Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 01.07.2020, Az.: 14 U 8/20
Begriff der groben Fahrlässigkeit i.S. von § 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 01.07.2020
- Aktenzeichen
- 14 U 8/20
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2020, 28957
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2020:0701.14U8.20.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Lüneburg - 17.12.2019 - AZ: 9 O 86/19
Rechtsgrundlagen
- StVO § 3 Abs. 1
- SGB VII § 110 Abs. 1 S. 1
Fundstellen
- NJW-RR 2020, 1291-1293
- NZV 2021, 214
- VRA 2020, 189
- VRR 2020, 2
- ZAP EN-Nr. 432/2020
- ZAP 2020, 943
- r+s 2020, 727-728
Amtlicher Leitsatz
Für die Annahme eines grob fahrlässigen Verhaltens bedarf es nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch der Feststellung eines in subjektiver Hinsicht nicht entschuldbaren Verstoßes gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Ein Sekundenschlaf kann "einfach fahrlässig" nicht vorhergesehen werden, weil objektiv vorhandene Übermüdungserscheinungen subjektiv nicht wahrgenommen werden. Es wäre nicht völlig unentschuldbar, wenn der Beklagte auf die Gegenfahrbahn geraten ist, weil er bei Dunkelheit und Nebel infolge einer Fahrbahnsenke die Lichter aus dem Gegenverkehr und die Rückleuchten der ihm vorausfahrenden Fahrzeuge aus den Augen verloren hätte und deswegen kurzzeitig orientierungslos gewesen wäre.
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 17. Dezember 2019 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 9. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg [9 O 86/19] wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Das Urteil und das vorgenannte Urteil des Landgerichts Lüneburg sind vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % der für den Beklagten aufgrund der Urteile vollstreckbaren Beträge abzuwenden, sofern dieser nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 26.596,09 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Gegenstand des Rechtsstreits ist ein Verkehrsunfall vom 14. März 2016 gegen 4:45 Uhr auf der B 216 außerorts von ... B. in Höhe Abschnitt 50, Station 0,6, bei dem zwei Beifahrer des Beklagten in dem von ihm gesteuerten Pritschenwagen der Fa. F. V. KG, WL-V 132, tödlich verletzt und er selbst sowie der weitere Mitfahrer Herr R. K. schwer verletzt worden sind. Die Klägerin klagt als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung aus § 110 SGB VII wegen für Herrn R. K. erbrachter Aufwendungen in Höhe von 16.596,09 EUR (Heilbehandlungs-, Fahrt- und Verwaltungskosten, Verletztengeld und Hilfsmittel), wobei weitere Leistungen seitens der Klägerin zu erwarten sind.
Der Pritschenwagen war bei der V. AG haftpflichtversichert. Diese und die Klägerin streiten über die Frage, ob der Unfall auf einem grob fahrlässigen Verhalten des Beklagten beruht. Der Beklagte ist vom Amtsgericht Lüneburg am 24. April 2017 rechtskräftig wegen fahrlässiger Tötung in zwei Fällen in Tateinheit mit fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung und mit fahrlässiger Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung und zu einem zweimonatigen Fahrverbot verurteilt worden. Das Urteil enthält keine Erklärung zum Grad des Fahrlässigkeitsvorwurfs. Der Beklagte war bei Nebel mit einer Geschwindigkeit von ca. 75 km/h von der gerade verlaufenden Fahrbahn abgekommen, in den Gegenverkehr geraten und dort frontal mit einem ihm entgegenkommenden Sattelzug, ...-... 6..., kollidiert, dessen Fahrer - der Zeuge B. - den Unfall unstreitig nicht hatte vermeiden können.
Die Klägerin hat dem Beklagten vorgeworfen, grob fahrlässig gehandelt zu haben, weil er bei einer Sichtweite von maximal 20 m mit unangemessener, erheblich überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei bzw. sehr wahrscheinlich in einen Sekundenschlaf gefallen sei, wobei er vorherige Anzeichen für seine Übermüdung ignoriert gehabt habe. Der Beklagte hat dies bestritten und sein Verschulden als fahrlässig eingestuft. Die Klägerin habe lediglich Spekulationen im Ermittlungsverfahren aufgegriffen, die nicht bewiesen seien. Er sei es gewohnt gewesen, früh aufzustehen und habe ausreichend lang geschlafen gehabt. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung (Bl. 203R - 204R d. A.).
Mit Versäumnisurteil im schriftlichen Verfahren vom 11. Juli 2019 hat die Einzelrichterin der 9. Zivilkammer der Klage zunächst stattgegeben. Auf den Einspruch des Beklagten hat sie am 12. November 2019 mündlich verhandelt und den Beklagten informatorisch zum Unfallhergang angehört sowie die Zeugen Bi. und B. vernommen (Bl. 173 - 179 d. A.). Mit Urteil vom 17. Dezember 2019 (Bl. 203 - 207 d. A.) hat die Einzelrichterin das Versäumnisurteil vom 11. Juli 2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Eine grob fahrlässige Unfallverursachung durch den Beklagten sei nicht bewiesen. Nach den Bekundungen der Zeugen Bi. und B. habe die Sichtweite bei 100 bis 200 m betragen. Die entgegenstehenden Angaben des Beklagten seien erklärbar mit einer Fahrbahnsenke, durch die der Zeuge B. den Sattelzug gesteuert gehabt habe, und derentwegen der Beklagte den Lastwagen erst sehr spät wahrgenommen habe. Eine unangemessen hohe Geschwindigkeit sei dem Beklagten nicht nachzuweisen. Ein Sekundenschlaf des Beklagten sei zwar wahrscheinlich, führe nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber nicht zur berechtigten Annahme grober Fahrlässigkeit, weil vorliegend nicht feststellbar sei, dass der Beklagte Anzeichen für seine Übermüdung ignoriert habe. Hinsichtlich der Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen (Bl. 205 - 207 d. A.).
Mit ihrer Berufung begehrt die Klägerin eine Aufrechterhaltung des Versäumnisurteils. Sie rügt eine fehlerhafte Rechtsbewertung durch die Einzelrichterin. Nach dem übereinstimmenden Vorbringen der Klägerin und den Angaben des Beklagten in der mündlichen Verhandlung habe extremer Nebel geherrscht mit einer Sichtweite von unter 10 m. Eine Geschwindigkeit von 75 km/h sei für diese Witterungs- und Sichtverhältnisse unangepasst hoch gewesen. Hilfsweise sei dem Beklagten ein Sekundenschlaf vorzuwerfen, der sich üblicherweise durch Übermüdungsanzeichen ankündige. Der Beklagte habe den Unfall grob fahrlässig verschuldet.
Die Klägerin beantragt,
das Versäumnisurteil des Landgerichts Lüneburg zum Aktenzeichen 9 O 86/19 vom 11. Juli 2019 abändernd aufrecht zu erhalten.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Grobe Fahrlässigkeit sei zu Recht verneint worden. Hinsichtlich seiner Angaben vor der Einzelrichterin liege kein Geständnis vor. Die Einzelrichterin habe die Beweise frei und zutreffend gemäß § 286 ZPO gewürdigt.
Die Akte der Staatsanwaltschaft Lüneburg [1110 Js 8482/16] war zu Informations- und Beweiszwecken beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den vorgetragenen Inhalt der von den Parteien zur Akte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen.
II.
Die form- und fristgerecht erhobene und begründete Berufung der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg. Zweifellos ist dem Beklagten ein tragischer und schwerer Fahrfehler vorzuwerfen, mit dem er die Kollision und deren schweren Folgen allein verschuldet hat. Gemäß § 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII haftet er der Klägerin gegenüber für Aufwendungsersatz aber nur im Falle vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Unfallverursachung. Für die allein streitige und entscheidungserhebliche Frage, ob dem Beklagten vorzuwerfen ist, den Unfall grob fahrlässig verursacht zu haben oder nicht, ist die Klägerin darlegungs- und beweisbelastet [vgl. Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 15. September 2009 - 4 U 375/08 -, Rn. 49, zitiert nach juris]. Dieser Beweis ist ihr nicht gelungen.
Grobe Fahrlässigkeit erfordert einen in objektiver Hinsicht schweren und in subjektiver Hinsicht nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Diese Sorgfalt muss in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und es muss dasjenige unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Es muss eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegen, die das in § 276 Abs. 2 BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet. [Ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, vgl. Urteile vom 3. November 2016 - III ZR 286/15 -, Rn. 17 m. w. N., zitiert nach juris; vom 10. Oktober 2013 - III ZR 345/13, NJW-RR 2014, 90; vom 8. Juli 1992 - IV ZR 223/91, BGHZ 119, 147 (149); vom 29. Januar 2003 - IV ZR 173/01, NJW 2003, 1118 (1119); vom 12. Juli 2005 - VI ZR 83/04, NJW 2006, 1271; vom 11. Juli 2007 - XII ZR 197/05, NJW 2007, 2988, Rn. 15 und vom 17. Februar 2009 - VI ZR 86/08, NJW-RR 2009, 812 Rn. 10; Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 79. Auflage, Bearbeiter Grüneberg zu § 277 Rn. 5 m. w. N.]. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht festzustellen.
1. Sichtweite
Nach kritischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage unter besonderer Berücksichtigung des klägerischen Berufungsvorbringens ist es nicht zu beanstanden, dass die Einzelrichterin nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme trotz Nebels von einer Sichtweite von 100 bis 200 m ausgegangen ist (§ 286 ZPO). Der Beklagte hatte das Vorbringen der Klägerin, wonach die Sichtweite wegen Nebels unter 30 m betragen habe (Bl. 4, 157 d. A.) in seinem Schriftsatz vom 12. August 2019 bestritten und sich zum Beweis der Tatsache, dass eine weitergehende Sicht geherrscht habe, auf Vernehmung der Zeugen R. und Bi. berufen (Bl. 127, 127a d. A.). Auf die Vernehmung des Zeugen R. hat die Beklagtenvertreterin in der mündlichen Verhandlung am 12. November 2019 verzichtet (Bl. 179 d. A.), nachdem die vernommenen Zeugen Bi. und B. trotz vorhandenen Nebels Sichtweiten von 100 bis 200 m (Zeuge Bi., Bl. 177 d. A.) bzw. von 150 - 200 m (Zeuge B., Bl. 178 d. A.) angegeben hatten. Der Klägerin ist zwar darin zuzustimmen, dass der Beklagte im Rahmen seiner informatorischen Anhörung am 12. November 2019 erklärt hat, die Sichtweite habe bei ca. 10 m gelegen (Bl. 174 d. A.). Es fällt hierbei aber auf, dass der Beklagte auch erklärt hat, nach seinem Eindruck sei ihm der Lkw auf seiner Spur entgegengekommen und er selbst sei nur 50 km/h gefahren. Beides ist durch das im Ermittlungsverfahren eingeholte Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. S. vom 13. Mai 2016 (Bl. 59 - 115 d. BA) widerlegt, denn danach betrug die Kollisionsgeschwindigkeit des Beklagten mindestens 75 km/h und die Kollision mit dem Sattelzug ereignete sich auf der Gegenspur. Das zeigt, dass die subjektive Wahrnehmung des Beklagten keinen sicheren Rückschluss auf die objektive Sachlage zulässt. Des Weiteren ist zu beachten, dass der Beklagte seine Angaben zur Sichtweite von ca. 10 m damit erklärt hat (Bl. 174, 175 d. A.), er habe die Lichter des Lkw plötzlich auf sich zukommen sehen; in dem Moment habe es auch schon geknallt. Es sei mal mehr und mal weniger neblig gewesen; an der Unfallstelle habe extremer Nebel vorgeherrscht. Er sei in eine Nebelwand hineingefahren und dann sei sofort die Kollision erfolgt. Mit der Einzelrichterin ist der Senat der Auffassung, dass sich der Eindruck des Beklagten, der Lkw sei plötzlich aus dem Nebel aufgetaucht, auch damit erklären lässt, dass er zuvor durch eine Senke gefahren und folglich eine Weile nicht sichtbar gewesen ist. Denn dies haben sowohl der Zeuge Bi. (Bl. 176, 177 d. A.) als auch der Zeuge B. (Bl. 178 d. A.) so erklärt: Der Zeuge Bi. konnte den Eindruck des Beklagten gerade wegen der vorhandenen Senke sehr gut nachvollziehen; der Zeuge B. hat bekundet, zunächst durch eine Senke gefahren zu sein, von der er aus Erfahrung wisse, dass sie die Sicht auf entgegenkommende Fahrzeuge einschränke. Auch seine Sicht auf den Beklagten sei hiervon betroffen gewesen. Die Zeugenangaben sind glaubhaft und stimmen überein, ohne abgesprochen zu werden. Der Zeuge Bi. hat als völlig Unfallunbeteiligter keinerlei eigene Interessen an falschen Angaben. Der Zeuge B. hat seine Wahrnehmungen offen und freimütig geschildert, ohne dass Tendenzen zur eigenen Vorteilswahrung ersichtlich geworden sind.
2. Angepasste Geschwindigkeit
Dem Beklagten ist nicht anzulasten, dass er mit unangepasst hoher Geschwindigkeit gefahren ist. Die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 S. 1 - 3 StVO sind nicht erfüllt.
Bei einer Sichtweite von 100 bis 200 m und einer generell erlaubten Geschwindigkeit von 100 km/h (siehe Gutachten Dipl.-Ing. S. vom 13. Mai 2016) waren die tatsächlich gefahrenen 75 km/h nicht unangepasst hoch. Es war zwar dunkel und neblig, die Sichtweite betrug aber zwischen 100 oder 150 und 200 m, die Strecke war gerade und der vor und nach dem Beklagten in gleicher Richtung laufende Verkehr fuhr ebenfalls in dieser Geschwindigkeit. So hat es der Zeuge Bi. glaubhaft bekundet (Bl. 177 d. A.), der hinter dem Beklagten mit gleicher Geschwindigkeit hergefahren ist und seine Arbeitskollegen, die vor dem Beklagten fuhren, sehen konnte. Man fuhr quasi in einer Kolonne und konnte die Rücklichter der vorausfahrenden Fahrzeuge sehen. Auch der Zeuge B., der Unfallgegner des Beklagten, war zunächst 74 - 78 km/h gefahren (Gutachten Dipl.-Ing. S. vom 13. Mai 2016). Selbst 100 m Sichtweite nötigen auf gut ausgebauter, beleuchteter Straße nicht ohne Weiteres zur Ermäßigung unter 50 km/h [OLG Oldenburg, VRS 69, 252; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage, Bearbeiter König zu § 3 StVO Rn. 38]. Hier war die Sicht sogar deutlich weiter.
Es ist ferner nicht ersichtlich, dass sich der Unfall infolge unangepasster Geschwindigkeit ereignet hat. Der Beklagte ist vielmehr aus unerklärlichen Gründen von der geraden Fahrbahn abgekommen und in den Gegenverkehr geraten. Dies mag einem Sekundenschlaf geschuldet gewesen sei. Möglich ist aber auch eine temporäre Unaufmerksamkeit des Beklagten, der die Senke voraus nicht realisiert und wegen nicht mehr sichtbarer Rückleuchten für einen Moment irrtümlich geglaubt haben mag, die Strecke verlaufe weiter links. Die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit hat sich nicht kausal auf das Unfallgeschehen ausgewirkt, denn der Beklagte hat weder gebremst noch einen Ausweichversuch unternommen. Folglich ist davon auszugehen, dass es auch bei einer deutlich niedrigeren Geschwindigkeit des Beklagten zu einer Kollision mit dem im Gegenverkehr befindlichen Sattelzug gekommen wäre, weil dieser wegen des Verkehrs vor und hinter dem Beklagten nicht nach links ausweichen konnte. Nach rechts behinderten Leitpfosten und Bäume (siehe Fotos im Gutachten Dipl.-Ing. S. vom 13. Mai 2016) ein Ausweichmanöver des Zeugen B. Der Beklagte wäre auch mit 50 km/h ungebremst in den Sattelzug hineingefahren.
3. Sekundenschlaf
Der Klägerin ist darin zuzustimmen, dass vorliegend einiges für einen Sekundenschlaf des Beklagten als Unfallursache spricht, weil er nach den glaubhaften Angaben des Zeugen Bi. ohne zu bremsen oder auszuweichen quasi in Zeitlupe in den Gegenverkehr geraten und dort mit dem vom Zeugen B. gesteuerten Sattelzug kollidiert ist. Hiervon sind Polizei und Staatsanwaltschaft in dem beigezogenen Ermittlungsverfahren ausgegangen. Dass der Beklagte dies akzeptiert hat, verwundert aus strafrechtlicher Sicht nicht: Seine Verantwortung für die Tötung zweier Menschen und die Körperverletzung eines weiteren Mitfahrers sowie seines Unfallgegners konnte er nicht leugnen. Es kam ihm bei seinem Einspruch gegen den Strafbefehl ersichtlich maßgeblich darauf an, erträgliche Rechtsfolgen zu erzielen. Eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe dürfte unabhängig von ihrer genauen Höhe akzeptabel gewesen sein; eine einjährige Sperre für die Fahrerlaubnis jedoch nicht. Sein Einspruch hatte dann auch schließlich den Erfolg, dass die Maßregel auf ein zweimonatiges Fahrverbot reduziert worden ist.
Im Zivilverfahren ist die Frage, ob der Beklagte am Steuer eingeschlafen war, streitig: Zunächst hatte die Klägerin selbst vorgetragen, sie halte den im Ermittlungsverfahren angenommen Sekundenschlaf für spekulativ (Bl. 9 d. A.). Ihre spätere Behauptung, das Vorliegen eines Sekundenschlafs sei sehr wahrscheinlich (Bl. 157, 158, 198, 199 d. A.), hat der Beklagte ausdrücklich bestritten (Bl. 169, 170 d. A.). Auch im Rahmen seiner mündlichen Anhörung am 12. November 2019 hat er erklärt, er glaube nicht, eingeschlafen zu sein (Bl. 175 d. A.). Den Sekundenschlaf des Beklagten muss die Klägerin beweisen. Die Angaben des Zeugen Bi. legen diese Unfallursache nahe, die einzig denkbar mögliche ist es jedoch nicht (siehe oben unter Ziffer 2.).
Aber selbst wenn man mit der Klägerin einen Sekundenschlaf des Beklagten annähme, führte dies - anders als sie meint - nicht ohne Weiteres zur Bejahung grober Fahrlässigkeit. Objektiv dürfte der Beklagte dann zwar grob fahrlässig gehandelt haben. Denn der Bundesgerichtshof hat schon vor Jahren nach sachverständiger Beratung entschieden, nach dem Stand der ärztlichen Wissenschaft bestehe der Erfahrungssatz, dass ein Kraftfahrer, bevor er am Steuer seines Fahrzeugs während der Fahrt einschlafe (einnicke), stets deutliche Zeichen der Ermüdung (Übermüdung) an sich wahrnehme oder wenigstens wahrnehmen könne. Dies beruht auf der in den berufenen Fachkreisen gesicherten Kenntnis, dass ein gesunder, bislang hellwacher Mensch nicht plötzlich von einer Müdigkeit überfallen wird. [BGH, Beschluss vom 18. November 1969 - 4 StR 66/69 -, Leitsatz und Rn. 38; OLG Frankfurt/M., Urteil vom 26. Mai 1992 - 8 U 184/91 -; BayOLG, Urteil vom 18. August 2003 - 1 St RR 67/03 -; LG Wiesbaden, Beschluss vom 22. Juni 2015 - 1 Qs 61/15 -, Rn. 16; alle zitiert nach juris].
Für die Annahme eines grob fahrlässigen Verhaltens bedarf es aber auch der Feststellung eines in subjektiver Hinsicht nicht entschuldbaren Verstoßes gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (siehe oben). Ein leichtes Einnicken (sog. Sekundenschlaf) begründet nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs deshalb nur dann den Vorwurf eines leichtfertigen Handelns, wenn sich der Fahrer bewusst über von ihm erkannte Anzeichen einer Übermüdung hinweggesetzt hat [BGH, Urteil vom 31. Februar 2007 - I ZR 166/04 -, MDR 2007, 1383; OLGR Rostock 2009, 115 (117); OLG Koblenz, Beschluss vom 8. Juni 2006 - 10 U 1161/05 -, zitiert nach juris; OLGR Düsseldorf 2000, 144; OLG Düsseldorf, Urteil vom 1. Oktober 2001 - 1 U 73/01 -, Orientierungssatz und Rn. 10, zitiert nach juris; OLG Koblenz, Urteil vom 12. Januar 2007 - 10 U 949/96 -, Orientierungssatz und Rn. 14 m. w. N., zitiert nach juris]. Dies muss positiv festgestellt werden. Denn die Regeln des Anscheinsbeweises gelten insoweit nicht [BGH, Urteil vom 21. März 2007 - I ZR 166/04 -, Leitsatz und Rn. 20 m. w. N.; OLG Stuttgart, Urteil vom 28. Juli 2005 - 7 U 51/05 -, Orientierungssatz und Rn. 3 und 4; OLG Celle, Urteil vom 3. Februar 2005 - 8 U 82/04 -, Rn. 6 m. w. N.; alle zitiert nach juris]. Im Falle des Abkommens von der Fahrbahn, dessen Gründe nicht geklärt sind, ist nicht stets ein grob fahrlässiges Verhalten anzunehmen [OLG Stuttgart, Urteil vom 28. Juli 2005 - 7 U 51/05 -, Orientierungssatz; Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 15. September 2009 - 4 U 375/08 -, Orientierungssatz und Rn. 57; beide zitiert nach juris]. Ein Sekundenschlaf kann "einfach fahrlässig" nicht vorhergesehen worden sein [OLG Celle, Urteil vom 3. Februar 2005 - 8 U 82/04 -, Rn. 6 m. w. N.; zitiert nach juris], weil objektiv vorhandene Übermüdungserscheinungen häufig subjektiv nicht wahrgenommen werden [nach sachverständiger Beratung: Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 15. September 2009 - 4 U 375/08 -, Rn. 57; zitiert nach juris].
Vorliegend lässt sich nicht aufklären, ob der Beklagte objektive Übermüdungsanzeichen ignoriert oder sich bewusst hierüber hinweggesetzt hat. Er selbst bestreitet, überhaupt eingeschlafen zu sein. Ferner hat er erklärt, ca. 10 Minuten vor dem Unfall habe er sich noch mit seinem Beifahrer unterhalten gehabt, das Radio sei gelaufen und er sei es gewohnt gewesen, früh aufzustehen (Bl. 175 d. A.). Der einzige Beifahrer, der den Unfall überlebt hat, ist der Versicherungsnehmer der Klägerin; dieser hat ausweislich seiner Angaben gegenüber der Polizei am 14. April 2016 (Bl. 47 d. BA) hinter dem Beklagten gesessen und geschlafen. Deshalb ist auszuschließen, dass er Angaben zu dem subjektiven Empfinden des Beklagten zu seinen etwaigen Übermüdungserscheinungen machen kann. Unter diesen Umständen kann sich der Senat nicht die gemäß § 286 ZPO unter Ausschluss jeden vernünftigen Zweifels erforderliche Überzeugung bilden, der Beklagte habe den Unfall auch subjektiv grob fahrlässig verursacht, weil er unter Missachtung von objektiv vorhandenen Übermüdungserscheinungen eingeschlafen sei. Insoweit bleibt auch zu berücksichtigen, dass der Beklagte auf die Gegenfahrbahn geraten sein könnte, weil er infolge der Fahrbahnsenke sowohl die Lichter aus dem Gegenverkehr als auch die Rückleuchten der vorausfahrenden Fahrzeuge aus den Augen verloren haben und kurzzeitig orientierungslos gewesen sein könnte. Dies wäre gleichfalls nicht völlig unentschuldbar.
Anders als die Klägerin meint, spricht auch die Dauer des Sekundenschlafs vorliegend nicht für einen subjektiv unentschuldbaren Sorgfaltsverstoß. Denn die Strecke, die der Beklagte bis zur Kollision mit dem Lkw auf der Gegenspur zurückgelegt hat, war bei einer zweispurig ausgebauten Landstraße kurz. Der Beklagte hat lediglich eine Fahrbahnhälfte gekreuzt. Eine andere Bewertung des Grades des Fahrlässigkeitsvorwurfs ergibt sich auch nicht daraus, dass der Senat den Sachverhalt im Rahmen des § 110 SGB VII zu prüfen hat. Bei der Beurteilung eines Verhaltens als grob fahrlässig kommt es nach Auffassung des Senats nicht darauf an, innerhalb welcher Anspruchsgrundlage dies geschieht. Entscheidend ist vielmehr, wie das Verhalten nach den Anforderungen des jeweils maßgeblichen Verkehrs zu beurteilen ist. Hierzu hat der Senat die vorstehend zitierte Rechtsprechung zum Sekundenschlaf im Straßenverkehr umfassend ausgewertet und den streitgegenständlichen Sachverhalt unter Berücksichtigung der von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze subsumiert. Dem steht die von der Klägerin zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 30. Januar 2001 - VI ZR 49/00 -, NJW 2001, 2092 - 2094 nicht entgegen. Denn hierbei handelt es sich um eine Einzelfallentscheidung zu Unfallverhütungsvorschriften, die mit dem streitgegenständlichen Fall in keiner Hinsicht vergleichbar sind.
Mangels Nachweises einer groben Fahrlässigkeit seitens des Beklagten ist die Klage zu Recht abgewiesen worden. Die Berufung der Klägerin war zurückzuweisen.
III.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 543 ZPO) liegen nicht vor. Der Senat weicht mit seinem Urteil nicht von anderen vergleichbaren Entscheidungen der Oberlandesgerichte oder des Bundesgerichtshofs ab. Anders als die Klägerin meint, setzt er sich nicht in Widerspruch zum Urteil des Bundesgerichtshofs vom 30. Januar 2001 - VI ZR 49/00 -, weil aus den oben unter Ziffer II. 3. (am Ende) ausgeführten Gründen insoweit kein vergleichbarer Fall vorliegt.
IV.
Die Festsetzung des Streitwertes für das Berufungsverfahren folgt aus §§ 3, 5 ZPO, § 47 Abs. 1 GKG. Dabei ist der Streitwert für den Zahlungsantrag auf 16.596,09 EUR bestimmt worden und für den Feststellungsantrag auf 10.000,- EUR, sodass sich in der Addition 26.596,09 EUR ergeben.