Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 14.09.2006, Az.: L 6 AS 376/06 ER
Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende; Anforderungen an das Vorliegen der Erwerbsfähigkeit eines Ausländers; Möglichkeit der Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis als ausreichende Grundlage für eine Erwerbsfähigkeit
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 14.09.2006
- Aktenzeichen
- L 6 AS 376/06 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 26037
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2006:0914.L6AS376.06ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - 01.06.2006 - AZ: S 24 AS 524/06 ER
Rechtsgrundlagen
- § 86b Abs. 2 S. 2 SGG
- § 8 Abs. 2 SGB II
- § 41 Abs. 1 S. 3 SGB II
Fundstellen
- InfAuslR 2007, 21-22 (Volltext mit red. LS)
- NZS 2007, 431-433 (Volltext mit amtl. LS)
- info also 2007, 89 (amtl. Leitsatz)
- info also 2007, 276 (Kurzinformation)
Tenor:
Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt C., D., beigeordnet; Raten sind nicht zu zahlen.
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 1. Juni 2006 aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung unter dem Vorbehalt der Rückforderung bei Unterliegen der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren verpflichtet, dieser vom 9. Mai 2006 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens bis zum 31. Oktober 2006 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu erbringen.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
Gründe
I.
Die 1977 geborene Antragstellerin ist polnische Staatsangehörige, verheiratet und Mutter einer im Februar 2004 geborenen Tochter. Am 10. Oktober 2005 meldete sie sich mit ihrer Tochter beim Landkreis E. an; bereits am 22. September 2005 hatte sich ihr Ehemann angemeldet (Bescheinigungen vom 6. Dezember 2005). Am 2. Februar 2006 beantragte die Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende -. In dem Antrag ist festgehalten, dass die Antragstellerin bis zum 31. Januar 2006 Einkommen erzielte. Des Weiteren hat diese angegeben, ihr Ehemann nehme aus selbstständiger Tätigkeit seit 1. Februar 2006 nur noch 400 EUR monatlich ein, da Aufträge weggefallen seien. Der Ehemann der Antragstellerin hatte am 26. September 2005 ein Gewerbe (Versicherungen, Vermittlung von Bausparverträgen, Trockenbau und Verkauf von Baumaterialien) angemeldet. Nachdem die Antragsgegnerin von der Ausländerbehörde des Landkreises E. die Auskunft erhalten hatte, die Aufenthaltsgenehmigung für die Familie der Antragstellerin sei aufgrund der Selbstständigkeit erteilt worden und sie werde widerrufen, da der Lebensunterhalt nicht sichergestellt werden könne (Vermerk vom 15. Februar 2006), lehnte sie Leistungen ab (Bescheid vom 16. Februar 2006). Dagegen erhob die Antragstellerin Widerspruch mit dem Hinweis, dass sie als Bürgerin der Europäischen Union (EU) Freizügigkeit genieße. Die Antragsgegnerin hielt an ihrer Entscheidung mit der Begründung fest, dass Leistungen nur Personen erhielten, die erwerbsfähig seien. Erwerbsfähig könnten Ausländer nur dann sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt sei oder erlaubt werden könne. Als polnische Staatsangehörige benötige die Antragstellerin eine Arbeitserlaubnis oder eine Arbeitsberechtigung. Diese lägen nicht vor. Aus wirtschaftspolitischen Gründen sei auch nicht davon auszugehen, dass diese erteilt würden (Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 2006).
Dagegen hat die Klägerin am 1. März 2006 vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg Klage erhoben und am 9. Mai 2006 die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit der Begründung beantragt, dass mittlerweile die finanziellen Rücklagen aufgebraucht seien. Das SG hat diesen Antrag - gestützt auf die Einschätzung der Antragsgegnerin, eine Arbeitsgenehmigung werde aus wirtschaftspolitischen Gründen nicht erteilt - abgelehnt. Der noch im selben Monat eingelegten Beschwerde hat es nicht abgeholfen und diese dem Landessozialgericht (LSG) zur Entscheidung vorgelegt.
Die Antragstellerin hat im Beschwerdeverfahren die ihr von der Antragsgegnerin erteilte Arbeitserlaubnis-EU für eine Beschäftigung als Haushaltshilfe vom 19. Juli 2006 bis 18. Januar 2007 vorgelegt, die zeige, dass grundsätzlich die Möglichkeit der Erteilung einer Arbeitsgenehmigung mit der Folge eines Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bestehe. Des Weiteren hat sie vorgetragen, dass es wegen der von der Antragsgegnerin aufgestellten Wartefrist von vier Wochen zwischen dem Antrag auf Arbeitsgenehmigung und dem Arbeitsantritt nicht zu diesem gekommen sei, da der potentielle Arbeitgeber an einer Einstellung kein Interesse mehr gehabt habe. - Die Antragsgegnerin hält an ihrer Auffassung mit der Begründung fest, auch wenn der Antragstellerin eine Arbeitserlaubnis-EU erteilt werden könne, sofern bevorrechtigte Arbeitnehmer nicht zur Verfügung stünden, sei ein Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach der Gesetzesänderung zum 1. April 2006 ausgeschlossen, da sich das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe.
II.
Die Beschwerde ist begründet. Die Antragsgegnerin ist im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes zu verpflichten, der Antragstellerin Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu erbringen.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Anordnungsgrund, d.h. die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung, und Anordnungsanspruch, d.h. die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren begehrt wird, sind geltend und die zur Begründung erforderlichen Tatsachen sind glaubhaft (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]) gemacht worden. Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutze der Menschenwürde i.V.m. dem Sozialstaatsgebot folgt (BVerfGE 82, 60/80). Die Antragstellerin verfügt seit Anfang des Monats Mai 2006 über keine finanziellen Mittel mehr, und die Einkünfte aus der selbstständigen Tätigkeit ihres Ehemannes in Höhe von ungefähr 400 EUR monatlich sowie das Kindergeld genügen zur Existenzsicherung nicht. Die Gefahr, dass die Existenz der Antragstellerin zeitweise nicht gesichert wäre, begründet einen wesentlichen Nachteil i.S.d. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG. Entgegen der Auffassung von SG und Antragsgegnerin hat die Antragstellerin auch glaubhaft gemacht, dass sie erwerbsfähig ist und deshalb einen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende hat (§ 7 Abs. 1 SGB II).
Erwerbsfähig ist, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 8 Abs. 1 SGB II). IdS können Ausländer nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte (§ 8 Abs. 2 SGB II). Als Staatsangehörige eines ab dem 1. Mai 2004 der EU beigetretenen Staates genießt die Antragstellerin (noch) nicht die volle Freizügigkeit von Unionsbürgern (Art 18 und 39 des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft); die Aufnahme einer Beschäftigung steht unter dem Vorbehalt der Genehmigung durch die Antragsgegnerin (§ 13 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern, § 284 SGB Drittes Buch - Arbeitsförderung -). Danach kann der Antragstellerin die Arbeitserlaubnis-EU nach Maßgabe des § 39 Abs. 2 bis 4 und 6 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthaltsG), insbesondere wenn für die Beschäftigung vorrangig zu berücksichtigende Arbeitnehmer nicht zur Verfügung stehen, erteilt werden (§ 42 Abs. 3 SGB III). Diese Einschränkung steht der Annahme von Erwerbsfähigkeit i.S.d. § 8 Abs. 2 SGB II von vornherein jedoch nicht entgegen. Vielmehr werden Ausländer, die die sonstigen Voraussetzungen nach den §§ 7 und 8 SGB II erfüllen, sowohl mit unbeschränktem als auch mit nachrangigem Arbeitsmarktzugang erfasst (BT-Drs 15/1516, S 52 und 1749, S 31). Allerdings genügt die gesetzgeberisch eingeräumte, abstraktgenerelle Möglichkeit der Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis nicht (aA SG Dessau Beschluss vom 21. Juli 2005 - S 9 AS 386/05 ER -; s auch Valgolio in: Hauck/Noftz SGB II § 8 Rn 20, Brühl in: LPK - SGB II § 8 Rn 35 unter Hinweis auf Sieveking ZAR 2004, 283/286). Vielmehr muss Aussicht auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis bestehen (vgl Blüggel in: Eicher/Spellbrink SGB II § 8 Rn 61 f). Denn besteht keine realistische Chance auf Genehmigung einer Beschäftigung, kann das Ziel einer Integration der Leistungsempfänger in den Arbeitsmarkt (§ 1 SGB II) nicht erreicht werden (vgl Seegmüller in: Estelmann SGB II § 8 Rn 45). Dann kann nicht von einer Erwerbsfähigkeit des Ausländers i.S.d. § 8 Abs. 2 SGB II ausgegangen werden (s auch LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 13. Dezember 2005 - L 25 B 1281/05 AS ER -, vgl. Spellbrink in: Eicher/Spellbrink SGB II § 7 Rn 12).
Mit der Vorlage der ihr von der Antragsgegnerin erteilten Arbeitserlaubnis-EU für eine Beschäftigung als Haushaltshilfe hat die Antragstellerin glaubhaft gemacht, dass ihr die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt werden könnte. Demgegenüber hat die Antragsgegnerin die im Widerspruchsbescheid aufgestellte Prognose, eine Arbeitnehmertätigkeit sei "aus wirtschaftspolitischen Gründen vorerst nicht zu gestatten", nicht - auch nicht ansatzweise - untermauert und die erteilte Arbeitserlaubnis-EU belegt das Gegenteil. Daran ändert auch die anfängliche Argumentation der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren nichts, diese sei nur deshalb erteilt worden, weil der Arbeitgeber eine Arbeitnehmerin mit polnischen Sprachkenntnissen verlangt habe. Denn der Hinweis der Antragstellerin ist zutreffend und es ist allgemein bekannt, dass es (bevorrechtigte) Beschäftigte gibt, die über polnische Sprachkenntnisse verfügen. Des Weiteren wird die Entscheidung des Senats durch den Aktenvermerk der Mitarbeiterin der Antragsgegnerin vom 14. Februar 2006 gestützt, dass die Antragstellerin eine Arbeitserlaubnis erhalten könnte, und ein Anspruch auf Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende ist nach einem - unzutreffenden - Hinweis eines Mitarbeiters der Ausländerbehörde, die Aufenthaltsgenehmigung werde widerrufen, da der Lebensunterhalt der Familie nicht sichergestellt werde, verneint worden. Diese Auskunft knüpfte an § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG an, wonach die Erteilung eines Aufenthaltstitels idR voraussetzt, dass der Lebensunterhalt gesichert ist, und das auf Unionsbürger keine Anwendung findet (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Schließlich hat die Antragsgegnerin ihre ursprüngliche Auffassung aufgegeben und eingeräumt, dass der Antragstellerin eine Arbeitserlaubnis-EU erteilt werden könnte. Allerdings steht - entgegen ihren weiteren Ausführungen im Schriftsatz vom 5. September 2006 - der Glaubhaftmachung eines Anspruchs auf Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende auch nicht die am 1. April 2006 in Kraft getretene Einschränkung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II (BGBl. I S 558) entgegen.
Danach sind von den Leistungen des SGB II ausgenommen Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Ausweislich des Vorbringens im Hauptsacheverfahren (S 2 des Schriftsatzes vom 8. April 2006) und des Vermerks in dem Leistungsantrag über die Erzielung von Einkommen bis 31. Januar 2006 ist die Antragstellerin, nachdem ihr Ehemann eine selbstständige Tätigkeit aufgenommen hatte, ihm in das Bundesgebiet nachgereist und nahm eine Beschäftigung auf, die sie dann verlor. Darüber hinaus leuchtet das Beschwerdevorbringen vor dem zeitlichen Ablauf des gesamten Verfahrens ein, dass die Antragstellerin mit ihrem Ehemann davon ausgegangen ist und versucht hat, vorrangig aus den Einkünften der selbstständigen Tätigkeit des Ehemannes zu leben. Erst als dieses durch Auftragsrückgang und Verlust ihres Beschäftigungsverhältnisses nicht möglich war, hat sie Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende beantragt. Somit kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie zu dem Personenkreis gehört, der vom Bezug von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist (vgl BT-Drs 16/688 S 13).
Da die Antragstellerin seit dem Zeitpunkt des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes über keine finanziellen Rücklagen mehr verfügt, ist ihrem Begehren ab diesem Zeitpunkt zu entsprechen. Die Verpflichtung über einen Zeitraum bis 31. Oktober 2006 entspricht der gesetzlichen Regelung des § 41 Abs. 1 Satz 3 SGB II. Sollten die #Anspruchsvoraussetzungen über diesen Zeitraum hinaus vorliegen, werden weiter Leistungen zu gewähren sein. Bei Unterliegen der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren sind diese zu erstatten (§ 50 Abs. 2 SGB Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz -).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Da das Beschwerdeverfahren erfolgreich ist, hat die hilfebedürftige Antragstellerin auch einen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 ZPO).
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).