Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 01.09.2006, Az.: L 8 AS 315/06 ER

Pflicht zur Rechtsfolgenbelehrung bei Beschäftigungsangeboten ; Sanktionen bei Nichtnachkommen der Aufforderung zur Vorlage einer aussagekräftigen Bewerbung ; Rechtsfolgenbelehrungspflicht gegenüber jugendlichen Hilfebedürftigen; Zeitliches Verhältnis zwischen Rechtsfolgenbelehrung und Pflichtverletzung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
01.09.2006
Aktenzeichen
L 8 AS 315/06 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 26531
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2006:0901.L8AS315.06ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 03.05.2006 - AZ: S 21 AS 582/06 ER

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 3. Mai 2006 aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. April 2006 wird angeordnet. Die Antragsgegnerin wird darüber hinaus im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig - unter dem Vorbehalt der Rückforderung - die absenkungsbedingt einbehaltenen Leistungen für die Monate Juni und Juli 2006 auszuzahlen. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.

Gründe

1

Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Hannover vom 3. Mai 2006 ist begründet. In diesem Beschluss hat das SG zu Unrecht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, weil die Antragstellerin sich trotz Belehrung über die Rechtsfolgen geweigert hatte, die in der Eingliederungsvereinbarung vom 16. September 2005 festgelegten Pflichten zu erfüllen. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Sanktionen des § 31 Abs. 5 Zweites Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) zu Recht mit dem angefochtenen Bescheid vom 20. April 2006 festgesetzt wurden.

2

Nach der im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes durchzuführenden summarischen Prüfung ergibt sich, dass der Bescheid vom 20. April 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Mai 2006, gegen den fristgemäß Klage erhoben wurde (S 21 AS 822/06), rechtswidrig sein dürfte. Damit liegen die Voraussetzungen für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG vor - dies betrifft die noch vom Bewilligungsbescheid vom 7. Dezember 2005 erfassten Leistungen für den Monat Mai 2006; für die Monate Juni und Juli 2006 ist die einstweilige Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG einschlägig. Die näheren Gründe für die Aufteilung in Anträge nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG (Mai 2006) und nach § 86b Abs. 2 SGG (Juni und Juli 2006) sowie die Voraussetzungen dieser Vorschriften hat das SG in seinem Beschluss zutreffend dargelegt, auf diese Ausführungen wird gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG verwiesen.

3

Zwar geht der Senat mit dem SG und der Antragsgegnerin davon aus, dass die Antragstellerin ohne wichtigen Grund der Aufforderung der Antragsgegnerin nicht nachgekommen ist, bis zum 15. März 2006, 13:00 Uhr, eine aussagekräftige Bewerbung vorzulegen und ein Vorstellungsgespräch für einen Praktikumsplatz in D. mit der Option einer Festanstellung in Vollzeit wahrzunehmen. Auf die entsprechenden Ausführungen des SG wird gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG Bezug genommen. Ob es sich dabei, wie von der Antragsgegnerin und vom SG angenommen, um den Tatbestand des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b (Weigerung, in der Eingliederungsvereinbarung festgelegte Pflichten zu erfüllen) oder Nr. 1 c SGB II (Weigerung, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung oder Arbeitsgelegenheit aufzunehmen) handelt, kann offen bleiben. Denn die Rechtsfolgenbelehrung aus der Eingliederungsvereinbarung, die laut Angaben der Antragsgegnerin am 16. September 2005 von Antragsgegnerin und Antragstellerin unterschrieben worden sein soll, ohne dass sich dies aus den vorgelegten Unterlagen ergibt, erfüllt nicht die gesetzlichen Anforderungen nach § 31 Abs. 5 Satz 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II.

4

§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II setzt für die Absenkung des Arbeitslosengeldes II (Alg II) voraus, dass der erwerbsfähige Hilfebedürftige sich trotz Belehrung über die Rechtsfolgen weigert, die nachfolgend unter den Buchstaben a bis d aufgelisteten Pflichten zu erfüllen. § 31 Abs. 5 Satz 3 SGB II verlangt, dass der erwerbsfähige Hilfebedürftige, der das 15., jedoch noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat, vorher über die Rechtsfolgen nach den Sätzen 1 und 2 des § 31 Abs. 5 SGB II zu belehren ist. Darin ist festgelegt, dass das Alg II unter den in den Absätzen 1 und 4 genannten Voraussetzungen auf die Leistungen nach § 22 beschränkt wird; die nach § 22 Abs. 1 angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung sollen an den Vermieter gezahlt werden. Daneben soll der Hilfebedürftige Sachleistungen erhalten.

5

Die Rechtsfolgenbelehrungspflicht in § 31 Abs. 5 Satz 3 SGB II verlangt keine gesonderte, von den in Abs. 1 vorgeschriebenen Belehrungen abgesetzte Belehrung, sondern bestimmt (zusätzlich) deren Inhalt. Dem jugendlichen Hilfebedürftigen sind die besonderen, für ihn verschärften Rechtsfolgen des Abs. 5 - Streichung der Regelleistung anstelle der in Absatz 1 festgelegten Absenkung um 30 Prozent - konkret, eindeutig, verständlich, verbindlich und rechtlich zutreffend vor Augen zu führen, und zwar "vorher", also vor der Pflichtverletzung (Beschluss des Senates vom 27. Oktober 2005 - L 8 B 140/05 AS -; Berlit in Lehr- und Praxiskommentar zum Sozialgesetzbuch II - LPK - SGB II -, § 31 Rdnr 112). Die Rechtsfolgenbelehrung als Voraussetzung der Absenkung bzw. des Wegfalls des Arbeitslosengeldes II hat Warn- und Erziehungsfunktion. Sie darf sich nicht in einer bloßen Formalie oder der formelhaften Wiederholung des Gesetzestextes in einem allgemeinen Merkblatt erschöpfen (LSG a.a.O..; Berlit, LPK - SGB II, § 31 Rdnr 61). Mag die Rechtsfolgenbelehrung in der bis zum 17. März 2006 geltenden Eingliederungsvereinbarung vom 16. September 2005 den inhaltlichen Anforderungen noch genügen, so steht sie nicht in dem nötigen engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der der Antragstellerin am 14. bzw. 15. März 2006 vorgeworfenen Obliegenheitsverletzung. Dies wäre Voraussetzung dafür, dass die Rechtsfolgenbelehrung ihre Warn- und Erziehungsfunktion erfüllen kann.

6

Gerade in den Fällen des § 31 Abs. 5 SGB II muss die Rechtsfolgenbelehrung der Pflichtverletzung und der Absenkung zeitnah vorangehen. Sie kann erst recht nicht durch eine nachträgliche Erläuterung der Gründe für eine Absenkung ersetzt oder geheilt werden, wie sie hier im Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 2006 erfolgt ist. Ebenfalls nicht hinreichend sind - wie hier - in der Vergangenheit erteilte Belehrungen, wenn der erforderliche enge zeitliche Zusammenhang nicht mehr besteht. Bei konkreten Beschäftigungsangeboten hat für jedes einzelne Arbeitsplatzangebot eine gesonderte, wirksame Belehrung zu erfolgen, und zwar bevor der Hilfebedürftige Kontakt mit dem Arbeitgeber aufnimmt und Gelegenheit hat, das Beschäftigungsangebot abzulehnen (Berlit, LPK - SGB II, § 31 Rdnr 63).

7

Es ist weder von der Antragsgegnerin vorgetragen noch aus den vorgelegten Unterlagen ersichtlich, dass die Antragstellerin im Zusammenhang mit dem ihr am 14. März 2006 angetragenen Stellenangebot über die Rechtsfolgen belehrt worden ist, die ihr für den Fall drohen, dass sie der Aufforderung der Antragsgegnerin ohne wichtigen Grund nicht Folge leistet. Ein Rückgriff auf die Rechtsfolgenbelehrung der Eingliederungsvereinbarung ist mangels zeitlicher Nähe nicht möglich. Da eine ordnungsgemäße Belehrung nicht vorliegt, sind die Voraussetzungen einer Absenkung der Regelleistung nicht erfüllt.

8

Keiner näheren Erörterung bedarf deshalb, ob der Bescheid vom 20. April 2006 an einem Begründungsmangel (vgl. § 35 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) leidet, oder ob ein derartiger Mangel durch den Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 2006 geheilt worden ist, § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X. Die Begründung des Bescheides vom 20. April 2006 ("Sie haben trotz Belehrung über die Rechtsfolgen die in der am 16. September 2005 abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflichten nicht erfüllt.") dürfte jedenfalls nicht die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe enthalten, die die Antragsgegnerin zu ihrer Entscheidung bewogen hat (vgl. § 35 Abs. 1 Satz 2 SGB X).

9

Der Senat weist vorsorglich darauf hin, dass die Antragsgegnerin aufgrund der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs verpflichtet ist, der Antragstellerin die einbehaltenen Leistungen für den Monat Mai 2006 auszukehren.

10

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

11

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).