Sozialgericht Hannover
Beschl. v. 02.04.2008, Az.: S 16 KA 62/08 ER

Streit um die Vollstreckung des gegen eine Vertragsarzt festgesetzten Regressbetrages im Hinblick auf die Gefährdung von dessen beruflicher Existenz; Zeitpunkt der Verrechnung des Regressbetrages; Wirtschaftliche Bedeutung eines Rückforderungsbetrages; Ablehnung eines Antrags auf Terminsaufhebung und Vertagung in Anbetracht des Rechts auf rechtliches Gehör

Bibliographie

Gericht
SG Hannover
Datum
02.04.2008
Aktenzeichen
S 16 KA 62/08 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 49365
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHANNO:2008:0402.S16KA62.08ER.0A

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Beschluss des Beklagten vom 21. November 2007 (S 16 KA 64/08) wird angeordnet. Die Kosten tragen der Antragsgegner und die Beigeladene zu 1. gemeinschaftlich. Der Streitwert wird auf 26.043,92 Euro festgesetzt.

Gründe

1

I.

Der Antragsteller ist als Facharzt für X in Y niedergelassen und zur vertragsärztlichen Tätigkeit zugelassen. Mit Beschluss vom 21. November 2007 setzte der Antragsgegner gegen den Antragsteller nach Durchführung der Richtgrößenprüfung für das Jahr 2001 einen Regress in Höhe von 104.175,68 Euro fest. Gegen diese Entscheidung erhob der Antragsteller Klage bei dem Sozialgericht Hannover, die unter dem Aktenzeichen S 16 KA 64/08 geführt wird. Mit der Begründung, die Realisierung des Regressbetrages vernichte seine berufliche Existenz beantragt er mit diesem einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage.

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Der Antragsgegner und die Beigeladene zu 1. beantragen die Zurückweisung des Antrags des Antragstellers.

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II.

Der Antragsteller hat mit seinem Antrag Erfolg. Denn durch die Vollstreckung des Regressbetrages ist die Vernichtung seiner beruflichen Existenz nicht auszuschließen.

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Die Beigeladene zu 1. rügt zunächst, die ihr eingeräumte Frist zur Stellungnahme vom 1. April bis zum 2. April, 13:00 Uhr sei zu kurz gewesen. Hierzu ist anzumerken, dass, wie aus anderen Verfahren bekannt ist, die Beigeladene zu 1. grundsätzlich die Auffassung vertritt, nach der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides sei der festgesetzte Regress zu realisieren. Zur Abklärung der Dringlichkeit der Entscheidung über den Antrag fragte das Gericht mit Verfügung vom 20. März 2008 bei der Beigeladenen zu 1. an, zu welchem Termin die Verrechnung der streitigen Regresssumme beabsichtigt sei und ob eine Ratenvereinbarung bestünde. Mit Schriftsatz vom 20. März 2008 bat der Antragsteller dringend um kurzfristige Entscheidung über den Eilantrag, denn die Beigeladene zu 1 wolle den Regress mit den monatlichen Abschlagszahlungen verrechnen. Da die gerichtliche Anfrage vom 25. März 2008 bis zum 1. April 2008 nicht beantwortet wurde und aufgrund der Mitteilung des Antragsgegners eine kurzfristige Verrechnung des Regressbetrages nicht auszuschließen war, verkürzte das Gericht mit Verfügung vom 1. April 2008 die Frist zur Stellungnahme bis zum 2. April 2008, 13:00 Uhr. Nunmehr teilt die Beigeladene zu 1. mit, dem Kläger werde voraussichtlich in der 15. Kalenderwoche ein Anhörungsschreiben zugehen. Zugleich beantragte sie die Zurückweisung des Antrages. Es ist nicht zu erkennen, dass die Beigeladene in Erwägung zieht, den Zeitpunkt der Verrechnung des Regressbetrages mit dem Gericht abzustimmen.

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Das Gericht sieht sich daher zu einer unverzüglichen Entscheidung gezwungen.

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Grundlage für die beantragte Entscheidung ist § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz. Denn die Klage gegen die Entscheidung des Antragsgegners hat keine aufschiebende Wirkung (§ 106 Abs. 5a SGB V). Das Gericht entscheidet nach Ermessen auf der Grundlage einer Interessenabwägung, ob die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anzuordnen ist. Bei dieser Interessenabwägung ist das private Interesse des belasteten Bescheidadressaten an der Aufschiebung der Vollziehung gegen das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes abzuwägen. Bestehen im Rahmen der im Eilverfahren alleine in Betracht kommenden summarischen Prüfung erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Rückforderungsbescheides, kommt im Interesse des belasteten Bescheidadressaten regelmäßig der Vorrang zu, wenn der geltend gemachte Rückforderungsbetrag von einiger wirtschaftlicher Bedeutung ist. Das LSG Niedersachsen-Bremen sieht bezogen auf das jeweilige Honorarjahr bereits einen Rückforderungsbetrag in Höhe von 2.500 Euro als wirtschaftlich bedeutend an. Diese ist vorliegend angesichts des Rückforderungsbetrages von 104.175,68 Euro eindeutig überschritten.

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Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung vermag das Gericht keine Aussagen darüber zu treffen, ob der streitbefangene Beschluss als rechtswidrig anzusehen ist oder nicht. Über die Erfolgsaussichten der Klage können daher in diesem Zeitpunkt keinerlei Angaben gemacht werden. Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass möglicherweise der Entscheidungstermin des Antragsgegners am 31. Oktober 2007 auf Antrag des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers hätte aufgehoben werden müssen. Der Vertagungsantrag ging bei dem Antragsgegner am 1. Oktober 2007 mit der Begründung ein, der Antragsgegner habe die Prozessbevollmächtigten mit der Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen beauftragt. Wegen bereits feststehender anderer Verpflichtungen der Prozessbevollmächtigten werde die Aufhebung des Termins beantragt. Diesem Antrag gab der Antragsteller nicht statt. Hierzu ist zu bemerken, dass der Antrag auf Aufhebung des Termins begründet gewesen sein könnte. Der Antragsteller hat das Recht auf rechtliches Gehör, dieses ist bereits dann verletzt, wenn er sich nicht ordnungsgemäß vertreten lassen kann. Er muss die Möglichkeit haben, sich kompetent und sachdienlich zur Sach- und Rechtslage vor dem Beklagten zu äußern. Auch wenn die Verhandlung vor dem Antragsgegner nicht mit einer Gerichtsverhandlung zu vergleichen ist, so sprechen gewichtige Gründe dafür, dass der Antragsgegner in Anbetracht der existenziellen Bedrohung durch die zu erwartende Entscheidung des Antragsgegners zur Aufhebung und Vertagung verpflichtet gewesen wäre, zumal der Prozessbevollmächtigte seinen Aufhebungsantrag mit beachtenswerten Gründen versehen hatte. Denn Umstände, die auf eine missbräuchliche Verwendung des Rechts auf Beantragung einer Terminsaufhebung zur Verzögerung des Verfahrens hinweisen könnten, sind nicht ersichtlich. Auch Gründe der Verfahrensbeschleunigung können zur Ablehnung des Aufhebungsantrags nicht herangezogen werden, denn angesichts der Bedeutung der Angelegenheit wären auch etwa vierwöchige Terminsverlegungen mit dem Zügigkeitsgebot vereinbar gewesen.

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Die inhaltliche Überprüfung des streitbefangenen Beschlusses kann nicht abschließend geklärt werden. Insbesondere die Behauptung des Antragstellers, die Berechnungen des Antragsgegners beruhten auf fehlerhaften Daten, kann zu diesem Zeitpunkt nicht in dem Umfang abgeklärt werden, dass sie als Entscheidungsgrundlage herangezogen werden kann. Es ist auch nicht im Rahmen der summarischen Prüfung erkennbar, ob der Antragsgegner seiner Entscheidung ein höheres Verordnungsvolumen als das tatsächlich verordnete zugrunde gelegt hat. Ebenso wenig ist abschließend zu überprüfen, ob die Praxisbesonderheiten umfassend berücksichtigt wurden.

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Entscheidend ist für die Kammer jedoch, dass bei einer Interessenabwägung die in Interessen des Antragstellers an der begehrten Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegenüber den Interessen des Antragsgegners und der Beigeladenen zu 1. überwiegen. Nach Angaben des Prozessbevollmächtigten hat der Antragsteller zwei Kinder im Alter von 11 und 14 Jahren zu versorgen. Im Jahre 2006 erzielte er ein Nettoeinkommen in Höhe von 39.000 Euro, dies bedeutet, dass er für sich und seine Familie über Einnahmen in Höhe von 3.250 Euro monatlich verfügt. Die Realisierung des gesamten Regressbetrages in Höhe von 104.175,68 Euro würde, wovon das Gericht überzeugt ist, die Insolvenz des Antragstellers zur Folge haben. Diese Folge kann nicht im Interesse des Antragsgegners und der Beigeladnen zu 1. liegen, denn im Falle der Insolvenz würden sie möglicherweise nicht nur auf den Regressbetrag der für das Abrechnungsjahr 2001 errechnet worden ist, verzichten müssen sondern auch auf die möglichen Regressbeträge aus den Richtgrößenprüfungen der Jahre 2002 bis 2005 (400.401,60 Euro, 218.520,31 Euro, 164.280,97 Euro sowie 237.171,39 Euro). Die Beigeladene zu 1. stellt den Interessen des Antragstellers die ihrer Ansicht nach erheblich gewichtigeren Interessen der Mitgliedergemeinschaft auf eine Auszahlung der für wirtschaftlich erbrachte Leistungen geltend gemachten Honoraransprüchen entgegen. Diese berechtigten Honoraransprüche würden durch Verzögerungen bei Realisierungen von Regressansprüchen gegen einzelne Mitglieder der Beigeladene zu 1. gefährdet. Es kann an dieser Stelle nicht überprüft werden, ob Regressansprüche gegen einzelne Mitglieder der Beigeladenen zu 1., die nicht unverzüglich realisiert werden können, Honoraransprüche der Mitgliedergemeinschaft gefährden können. Denn die Rechte eines Einzelnen können nicht mit der Begründung verkürzt werden, anderenfalls käme die Gemeinschaft der übrigen Mitglieder nicht zur ihrem Recht. Die gesetzliche Konstruktion der Richtgrößenprüfung beruht darauf, dass die gesamte Vergütung aller niedersächsischen Vertragsärzte um die regressierten Beträge gemindert wird. Diese kollektivrechtliche Wirkung ist - jedenfalls in diesem Rechtsschutzverfahren - als rechtswirksam hinzunehmen. Sie darf jedoch nicht zur Folge haben, dass zur Stabilisierung des Gesamtvergütungsanspruches die Rechte einzelner Ärzte eingeschränkt werden. Der einzelne geprüfte Arzt hat unabhängig von den Folgen für die Gesamtheit der Mitglieder einen Anspruch auf die Wahrung seiner Rechtsansprüche.

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Die vom Gericht getroffene Entscheidung wird noch durch folgende Überlegung bestätigt: Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass in einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Grenzen einer vorläufigen Regelung nicht überschritten werden dürfen. Dieses Vorwegnahmegebot, das nur in Ausnahmefällen durchbrochen werden darf, ist dadurch begründet, dass die einstweiligen Rechtsschutzverfahren lediglich Entscheidungen treffen, die der vorläufigen Sicherung oder Regelung eines Sachverhaltes dienen. Im konkreten Fall ist davon auszugehen, dass im Falle einer sofortigen Realisierung des Regressbetrages die Insolvenz des Antragstellers sehr wahrscheinlich wäre. Würde sich im Hauptsacheverfahren der streitbefangene Beschluss als rechtswidrig erweisen, so hätte der Antragsteller zwar Anspruch auf den Regressbetrag, die Existenz seiner Praxis würde er jedoch nicht wiederherstellen können. Diese Folge muss der Antragsteller aufgrund der in diesem Zeitpunkt zu berücksichtigten Sach- und Rechtslage nicht hinnehmen, zumal dem festgesetzten Regress kein deliktisches Verhalten des Antragstellers zugrunde liegt.

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Das Gericht hat von einer Anordnung von Ratenzahlungen abgesehen. Zum einen wäre eine weitere Sachverhaltsaufklärung notwendig gewesen, um die Höhe der zuzumutenden Raten bestimmen zu können. Hierzu fehlte dem Gericht aufgrund des nicht vorhersehbaren Zeitpunktes der Realisierung des Regresses die Zeit. Darüber hinaus erachtet das Gericht eine umfängliche Regelung, die die Interessen aller Beteiligten hinreichend berücksichtigt, im Hinblick auf die möglicherweise noch anstehenden Regressforderungen für erforderlich. Denn nur wenn der Antragsteller weiter in seiner Praxis tätig sein kann, wird es ihm möglich sein, berechtigte Regressforderung auszugleichen.

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Der Wert für die Gerichtsgebühren richtet sich nach § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) in der zurzeit der Antragstellung geltenden Fassung. Der Streitwert ist nach der Bedeutung der Sache für die Antragstellerin, die sich aus dem Antrag ergibt, nach Ermessen zu bestimmen. Ausgangspunkt ist hiernach das wirtschaftliche Interesse, das die Antragsteller an einem Obsiegen in diesem Antragsverfahren hatten.

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Da es sich um ein Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes handelte ist nach der ständigen Rechtsprechung des 3. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen, der die Kammer folgt, die Zugrundelegung eines Viertels des Wertes der Hauptsache angemessen (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen , Beschluss vom 24.01.2002, L 3 B 6/02 KA; Beschluss vom 20.09.2001, L 3 B 252/01 KA; Beschluss vom 05.07.2001, L 3 B 152/01 KA).

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.