Die Prüfung, ob Artikel 8 EMRK im konkreten Fall ein rechtliches Ausreisehindernis i. S. des § 25 Abs. 5 AufenthG begründet, ist in zwei Schritten durchzuführen: Zunächst ist im ersten Schritt zu prüfen, ob der Schutzbereich des Artikels 8 Abs. 1 EMRK eröffnet ist (siehe hierzu Nummer 2.1). Sofern dies der Fall ist, wird im zweiten Schritt bewertet, ob der in der Aufenthaltsbeendigung oder der Verweigerung eines Aufenthaltsrechts liegende Eingriff in das geschützte Privatleben der oder des Betroffenen im konkreten Einzelfall i. S. von Artikel 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, insbesondere verhältnismäßig ist (siehe hierzu Nummer 2.2).
2.1
Eröffnung des Schutzbereichs des Privatlebens von Artikel 8 Abs. 1 EMRK
Das Recht auf Achtung des Privatlebens gemäß Artikel 8 Abs. 1 EMRK umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. 2. 2011, 2 BvR 1392/10). Je länger der Aufenthalt andauert, desto bedeutender werden regelmäßig die Beziehungen und Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen, d. h. desto verfestigter ist die Integration vorangeschritten. Bei langjährig Geduldeten ist deshalb von der Eröffnung des Schutzbereichs des Artikels 8 Abs. 1 EMRK regelmäßig auszugehen, wenn nicht aufgrund konkreter Anhaltspunkte die Annahme gerechtfertigt erscheint, dass die oder der Betroffene nicht über die notwendige intensive persönliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Bindung zum Bundesgebiet verfügt. Im Zweifel ist jedoch zugunsten der oder des Betroffenen eine Eröffnung des Schutzbereichs des Artikel 8 Abs. 1 EMRK anzunehmen. Die konkreten Anhaltspunkte, die an der notwendigen Bindung zweifeln lassen, sind dann im Rahmen der Abwägung (siehe Nummer 2.2) entsprechend einzustellen und zu bewerten.
Das Fehlen einzelner Indikatoren führt jedoch nicht zwingend zu der Nichteröffnung des Schutzbereichs. So darf innerhalb dieses Prüfungsschrittes nicht einseitig auf fehlende wirtschaftliche Bindungen, eine misslungene berufliche Integration oder auch die Begehung einer einzelnen Straftat abgestellt werden. Eine Bewertung dieser Umstände erfolgt vielmehr im Rahmen der Abwägung bei der Prüfung nach Artikel 8 Abs. 2 EMRK.
2.1.1 Langjähriger Aufenthalt
Der Dauer des bisherigen Aufenthalts der Ausländerin oder des Ausländers ist ein erhebliches Gewicht beizumessen. Erforderlich für die Eröffnung des Schutzbereichs des Artikels 8 Abs. 1 EMRK ist eine langjährige Dauer. In der Rechtsprechung und Literatur haben sich bislang keine einheitlichen Vorgaben für eine diesbezügliche Mindestdauer des Aufenthalts herausbilden können. Da eine strenge schematische Vorgabe die Würdigung der Umstände des Einzelfalles erschwert oder gar verhindert, wird auf die Vorgabe einer zwingenden Mindestdauer verzichtet. Eine Voraufenthaltsdauer von mindestens acht Jahren (oder sechs Jahren, sofern die oder der Betroffene mit einem minderjährigen, ledigen Kind in häuslicher Gemeinschaft lebt) wird jedoch regelmäßig vorauszusetzen sein, um das Vorliegen von nach Artikel 8 EMRK schutzwürdigen Bindungen in das Bundesgebiet anzunehmen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss v. 13. 7. 2018, 13 ME 373/17, Rn. 32 f). Die Orientierung an diesen Voraufenthaltszeiten entbindet allerdings nicht von einer individuellen Einzelfallprüfung, in der das Vorliegen persönlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Bindungen zum Bundesgebiet zu prüfen ist. Insofern kann der Schutzbereich des Artikel 8 EMRK auch in Abweichung der genannten Voraufenthaltszeiten eröffnet sein, sofern die oder der Betroffene trotz kürzerer Aufenthaltsdauer über die notwendigen Bindungen zum Bundesgebiet verfügt.
2.1.2 Rechtmäßigkeit des Voraufenthalts
Verfügt die oder der Betroffene über persönliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Bindungen zum Bundesgebiet, so ist der Schutzbereich des Artikels 8 Abs. 1 EMRK nicht deshalb verschlossen, weil sie oder er sich bislang ausschließlich unerlaubt in Deutschland aufgehalten hat. Auch eine Ausländerin oder ein Ausländer, deren oder dessen bisheriger Aufenthalt nicht erlaubt gewesen ist, kann sich auf Artikel 8 Abs. 1 EMRK berufen. Hierfür sprechen dogmatische und humanitäre Gesichtspunkte sowie die Rechtsprechung des EGMR, nach welcher auch im Rahmen eines (teilweise) unrechtmäßigen Voraufenthalts der Schutzbereich des Artikels 8 Abs. 1 EMRK eröffnet sein kann (vgl. EGMR Urteil vom 13. 10. 2011, 41548/06; EGMR, Urteil vom 31. 7. 2008, 265/07). Entscheidend ist allein, ob die oder der Betroffene eine faktische Verwurzelung im Bundesgebiet erreicht hat, die so gewichtig ist, dass es geboten erscheint, die Beendigung des weiteren Aufenthalts einer Überprüfung an den Maßstäben des Artikels 8 Abs. 2 EMRK zu unterziehen.
Ein unrechtmäßiger Aufenthalt und das dadurch berührte Interesse der Vertragsstaaten, den Zuzug von Ausländerinnen und Ausländern zu steuern und zu begrenzen, kann mit dem gebotenen Gewicht im Rahmen der gemäß Artikel 8 Abs. 2 EMRK vorzunehmenden Abwägung berücksichtigt werden. Fälle von Verfahrensverschleppungen, missbräuchlichen Antragstellungen und fehlender Mitwirkungsbereitschaft können auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt und ggf. ausgegrenzt werden.
2.2
Interessenabwägung nach Artikel 8 Abs. 2 EMRK
Ob der Eingriff in das geschützte Privatleben im konkreten Einzelfall in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, insbesondere verhältnismäßig ist, ist nach Artikel 8 Abs. 2 EMRK zu prüfen.
Nach Artikel 8 Abs. 2 EMRK darf eine Behörde in den Schutzbereich des Artikels 8 Abs. 1 EMRK nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.
Zu prüfen ist daher im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung, ob die durch Artikel 8 Abs. 2 EMRK benannten öffentlichen Interessen gegenüber dem Interesse der Ausländerin oder des Ausländers an der Aufrechterhaltung seiner sozialen Beziehungen im Gastland überwiegen.
Bei dieser Prüfung ist einerseits maßgeblich zu berücksichtigen, inwieweit die Ausländerin oder der Ausländer unter Beachtung des Lebensalters und der persönlichen Befähigung in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Zu beachten ist auch, welche Auswirkungen eine Ausreise der Ausländerin oder des Ausländers für ihre oder seine in Deutschland zurückbleibenden nahen Familienangehörigen hätte. Andererseits ist in den Blick zu nehmen, welche Schwierigkeiten für sie oder ihn (und ggf. die Ehepartnerin oder den Ehepartner und die gemeinsamen oder in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Kinder) mit einer (Re-)Integration in den Staat verbunden wären, in den sie oder er ausreisen soll. Im Rahmen der nach Artikel 8 Abs. 2 EMRK gebotenen Abwägung ist eine umfassende Gewichtung und Würdigung aller Gesichtspunkte des jeweiligen konkreten Einzelfalles vorzunehmen. Dabei sind alle konkreten, individuellen Lebensumstände und auch Lebensperspektiven in eine gewichtende Gesamtbewertung einzustellen und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, abzuwägen.
Das Interesse an der Aufrechterhaltung der faktisch gewachsenen und von Artikel 8 Abs. 1 EMRK geschützten persönlichen Bindungen ist mit den öffentlichen Interessen an einer Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländerinnen und Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland (siehe § 1 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) und einer Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwägen. Je verfestigter die Integration ist und je nachteiliger die für die Ausländerin oder den Ausländer mit einer Aufenthaltsbeendigung verbundenen Folgen wären, desto gewichtiger müssen die öffentlichen Interessen sein, die die Versagung der Aufenthaltserlaubnis und damit die Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen (siehe OVG Hamburg, Beschluss vom 5. 5. 2014, 4 Bs 98/14; OVG Bremen, Urteil vom 28. 6. 2011, 1 A 141/11; Nds. OVG, Beschluss vom 28. 3. 2014, 8 LA 192/13).
Bei der Entscheidung darf nicht einseitig auf einzelne Aspekte abgestellt werden, notwendig ist in jedem Einzelfall eine Gesamtabwägung.
Zu beachtende Kriterien für die Verhältnismäßigkeitsprüfung sind u. a.:
Dauer und Grund des Aufenthalts in Deutschland sowie dessen Rechtmäßigkeit,
Stand der gesellschaftlichen und sozialen Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse (z. B. Kenntnisse der deutschen Sprache in Wort und Schrift, Schule/Ausbildung/berufliche Betätigung, regelmäßiger Schulbesuch der Kinder), wobei auch Integrationsleistungen von Elternteilen zugunsten der Kinder zu berücksichtigen sind,
Teilnahme am gesellschaftlichen Leben,
familiäre und soziale Beziehungen (bei Pflegebedürftigkeit und Erkrankungen ist die gesundheitliche Situation nebst Bindungen zu Dritten besonders zu berücksichtigen),
strafrechtlich relevantes Verhalten (unter Berücksichtigung der Art und Schwere begangener Straftaten, der seither vergangenen Zeit sowie des Verhaltens der Ausländerin oder des Ausländers in dieser Zeit),
wirtschaftliche Verhältnisse (Sicherung des Lebensunterhalts aus einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit, Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen, Wohnverhältnisse),
unter dem Aspekt der (Wieder-)Eingliederung im (Herkunfts-)Land: Lebensalter, persönliche Befähigung, Schul- und Berufsausbildung, Kenntnisse von Kultur und Sprache, bisheriger Aufenthalt und bestehende Verbindungen zum (Herkunfts-)Land, Hilfsmöglichkeiten durch Verwandte und sonstige Dritte.
Ist die Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse in Bezug auf einzelne Aspekte (noch) unzureichend, liegen aber konkrete und belastbare Umstände vor, dass diese Defizite ausgeglichen werden, so ist dies in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen.
Der Frage des rechtmäßigen Aufenthalts kommt als Abwägungskriterium im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine erhebliche Bedeutung zu. Ein (teilweise) rechtswidriger Aufenthalt relativiert die positive Wirkung einer sehr langen Aufenthaltsdauer. Bei langjährig geduldeten Ausländerinnen und Ausländern ist ausschlaggebend, ob diese ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand des Aufenthalts entwickeln konnten. Davon ist regelmäßig bei erwachsenen Personen auszugehen, die bereits als Kleinkind eingereist oder im Inland geboren worden sind und denen kein, einen Vertrauensschutz ausschließendes, eigenverantwortliches Fehlverhalten vorgeworfen werden kann. Auch Ausländerinnen und Ausländer, die der Ausreisepflicht nicht freiwillig nachkommen konnten, ohne die hierfür maßgeblichen Gründe vertreten zu müssen, und auch nicht zwangsweise rückgeführt werden konnten, konnten regelmäßig ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand des Aufenthalts entwickeln, das gebührend im Rahmen der Gesamtabwägung einzustellen ist.
Die umgekehrte Situation, d. h. wenn die Ausländerin oder der Ausländer aufgrund eigenverantwortlichen Fehlverhaltens keinen Vertrauensschutz aufbauen konnte, weil sie oder er sich z. B. durch Identitätstäuschung, Verweigerung gesetzlicher Mitwirkungspflichten oder Verzögerung aufenthaltsbeendender Maßnahmen einer Abschiebung entzogen hat, ist dagegen im Abwägungsvorgang als besonders schwerwiegend einzustufen. Allerdings darf das Überwiegen des öffentlichen Interesses nicht ausschließlich mit der Rechtswidrigkeit des Aufenthalts begründet werden. Vielmehr hat stets eine Interessenabwägung unter Einbeziehung aller Kriterien der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen. Auch wenn die Aufgabe bisherigen Fehlverhaltens und damit die Erfüllung aller diesbezüglichen gesetzlichen Pflichten positiv zu bewerten ist, muss auch hier bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände, insbesondere der wirtschaftlichen und sozialen Integrationsleistungen, das Verhalten hinsichtlich des Ausmaßes, der Dauer, der Hartnäckigkeit und der sich daraus ergebenden finanziellen Folgen für die öffentlichen Haushalte berücksichtigt werden. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Beendigung eines Aufenthalts und dem persönlichen Interesse der Ausländerin oder des Ausländers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet sind also jeweils alle konkreten Umstände des Einzelfalles einzustellen.
Zur Berücksichtigung des Umfangs der wirtschaftlichen Integration im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung wird ergänzend auf Folgendes hingewiesen:
Wirtschaftlich integriert ist eine Ausländerin oder ein Ausländer nur, wenn der Lebensunterhalt einschließlich Krankenversicherungsschutz ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel i. S. des § 2 Abs. 3 AufenthG gesichert werden kann. Dabei ist nicht entscheidungserheblich, ob die Ausländerin oder der Ausländer den Bezug von öffentlichen Sozialleistungen zu vertreten hat oder ob sie oder er wegen der Arbeitsmarktsituation, aus gesundheitlichen oder rechtlichen Gründen tatsächlich nicht in der Lage war und ist, den Lebensunterhalt einschließlich Krankenversicherungsschutz ohne Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen selbst sicherzustellen (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 17. 11. 2006, 10 ME 222/06, Rn. 9; ähnlich: Nds. OVG, Beschluss vom 12. 3. 2013, 8 LA 13/13, Rn. 17).
Nach der Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss vom 21.2.2011, 2 BvR 1392/10) ist es jedoch nicht zulässig, einseitig auf einzelne Kriterien - wie eine fehlende wirtschaftliche Integration - abzustellen. Ist eine Ausländerin oder ein Ausländer wirtschaftlich integriert, so ist dies ein wesentlicher Aspekt, der - ohne dass damit gleichzeitig das Ergebnis vorgegeben wäre - zugunsten der oder des Betroffenen in die Gesamtabwägung einzustellen ist. Gleichzeitig bedeutet dies, dass für den Fall, dass eine Ausländerin oder ein Ausländer wirtschaftlich nicht oder nicht vollständig integriert ist, dies zwar gleichfalls in die Gesamtabwägung einzustellen ist, daraus allein aber noch kein (negatives) Ergebnis abgeleitet werden kann. Da sich aufgrund der Verhältnismäßigkeitsprüfung schematische Lösungen verbieten, kann kein allgemeingültiges Mindestmaß der wirtschaftlichen Integration vorgegeben werden. Erforderlich ist vielmehr immer die Gesamtbetrachtung des Einzelfalles mit allen vorhandenen Faktoren. Dazu zählt auch, ob die oder der Betroffene in der Vergangenheit zumutbare Bemühungen unternommen hat, um den Lebensunterhalt möglichst aus eigenem Erwerbseinkommen zu bestreiten.
Bei der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen im Rahmen des § 25 Abs. 5 AufenthG sind mögliche Ermessensspielräume des Gesetzes unter Beachtung humanitärer Aspekte zugunsten der Betroffenen auszuschöpfen.