Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 07.09.2006, Az.: L 3 KA 117/06 ER

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
07.09.2006
Aktenzeichen
L 3 KA 117/06 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 43855
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2006:0907.L3KA117.06ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 04.08.2006 - AZ: S 16 KA 26/06 ER

In dem Rechtsstreit

...

hat der 3. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen

am 07. September 2006 in Celle

durch den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht Valgolio,

den Richter am Landessozialgericht Pilz und

den Richter am Landessozialgericht Goos

beschlossen:

Tenor:

  1. Auf die Beschwerden der Beigeladenen zu 1) und zu 9) wird der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 04. August 2006 geändert.

  2. Die sofortige Vollziehung der mit Beschluss des Zulassungsausschusses vom 24. August 2005 erteilten Ermächtigung des Beigeladenen zu 9) wird für die Weiterbehandlung der Versicherten angeordnet, die bis zum 11. September 2006 bei ihm ambulante Therapiemaßnahmen begonnen haben.

  3. Im Übrigen werden die Beschwerden zurückgewiesen.

  4. Die Kosten des erstinstanzlichen und des Beschwerdeverfahrens tragen Antragsteller und Beigeladener zu 9) je zur Hälfte.

  5. Die in beiden Rechtszügen entstandenen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1) tragen die Antragsteller, die des Beigeladenen zu 9) tragen die Antragsteller zur Hälfte.

  6. Im Übrigen sind außergerichtliche Kosten der Beigeladenen nicht erstattungsfähig.

GRÜNDE:

1

I.

Die Beteiligten streiten um die sofortige Vollziehung der dem Beigeladenen zu 9) erteilten Ermächtigung.

2

Die Antragsteller sind zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassene fachärztlich tätige Internisten, die in F. (Ldkrs.G.) in Gemeinschaftspraxis niedergelassen sind. Außerdem betreiben sie in H. (Ldkrs.G.) eine Zweigpraxis, die von der zu 1) beigeladenen Kassenärztlichen Vereinigung mit Bescheid vom 2. Februar 2005 genehmigt worden ist. Der Beigeladene zu 9) ist Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und internistische Onkologie und Leitender Arzt des Fachbereichs Hämatologie und Onkologie im I. in G..

3

Der Zulassungsausschuss J. für die Zulassung zur vertragsärztlichen Tätigkeit erteilte ihm mit Beschluss vom 24. August 2005 (Bescheid vom 03. November 2005) mit Wirkung ab 01. Oktober 2005 die Ermächtigung (1.) zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge bei hämatologischen/onkologischen Erkrankungen auf Überweisung von Vertragsärzten und (2.) zur Diagnose und Therapie auf sofortige Überweisung durch ermächtigte Ärzte des gleichen Krankenhauses, nur wenn dieses unmittelbar zur Abklärung eines dringlichen Befundes erforderlich ist und die Behandlung am selben Tag erfolgt (die Dringlichkeit muss im Überweisungsauftrag dokumentiert sein). Die Ermächtigung wurde u.a. auf eine Fallzahl von 400 im Quartal begrenzt. Sie wurde bis zum 30. September 2006 befristet. Außerdem ordnete der Zulassungsausschuss die sofortige Vollziehung des Beschlusses an. Zur Begründung führte er an, die beiden niedergelassenen Onkologen - d.h.: die Antragsteller - könnten die komplette Versorgung im Schwerpunkt "Hämatologie und internistische Onkologie" im gesamten Planungsbereich Landkreis Vechta zzgl. eines großen Einzugsbereichs quantitativ nicht sicherstellen. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ermächtigung liege analog § 86a Abs. 2 Nr. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im öffentlichen Interesse, weil die Versorgung der Patienten in diesem Bereich auf Grund der örtlichen Sicherstellungssituation im Planungsbereich Landkreis Vechta nur so ausreichend sichergestellt werden könne.

4

Hiergegen haben die Antragsteller am 25. November 2005 den Antragsgegner angerufen. Zur Begründung haben sie im Wesentlichen angeführt, entgegen der Auffassung des Zulassungsausschusses sei der bisher onkologisch/hämatologisch nicht ausreichend versorgte Bereich durch die Aufnahme der Zweitpraxis in H. - die nur 8 km vom Tätigkeitsort des Beigeladenen zu 9) entfernt liege - vollumfänglich durch sie abgedeckt. Eine Entscheidung des Antragsgegners liegt bisher nicht vor.

5

Am 18. Januar 2006 haben die Antragsteller bei dem Sozialgericht (SG) Hannover außerdem beantragt, die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ermächtigung des Beigeladenen zu 9) durch den Zulassungsausschuss J. aufzuheben und die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs wieder herzustellen. Zur Begründung haben sie sich zunächst erneut auf die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Beschlusses berufen. Der Zulassungsausschuss habe darüber hinaus nicht das Recht, den Sofortvollzug anzuordnen. Eine solche Anordnung komme ohnehin nur dann in Betracht, wenn dies im öffentlichen Interesse liege; dies sei vom Zulassungsausschuss lediglich behauptet, nicht aber dargelegt oder bewiesen worden.

6

Der Beigeladene zu 9) hat erstinstanzlich beantragt, den Antrag der Antragsteller abzulehnen, hilfsweise die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Zulassungsausschusses J. bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem Antragsgegner anzuordnen. Entgegen der Auffassung der Antragsteller sei der Zulassungsausschuss berechtigt gewesen, die sofortige Vollziehung seines Beschlusses anzuordnen. Die Anordnung sei auch formell und sachlich richtig ergangen. Insbesondere habe der Zulassungsausschuss die durch die Genehmigung der Zweitpraxis in H. geänderte Versorgungssituation im Landkreis G. bedacht und durch die Fallzahlbegrenzung auf 400 pro Quartal sichergestellt, dass er nunmehr in geringerem Umfang vertragsärztlich tätig und eine Ausweitung der Ermächtigung durch den im Landkreis G. zu verzeichnenden Zuwachs an onkologisch erkrankten Patienten ausgeschlossen sei. Es liege auch ein Vollzugsinteresse vor, das in der Verhinderung einer quantitativen Versorgungslücke mit vertragsärztlichen Leistungen für onkologisch erkrankte Patienten zu sehen sei. Dies begründe auch den hilfsweise gestellten Anspruch auf gerichtliche Anordnung der sofortigen Vollziehung.

7

Die Beigeladene zu 1) hat vor dem SG beantragt, die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Zulassungsausschusses anzuordnen und zur Begründung darauf hingewiesen, dass übergangsweise eine große Anzahl von onkologisch erkrankten gesetzlich Versicherten vertragsärztlich weiter versorgt werden müsse.

8

Der Antragsgegner hat sich erstinstanzlich dem Antrag der Beigeladenen zu 1) angeschlossen.

9

Mit Beschluss vom 04. August 2006 hat das SG die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ermächtigung des Beigeladenen zu 9) aufgehoben. Der Zulassungsausschuss sei nicht berechtigt gewesen, die sofortige Vollziehung seines Beschlusses anzuordnen. Aus dem Regelungszusammenhang des § 96 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) und des § 97 Abs. 4 SGB V ergebe sich, dass allein der Antragsgegner das Recht zur Anordnung der sofortigen Vollziehung in Anspruch nehmen könne, denn § 96 Abs. 4 Satz 2 SGB V regele ausdrücklich, dass die Anrufung des Berufungsausschusses aufschiebende Wirkung habe und dass dieser die sofortige Vollziehung seiner Entscheidung im öffentlichen Interesse anordnen könne. Wenn für den Zulassungsausschuss eine entsprechende gesetzlich zugewiesene Befugnis fehle, sei hieraus zu folgern, dass er zur Anordnung des sofortigen Vollzugs seiner Entscheidungen nicht befugt sei.

10

Gegen diese ihnen am 09. August 2006 zugestellte Entscheidung haben der Beigeladene zu 9) (am 10. August 2006) und die Beigeladene zu 1) (am 16. August 2006) Beschwerde eingelegt, der das SG jeweils nicht abgeholfen hat.

11

Nach Auffassung des Beigeladenen zu 9) stehe dem Zulassungsausschuss entgegen der im Beschluss vom 04. August 2006 vertretenen Auffassung die Kompetenz zur Anordnung der sofortigen Vollziehung seiner Entscheidungen auf Grundlage des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG zu. Diese Regelung werde weder durch § 96 Abs. 4 Satz 2 SGB V noch durch § 97 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen. Versagte man dem Zulassungsausschuss die Kompetenz zur Anordnung des Sofortvollzugs, wäre dieser gezwungen, eine Versorgungslücke in Kauf zu nehmen oder darauf zu vertrauen, dass der ermächtigte Arzt das SG anrufe und die Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 86b Abs. 1 Nr. 1 SGG beantrage. Dies sei mit dem Sicherstellungsauftrag gemäß § 72 Abs. 1 und 2 SGB V nicht zu vereinbaren. Zumindest sei aus den bereits erstinstanzlich angeführten Gründen die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Zulassungsausschusses gerichtlich anzuordnen.

12

Der Beigeladene zu 9) beantragt sinngemäß,

  1. den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 04. August 2006 aufzuheben und den Antrag der Antragsteller abzulehnen,

  2. hilfsweise: die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Zulassungsausschusses Oldenburg für die Zulassung zur vertragsärztlichen Tätigkeit vom 24. August 2005 bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem Antragsgegner anzuordnen.

13

Die Beigeladene zu 1) rügt, dass über ihren erstinstanzlich gestellten Antrag im angefochtenen Beschluss keine Entscheidung getroffen worden sei.

14

Sie beantragt sinngemäß,

  1. den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 04. August 2006 zu ändern und die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Zulassungsausschusses anzuordnen.

15

Die Antragsteller beantragen,

  1. die Beschwerde zurückzuweisen.

16

Sie widersprechen der zum Hilfsantrag geäußerten Ansicht des Beigeladenen zu 9), ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung liege vor.

17

Der Antragsgegner geht davon aus, dass die Anträge der Antragsteller und der beiden Beigeladenen nur in einem einheitlichen, jetzt beim Landessozialgericht (LSG) anhängigen Verfahren beschieden werden könnten. Dem Beigeladenen zu 9) sei mit Beschluss vom 23. August 2006 für die Zeit ab 01. Oktober 2006 eine Ermächtigung zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge bei hämatologischen/onkologischen Erkrankungen auf Überweisung von niedergelassenen Hämatologen/Onkologen und niedergelassenen Strahlentherapeuten sowie zur Beendigung der bis zum 31. August 2006 begonnenen ambulanten Therapien (insbesondere ambulanten Chemotherapien bei Patienten, die auf Grund der bis dahin geltenden Ermächtigung bereits laufend behandelt würden) erteilt worden. Da davon auszugehen sei, dass der Antragsgegner entsprechend auch für den vorliegend streitigen Ermächtigungszeitraum bis 30. September 2006 entscheiden werde, beantrage er daher, "im Rahmen des laufenden Beschwerdeverfahrens die bis zum 30.09.2006 währende derzeitige Ermächtigung ebenfalls entsprechend neu zu fassen".

18

Die übrigen Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt.

Gründe

19

II.

Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist zunächst die Frage, ob der Zulassungsausschuss in seinem Beschluss vom 24. August 2005 zu Recht die sofortige Vollziehung seiner Entscheidung angeordnet hat, den Beigeladenen zu 9) bis zum 30. September 2006 nach näherer Maßgabe des genannten Beschlusses gemäß § 116 SGB V und § 31a der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) zu ermächtigen. Darüber hinaus hat der Senat auch über den Hilfsantrag des Beigeladenen zu 9) und den Antrag der Beigeladenen zu 1) zu befinden, die sofortige Vollziehung dieser Ermächtigung gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG anzuordnen. Ausweislich des angefochtenen Beschlusses hat das SG hierüber zwar nicht entschieden, obwohl es sich hierzu hätte veranlasst sehen müssen, nachdem es die vom Zulassungsausschuss getroffene Anordnung der sofortigen Vollziehung aufgehoben hatte. Grundsätzlich bleiben derartige Anträge Gegenstand des erstinstanzlichen (Rest-)Verfahrens und der unvollständige Beschluss ist in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 1 SGG (Meyer-Ladewig in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl., § 142 Rd. Nr. 3a) auf Antrag nachträglich zu ergänzen. Abweichend hiervon wird der übergangene Anspruch jedoch Gegenstand des Beschwerdeverfahrens, wenn dem alle Beteiligten zustimmen (vgl. BGH NJW 1986, 2108, 2112 [BGH 25.03.1986 - IX ZR 104/85]; Meyer-Ladewig a.a.O., § 140 Rd. Nr. 2a).

20

Ein derartiger Fall liegt hier vor. Denn die Beigeladenen zu 1) und zu 9) verfolgen ihre Anträge gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG im Beschwerdeverfahren ausdrücklich weiter. Die Antragsteller nehmen zu dem entsprechenden Antrag des Beigeladenen zu 9) in ihrer Beschwerdeerwiderung vom 30. August 2006 inhaltlich Stellung, so dass von ihrem Einverständnis mit der Entscheidung durch den Senat ausgegangen werden muss. Schließlich hat auch der Antragsgegner in seinem Schriftsatz vom 01. September 2006 die Erforderlichkeit einer einheitlichen Entscheidung in der Beschwerdeinstanz betont. Da sich die übrigen Beigeladenen im gesamten bisherigen Verfahren zur Sache nicht geäußert haben, ist im vorliegenden Zusammenhang ebenfalls von ihrem Einverständnis auszugehen.

21

Die auf diese Anträge bezogenen Beschwerden sind zulässig. Dies gilt auch für die Beschwerde der Beigeladenen zu 1), die durch die Nichtberücksichtigung ihres Hilfsantrages im erstinstanzlichen Verfahren beschwert ist; als für die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung zuständige Körperschaft (§ 75 Abs. 1 Satz 1 SGB V) war sie zur Stellung eines derartigen Antrags befugt (vgl. BSG SozR 3-2500 § 119 Nr. 1).

22

Die Beschwerden sind jedoch nur zum Teil begründet.

23

Zutreffend hat das SG in seinem Beschluss vom 04. August 2006 erkannt, dass der Zulassungsausschuss nicht die sofortige Vollziehung seiner Entscheidung anordnen konnte. Wie der Senat bereits entschieden hat (Beschluss vom 20. September 2005 - L 3 KA 92/05 ER ), ergibt sich eine derartige Befugnis nicht aus § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG, weil das Verfahren vor den Zulassungsgremien abschließend in den §§ 96 und 97 SGB V geregelt ist. Wenn in § 96 Abs. 4 Satz 2 SGB V ausdrücklich bestimmt ist, dass die Anrufung des Berufungsausschusses aufschiebende Wirkung hat und in § 97 Abs. 4 SGB V weiterhin geregelt ist, dass der Berufungsausschuss die sofortige Vollziehung seiner Entscheidung im öffentlichen Interesse anordnen kann, lässt dies nur den Schluss darauf zu, dass in dem zweistufig verfassten besonderen Verwaltungsverfahren in Zulassungssachen allein dem Berufungsausschuss das Recht zur Anordnung der sofortigen Vollziehung vorbehalten ist. Hieran hat sich auch durch die Neugestaltung des einstweiligen Rechtsschutzes im sozialgerichtlichen Verfahren durch das 6. SGG-Änderungsgesetz vom 17. August 2001 (BGBl. I 2144) nichts geändert. Denn im Zuge der Einführung der §§ 86a, 86b SGG sind die in Rede stehenden Vorschriften der §§ 96 Abs. 4, 97 Abs. 4 SGB V nicht angepasst worden. Zudem ist § 96 SGB V später - durch Gesetz vom 14. November 2003 (BGBl. 2190) - noch einmal geändert worden, ohne dass die Vorschriften der §§ 96 oder 97 SGB V im Hinblick auf die Frage der Zuständigkeit zur Anordnung der sofortigen Vollziehung modifiziert worden wären. Daraus kann nur der Schluss gezogen werden, dass es der Gesetzgeber bei der bisherigen Rechtslage und damit bei der ausschließlichen Berechtigung des Berufungsausschusses zur Anordnung der sofortigen Vollziehung belassen wollte (Senatsbeschluss vom 20. September 2005 a.a.O.; LSG Nordrhein-Westfalen MedR 2003, 310, 311).

24

Die Beschränkung der Anordnung der sofortigen Vollziehung im Verwaltungsverfahren ist schließlich auch sachlich gerechtfertigt. Denn diese Entscheidung wird häufig im Zusammenhang mit der Entziehung der vertrags(zahn)ärztlichen Zulassung wegen gröblicher Pflichtverletzungen relevant werden. Da in diesem Zusammenhang bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung Fragen berührt werden, die für den betroffenen Vertrags(zahn)arzt von existenzieller Bedeutung sind, ist es nachvollziehbar, dass der Gesetzgeber die Kompetenz zur Anordnung der sofortigen Vollziehung allein der zweiten Instanz in Zulassungssachen zubilligen wollte, die von einem Vorsitzenden mit der Befähigung zum Richteramt geleitet wird und damit vorrangig zur Beurteilung schwieriger Rechtsfragen qualifiziert ist (vgl. Hencke in: Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Lsbl. - Stand: Februar 2006 -, § 96 SGB V Rd. Nr. 19).

25

Die Beschwerde der Beigeladenen zu 1) und zu 9) hatten dagegen insoweit Erfolg, als der Senat selbst die sofortige Vollziehung der Entscheidung des Zulassungsausschusses, den Beigeladenen zu 9) gemäß §§ 116 SGB V, 31a Ärzte-ZV zu ermächtigen, in begrenztem Umfang angeordnet hat.

26

Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben - was hier wegen § 96 Abs. 4 Satz 2 SGB V zu bejahen ist -, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen. Über den Antrag hat das Gericht nach Ermessen zu entscheiden, wobei es die gegenläufigen Interessen der ermächtigten Beigeladenen zu 9) und der durch die Ermächtigung belasteten, als Vertragsärzte niedergelassenen Antragsteller (zu deren rechtlich geschützten Interessen vgl. BVerfG SozR 4-1500 § 54 Nr. 4) abzuwägen hat. Darüber hinaus ist auch das öffentliche Interesse an der Sofortvollziehung der Ermächtigung zu berücksichtigen (vgl. BVerfG SozR 3-1500 § 97 Nr. 5).

27

Diesem öffentlichen Interesse kommt vorliegend entscheidende Bedeutung zu. Wie die Beigeladene zu 1) (unwidersprochen) in ihrem Schriftsatz vom 31. Januar 2006 dargelegt hat, hat der Beigeladene zu 9) bisher onkologisch erkrankte Versicherte in großer Zahl behandelt. Im Quartal III/2005 waren dies insgesamt 519 Fälle, wobei in 337 Fällen die Ziffer 13 500 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen (EBM) abgerechnet worden ist, mit der die Behandlung einer primär (u.a.) hämatologischen und/oder onkologischen Systemerkrankung vergütet wird. Der Senat teilt die Einschätzung der Beigeladenen zu 1), dass in derartigen Fällen die kontinuierliche Weiterbehandlung der schwer erkrankten Patienten beim bisherigen Arzt gesichert werden muss. Dies gilt schon deshalb, weil die Behandlung ausweislich des obligaten Leistungsinhalts der EBM-Ziffer 13 500 nach einem krankheitsspezifischen Therapiekonzept unter Berücksichtigung individueller Faktoren durchgeführt wird. Ein Behandlerwechsel könnte deshalb dazu führen, dass es zu medizinisch nicht erwünschten Irritationen bei den Erkrankten kommen könnte, weil das Therapiekonzept u.U. nicht nahtlos weitergeführt und die Vertrauensbeziehung zum bisherigen Behandler unterbrochen wird.

28

In vergleichbaren Fällen (betreffend die Fortsetzung psychotherapeutischer Behandlungen) hat der Senat bereits entschieden, dass dem bisherigen Behandler im Wege vorläufigen Rechtsschutzes eine Auslauffrist zur Beendigung bereits begonnener Therapien eingeräumt werden kann (Beschlüsse vom 16. November 2004 - L 3 KA 238/04 ER und L 3 KA 250/04 ER). Hierfür spricht, dass bereits nach der Rechtsprechung des BSG ( MedR 2003, 359, 364 [BSG 11.09.2002 - B 6 KA 41/01 R]) der Schutz der Gesundheit der behandelten Patienten für die Einräumung einer Auslauffrist sprechen kann. Dem diesbezüglichen Schutz der Grundrechte der Versicherten gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) kommt schließlich auch nach der Rechtsprechung des BVerfG bei der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gesteigerte Bedeutung zu (vgl. BVerfG NJW 2003, 1236 [BVerfG 22.11.2002 - 1 BvR 1586/02]f).

29

Dem Interesse der Antragsteller an der Wahrung des Vorrangs der vertragsärztlichen Versorgung durch niedergelassene Ärzte und dem damit verbundenen Vergütungsinteresse kommt demgegenüber im vorliegenden Fall nur nachrangige Bedeutung zu. Dies gilt umso mehr, als hier ohnehin nur noch ein kurzer Zeitraum streitbefangen ist, bis die gegenwärtige Ermächtigung des Beigeladenen zu 9) - mit dem 30. September 2006 - ausläuft.

30

Das genannte Interesse an der Wahrung einer Auslauffrist für bereits begonnene Behandlungen rechtfertigt jedoch nicht die Anordnung der Sofortvollziehung für die nach dem voraussichtlichen Zeitpunkt ihres Wirksamwerdens erst beginnenden Therapien. Diesbezüglich ist zu berücksichtigen, dass der Zulassungsausschuss die Ermächtigung nach der Mitteilung des Antragsgegners mit Wirkung vom 01. Oktober 2006 weitergehend in der Weise beschränken will, dass Diagnostik, Therapie und Nachsorge bei hämatologischen/onkologischen Erkrankungen nunmehr nur noch auf Überweisung von niedergelassenen Hämatologen/Onkologen und niedergelassenen Strahlentherapeuten zulässig sein soll. Die in den Entscheidungen des Zulassungsausschusses zum Ausdruck kommende Strategie, den Ermächtigungsumfang angesichts der mittlerweile in Lohne eröffnete Zweitpraxis der Antragsteller schrittweise zu verringern, erscheint auch plausibel. Der Senat hat deshalb davon abgesehen, die sofortige Vollziehung der bisherigen Ermächtigung auch auf Behandlungen zu erstrecken, die nach dem 11. September 2006 beginnen.

31

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1 bis 3 und 155 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Dabei war zu berücksichtigen, dass die Antragsteller mit ihrem Ziel Erfolg hatten, die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch den Zulassungsausschuss aufzuheben, während sie durch die (weitgehende) Anordnung der sofortigen Vollziehung durch den Senat im Ergebnis unterlegen sind. Umgekehrt hat der Beigeladene zu 9) in Hinblick hierauf weitgehend obsiegt, während er dem Antrag der Antragsteller erfolglos entgegengetreten ist.

32

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen ergibt sich aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 162 Abs. 3 VwGO. Maßgeblich hierfür war, dass die Beigeladene zu 1) mit ihrem Antrag weitgehend Erfolg hatte, während der Beigeladene zu 9) - wie dargelegt - nur mit seinem Hilfsantrag (weitgehend), nicht jedoch mit seinem Hauptantrag Erfolg hatte.

Streitwertbeschluss:

Die Streitwertfestsetzung bleibt einem besondern Beschluss vorbehalten.

Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).

Valgolio
Pilz
Goos