Sozialgericht Hannover
Urt. v. 05.12.2008, Az.: S 19 KR 672/08
Entsprechende Anwendbarkeit der Regelungen der Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung; Zugehörigkeit der Notfallrettung zum Spektrum der vertragsärztlichen Versorgung für in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherte
Bibliographie
- Gericht
- SG Hannover
- Datum
- 05.12.2008
- Aktenzeichen
- S 19 KR 672/08
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 49367
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGHANNO:2008:1205.S19KR672.08.0A
Rechtsgrundlagen
- § 677 BGB
- § 679 BGB
- § 683 S. 1 BGB
- § 60 SGB V
- § 75 Abs. 1 S. 2 SGB V
- § 133 SGB V
Tenor:
- 1.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.749,24 Euro zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz seit dem 01.02.2008.
- 2.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
- 3.
Der Streitwert beträgt 1.749,24 Euro.
- 4.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Kostenerstattung für einen Rettungseinsatz der Bundesmarine.
Der bei der Beklagten versicherte Patient, Herr G., befand sich am 28. August 2007 als Fahrgast an Bord des Fischkutters "H" auf der Ostsee nördlich der Insel Rügen. Hierbei zog er sich eine blutende Platzwunde am Kopf zu. Die "H" setzte einen Notruf an "Bremen Rescue" ab. Das Marineboot "I" befand sich in einer zeitlichen Entfernung von 40 Minuten zur Unglücksstelle. Das Rettungsboot der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger "Wilhelm Kaisen" war ca. 1 Stunde entfernt. Im Rahmen eines abgestimmten Einsatzes leistete die "I" Hilfe durch einen Sanitätsbootsmann, der eine Wundversorgung mit Anlage eines Wunderverbandes vornahm und dem Patienten beim Eintreffen der "Wilhelm Kaisen" in die notärztliche Versorgung übergab.
Unter dem 10.01.2008 stellte die Klägerin der Beklagten Sachkosten über den Rettungseinsatz in Höhe von 1.749,24 Euro in Rechnung. Die Beklagte trat der Forderung entgegen, da sie eine Rechtsgrundlage für die Kostenerstattung nicht erkennen konnte.
Nach Durchführung des gerichtlichen Mahnverfahrens beantragte die Klägerin am 08.05.2008 die Durchführung des streitigen Verfahrens vor dem Amtsgericht Hannover. Unter eingehender Darlegung des Sachverhaltes machte sie ein Anspruch auf Aufwendungsersatz aus Geschäftsführung ohne Auftrag geltend. Sie wies darauf hin, dass bisher keine Kasse die Zahlung verweigert hätte.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen an die Klägerin 1.749,24 Euro zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz seit dem 01.02.2008.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Vor dem Amtsgericht Hannover verwies sie auf die Unzulässigkeit des Rechtsweges. Inhaltlich sei keine Anspruchsgrundlage ersichtlich. Eine Kostenerstattung aus Geschäftsführung ohne Auftrag käme nicht in Betracht, da die Beklagte in seinem solchen Falle nicht gegenüber ihrem Versicherten Sachleistungspflichtig sei. Auch bestünde kein Anspruch unter dem Gesichtspunkt der Fahrkosten gemäß § 60 SGB V, da keine Beförderung stattgefunden habe. Es habe sich vielmehr um eine Maßnahme zur Lebensrettung gehandelt, die eine allgemeine öffentlich-rechtliche Aufgabe sei.
Das Amtsgericht Hannover hat die Klage durch Beschluss vom 26.08.2008 an das Sozialgericht Hannover verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ergibt sich aus § 51 Abs. 2 SGG.
Die Klage ist als echte Leistungsklage gem. § 54 Abs. 5 SGG zulässig und begründet.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Aufwendungsersatz in erkannter Höhe. Dieser findet seine Grundlage in den Regelungen Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) nach den §§ 677 ff Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), die im Bereich der GKV grundsätzlich entsprechend anwendbar sind (BSG SozR 3-7610 § 683 Nr. 1).
Die Rechtsfolgen der GoA greifen nach § 677 BGB ein, wenn jemand ein Geschäft für einen anderen besorgt, ohne von diesem beauftragt oder ihm gegenüber sonst dazu berechtigt zu sein, und dabei mit dem Bewusstsein und dem Willen handelt, ein fremdes Geschäft auszuführen. Nach § 683 Satz 1 BGB kann in solchen Fällen der Geschäftsführer wie ein Beauftragter Ersatz seiner Aufwendungen verlangen, wenn die Übernahme der Geschäftsführung dem Interesse und dem wirklichen oder dem mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn entspricht. Ein entgegenstehender Wille des Geschäftsherrn ist nach § 679 BGB unbeachtlich, wenn ohne die Geschäftsführung eine Pflicht des Geschäftsherrn, deren Erfüllung im öffentlichen Interesse liegt, nicht rechtzeitig erfüllt wurde. Da die Rettung von Personen aus lebensbedrohlichen Situationen auch im öffentlichen Interesse liegt (vgl BGHZ 33, 251), wäre selbst ein ausdrücklich erklärter Widerspruch der Beklagten gegen ein Tätigwerden des Klägerin unbeachtlich.
Die Klägerin hat insoweit ein objektiv fremdes Geschäft, nämlich das der Beklagten, geführt, als die Beklagte im Verhältnis zu ihren Versicherten den Rettungseinsatz als Sachleistung der GKV hätte erbringen müssen.
Festzustellen ist zunächst, dass die Notfallrettung für GKV-Versicherte, auch wenn sie auf landesrechtlicher Grundlage hoheitlich geregelt ist und nach § 75 Abs. 1 S. 2 SGB V grundsätzlich - wenn das Land nichts Anderes vorsieht - nicht zum Spektrum der vertragsärztlichen Versorgung gehört, eine zum Leistungsspektrum der GKV gehörende Leistung darstellt. Zwar regelt § 60 SGB V explizit allein Fahrten, welche zumindest auch dem Transport Versicherter dienen, und betrifft § 133 SGB V allein die Entgelte für Rettungsdienste, die zum Aufgabenspektrum der GKV gehören. Jedoch sind beide Vorschriften nach Sinn und Zweck dahingehend zu verstehen, dass sie auch notärztliche Fahrten zum Versicherten erfassen, die erforderlich sind, um ohne Verzug zu klären, ob und welche sofortigen Rettungsmaßnahmen geboten sind, und diese dann gegebenenfalls vorzunehmen - unabhängig davon, ob anschließend ein Transport des Versicherten geboten ist (Hessisches Landessozialgericht , Urteil v. 20.03.2008, L 1 KR 267/07 ). Ebenfalls gehört - wie auch sonst bei der ärztlichen Behandlung - die diagnostische Abklärung der Situation zum Leistungsspektrum der GKV. Von dieser Rechtsprechung ist auch der vorliegende Fall erfasst. Es macht keinen Unterschied, ob ein Rettungseinsatz unmittelbar durch einen Notarzt durchgeführt wird oder ob bis zu dessen späterem Eintreffen zunächst eine Versorgung durch Sanitätspersonal stattfindet. Denn es folgt aus dem Zweck schnellstmöglicher Rettung (Hessisches Landessozialgericht, a.a.O.) auf See, dass ein Boot mit Sanitätspersonal, welches den Patienten 20 Minuten früher als der Notarzt erreichen kann, eine Erstversorgung vornimmt. Hierdurch wird im Notfall wertvolle Zeit gewonnen und schon eine erste diagnostische Abklärung ermöglicht, die - wie dargelegt - eine Leistungspflicht der GKV begründet.
Gegen die Höhe der Forderung, die sich allein auf die entstandenen Sachkosten beschränkt (vgl. VMBl 2007, S. 15), bestehen weder Bedenken seitens der Kammer noch hat die Beklagte hiergegen Einwendungen erhoben.
Hinsichtlich der Zinsforderung ist die Klage in analoger Anwendung von § 288 BGB begründet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197 a Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Entscheidung zum Streitwert richtet sich gem. § 52 Abs. 1 GKG nach der Höhe der Hauptforderung.
Gem. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG war die Berufung zuzulassen, da die Kammer der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst.