkasse Inkasso in Recklinghausen, Herr A bzw. B, zu keinem Zeitpunkt an die Familienkasse Niedersachsen-Bremen abgeordnet oder versetzt worden war. Sie hat auch eingeräumt, letztlich "in Vertretung" für die Familienkasse Niedersachsen-Bremen den Einspruchsbescheid gefertigt zu haben und daher darauf hingewiesen, dass sie in diesem Verfahren im Passivrubrum als "Vertreterin" der Familienkasse Niedersachsen-Bremen zu führen sei. Dies wird durch die Art der Aktenführung bestätigt.

Die Familienkasse Inkasso hat offenbar gar keinen elektronischen Zugriff auf die Kindergeldakte. Sie musste vielmehr den Rückforderungsbescheid und den dazu ergangenen Einspruchsbescheid in Papierform mit einer Erklärung zur Frage der Verletzung von Mitwirkungspflichten bei der zuständigen Familienkasse anfordern. Deshalb konnte sie dem Gericht die Kindergeldakte für dieses Verfahren nicht sofort übersenden, sondern musste diese nachsenden (30.08.). Die "Inkasso-Akte" konnte sie hingegen sofort als PDF-Datei übersenden (22.08.). Dies bedeutet zugleich, dass die in Recklinghausen (elektronisch) geführte Inkasso-Akte für die Familienkasse Niedersachsen-Bremen möglicherweise gar nicht einsehbar oder erreichbar war und umgekehrt dort die Kindergeldakte nicht zugänglich war. Ansonsten hätten Aktenauszüge nicht angefordert werden müssen. Jedenfalls ist der Bereich Inkasso bzw. "Erlass" nach wie vor kein integrativer Teil der Kindergeldakte. Dort finden sich nicht einmal die quasi im Namen der Familienkasse Niedersachsen-Bremen erstellten Bescheide.

Die Bearbeitung in Recklinghausen bzw. Bad-Hersfeld-Fulda geschah offenbar ohne Einflussmöglichkeit der nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 FVG umfassend zuständigen Familienkasse Niedersachsen-Bremen. Dies wird unterstrichen durch die in der KiG-Akte aktenkundigen zahlreichen Übersendungsschreiben der Familienkasse Niedersachsen-Bremen - quasi zuständigkeitshalber - an die Familienkasse Inkasso zu deren eigenem Aktenzeichen (6805003772128). Dies belegt die verwaltungsintern (fortbestehende) Zuständigkeit der Familienkasse Inkasso. Die Bundesagentur hat infolge der BFH-Rechtsprechung keine organisatorischen Änderungen veranlasst. Von der Familienkasse Inkasso wird lediglich zum Schein nach außen der Briefkopf "Familienkasse Niedersachsen-Bremen" verwendet. Tatsächlich sind diese Entscheidungen weiterhin der Familienkasse Niedersachsen-Bremen trotz ihrer Gesamtzuständigkeit entzogen. Die Verwendung eines der Behörde nicht zustehenden Briefkopfes eines anderen Verwaltungsträgers begründet keine Zuständigkeit für diese Verwaltungsaufgabe.

Die Familienkasse Inkasso hat sich weiterhin die Zuständigkeit für den "Inkasso-Bereich" nur angemaßt und als sachlich unzuständige Behörde die angefochtenen Bescheide ausgebracht.

c) Das Tätigwerden der Familienkasse Inkasso ist zugleich nicht als Amtshilfe oder nach der (unscharfen) Rechtsfigur der Organleihe zulässig gewesen.

Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Aus Sicht des Bürgers bedeutet rechtsstaatliche Verwaltungsorganisation ebenfalls zuallererst Klarheit der Kompetenzordnung; denn nur so wird die Verwaltung in ihren Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten für den einzelnen "greifbar".

Eine hinreichend klare Zuordnung von Verwaltungszuständigkeiten ist vor allem im Hinblick auf das Demokratieprinzip erforderlich, das eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern fordert und auf diese Weise demokratische Verantwortlichkeit ermöglicht (vgl. BVerfGE 47, 253 (275); 52, 95 (130); 77, 1 (40); 83, 60 (72 f.); 93, 37 (66 f.)). Demokratische Legitimation kann in einem föderal verfassten Staat grundsätzlich nur durch das Bundes- oder Landesvolk für seinen jeweiligen Bereich vermittelt werden (vgl. Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 1. Aufl. 2006, Bd. 1, § 6 Rn. 5). Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist zwar nicht die Form der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns entscheidend, sondern deren Effektivität; notwendig ist ein bestimmtes Legitimationsniveau (vgl. BVerfGE 83, 60 (72); 93, 37 (66 f.)). Daran fehlt es aber, wenn die Aufgaben durch Organe oder Amtswalter unter Bedingungen wahrgenommen werden, die eine klare Verantwortungszuordnung nicht ermöglichen. Der Bürger muss wissen können, wen er wofür - auch durch Vergabe oder Entzug seiner Wählerstimme - verantwortlich machen kann.

Der Verwaltungsträger, dem durch eine Kompetenznorm des Grundgesetzes Verwaltungsaufgaben zugewiesen worden sind, hat diese Aufgaben grundsätzlich durch eigene Verwaltungseinrichtungen, also mit eigenem Personal, eigenen Sachmitteln und eigener Organisation wahrzunehmen. Der Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung schließt zwar die Inanspruchnahme der "Hilfe" - auch soweit sie sich nicht auf eine bloße Amtshilfe im Einzelfall beschränkt - nicht zuständiger Verwaltungsträger durch den zuständigen Verwaltungsträger nicht schlechthin aus, setzt ihr aber Grenzen: Von dem Gebot, die Aufgaben eigenverantwortlich wahrzunehmen, darf nur wegen eines besonderen sachlichen Grundes abgewichen werden. Daher kann die Heranziehung an sich unzuständiger Verwaltungseinrichtungen nur hinsichtlich einer eng umgrenzten Verwaltungsmaterie in Betracht kommen (vgl. BVerfGE 63, 1 [BVerfG 12.01.1983 - 2 BvL 23/81] (41)) und ist an besondere Voraussetzungen gebunden (vgl. BVerfG, Urteil vom 20. Dezember 2007 2 BvR 2433/04, BVerfGE 119, 331, Rn. 157 - 160).

Im Streitfall steht bereits nach der BFH-Rechtsprechung fest, dass eine sachliche Zuständigkeit der Familienkasse Inkasso ohne eine gesetzliche Regelung in § 5 FVG durch den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit nicht getroffen werden durfte. Ebenso darf keine verschleierte oder faktische "Hilfe" unter dem Behördennamen einer fremden Behörde erfolgen. Dies würde die klare Zuordnung der rechtsstaatlichen Verwaltungszuständigkeiten untergraben. Der Bürger hätte gar keinen Überblick mehr, wer ihm gegenüber tatsächlich tätig wird. Dafür fehlt der Behörde die Legitimation. Dies ist hier aber geschehen, da das Personal der Agentur für Arbeit Recklinghausen ohne diese Legitimation tätig geworden ist. Die Familienkasse Niedersachsen-Bremen wäre aber verpflichtet gewesen, auch diese Verwaltungsaufgabe (Inkasso) durch eigene Verwaltungseinrichtungen, also mit eigenem Personal, eigenen Sachmitteln und eigener Organisation zu erbringen. Tatsächlich handelte eine andere Behörde und die Familienkasse Niedersachsen-Bremen hatte nicht einmal Einfluss auf die Entscheidungen.

Auch wenn die zugrundeliegenden Dienstanweisungen der Bundesagentur für Arbeit dem Gericht nicht zugänglich gemacht worden sind, steht jedenfalls fest, dass eine derartige umfassende Verwaltungshilfe (Organleihe) ohne gesetzliche Grundlage und ohne Offenbarung der Organisationsentscheidungen dem Bürger gegenüber schlicht rechtswidrig ist. Der Bürger sieht sich einer Vielzahl von Verwaltungsträgern gegenüber, ohne erkennen zu können, wer für die Entscheidung zuständig ist/war und tatsächlich entschieden hat. Als Briefkopf wird in beiden Bescheiden die "Familienkasse Niedersachsen-Bremen" verwendet. Im Ablehnungsbescheid erscheint zusätzlich die "Familienkasse Inkasso" im Kopf. Die Sachbearbeiterin des Einspruchsbescheides ist ausschließlich bei der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord beschäftigt. Der Einspruchsbescheid scheint vordergründig von der "Familienkasse Niedersachsen-Bremen" - so die Bezeichnung im Kopf des Bescheides - zu stammen. Tatsächlich stammt er aber insgeheim von der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord, die nunmehr auch den Prozess als Passivpartei zu führen beabsichtigt.

Entgegen der Rechtsansicht der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord erfüllt eine nur (temporäre und fallbezogene) virtuelle Zu-/Abordnung von Personalressourcen einer Behörde an eine andere Behörde unter Nutzung der technischen Möglichkeiten zu der eigentlich gesamtzuständigen Familienkasse Niedersachsen-Bremen nicht die Maßstäbe einer rechtsstaatlichen Verwaltungsorganisation. Zwar können mittlerweile durch digital unterstützte Geschäftsprozesse Verwaltungstätigkeiten unabhängig von der physischen Anwesenheit einzelner Mitarbeiter in einer bestimmten Liegenschaft oder Dienststelle ausgeübt werden. Diese technischen Möglichkeiten - wie weit sie auch immer konkret gereicht haben - können aber das Erfordernis einer rechtsstaatlichen Organisation nicht ersetzen. Immer noch muss - in aller Regel - der zuständige Verwaltungsträger mit eigenem Personal tätig werden, auch wenn der Wohnsitz (Homeoffice) oder der Tätigkeitsort sich in einem größeren Umfeld befinden kann.

d) Weiter besteht im Rahmen des Verwaltungsrechts keine Befugnis einer Behörde, eine andere Behörde generell für ein Tätigkeitsfeld - wie etwa im Zivilrecht - "zu beauftragen" und im Außenverhältnis für sie als "Vertreter" tätig zu werden. Dies scheint die Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord hier annehmen zu wollen, wenn sie in der Klageerwiderung angibt, als Vertreterin ("vertreten durch die Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord der Bundesagentur für Arbeit") gehandelt zu haben. Eine gesetzliche Vertretungsbefugnis besteht indes nicht. Eine rechtsgeschäftliche Vertretung, die die Zuständigkeit nach der rechtsstaatlich definierten Verwaltungsorganisation des hier einschlägigen § 5 FVG untergraben würde, ist verfassungsrechtlich nicht legitimiert. Ansonsten könnte in Zukunft jede deutsche Behörde von der Bundesagentur beauftragt werden, für sie Bescheide auszubringen und Rechtsbehelfsverfahren zu führen.

Auch eine evtl. durch die Bundesagentur für Arbeit behördenintern angeordnete Vertretung einer nachgeordneten Bundesbehörde durch eine andere nachgeordnete Bundesbehörde wäre nicht ausreichend, um die gesetzlichen Zuordnungen der Gesamtzuständigkeit (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 FVG) zu verändern, und damit unwirksam.

2. In jedem Fall sind die ablehnenden Bescheide daneben auch unter Missachtung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens (§ 102 FGO) ergangen und auch deswegen aufzuheben.

a) Die Entscheidung über den Erlass durch die (unzuständigen) Sachbearbeiter in Recklinghausen (NRW) oder Bad-Hersfeld-Fulda (Hessen) bzw. bei der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord (NRW) beruht auf einem Ermessensfehlgebrauch. Die gesamte Kindergeldakte stand diesen Personen gar nicht zur Verfügung. In der Inkassoakte befinden sich nur die aus Hannover angeforderten und übersandten Dokumente. Der gesamte Sachverhalt war den (unzuständigen) Sachbearbeitern daher nicht bekannt. So konnte etwa nicht geprüft werden, ob die übersandten Bescheide - unabhängig von der Bestandskraft - mit zutreffenden Gründen ausgebracht worden waren, die sich mit dem Inhalt der Akten decken.

b) Hinsichtlich der (zuständigen) Familienkasse Niedersachsen-Bremen liegt ein Ermessensnichtgebrauch vor, da kein Sachbearbeiter, der dieser Behörde zuzuordnen ist, an den angefochtenen Entscheidungen mitgewirkt hat, auch wenn mehrfach zum Schein der Briefkopf dieser Behörde verwendet worden ist.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

4. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Streitsache zugelassen. Klärungsbedürftig ist, ob die Familienkasse durch eine im Einzelnen nicht offengelegte "Vertretungsregelung" zwischen den Familienkassen die Rechtsprechung des BFH zu § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG) (BFH-Urteile vom 25. Februar 2021 III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712; ebenfalls vom 25. Februar 2021 III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100; vom 7. Juli 2021 III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457 und vom 7. April 2022 III R 33/20, BFH/NV 2022, 824) unterlaufen kann und Entscheidungen im Bereich "Inkasso" weiterhin faktisch ausschließlich durch die Agentur für Arbeit Recklinghausen - Familienkasse Inkasso oder sogar für diese Familienkasse durch weitere Sachbearbeiter anderer Familienkassen (etwa: Familienkasse Bad-Hersfeld-Kassel in Hessen) getroffen werden dürfen.

5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).

6. Das Gericht konnte nach § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet hatten.