Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 27.08.2004, Az.: 2 A 54/04

Asylberechtigter; Baath-Partei; Flüchtlingseigenschaft; herausgehobene; Irak; Kurden; Oppositioneller; unzumutbar; Verfolgungsschicksal; Widerruf

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
27.08.2004
Aktenzeichen
2 A 54/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 50740
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Einzelfall des Absehens von einem Widerruf gemäß § 73 Abs. 1 Satz 3.

Tatbestand:

1

Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit und lebte vor seiner Ausreise zuletzt in O.. Er reiste gemeinsam mit drei seiner Kinder Anfang August 2002 nach Zwischenaufenthalten in der Türkei und Bosnien Herzegowina mit einem Visum in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier einen Asylantrag. In Bosnien-Herzegowina stellte der Hohe Flüchtlingskommissar unter dem 27. November 2001 die Flüchtlingseigenschaft des Klägers nach der Genfer Flüchtlingskonvention fest. Die Ehefrau des Klägers war mit weiteren drei Kindern bereits im März 2001 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, nachdem die Familie während ihrer Flucht in der Türkei getrennt worden war. Zur Begründung seines Asylantrags gab er im Wesentlichen an, er sei Mitglied des Irakischen Nationalkongresses (INC) gewesen, habe sich geweigert, am Golfkrieg gegen Kuwait teilzunehmen und habe 1991 zu den Mitgliedern des sogenannten Kerbalaaufstandes gehört. Er sei deshalb 1991 in den Nordirak geflüchtet, wohin seine übrige Familie 1992 gefolgt sei. Bis 1996 sei er Mitglied des Militärausschusses des Irakischen Nationalkongresses gewesen zu sein. Bis 1999 habe die Familie dort gelebt, dann aber Probleme mit den kurdischen Parteien bekommen und Anschläge des irakischen Geheimdienstes befürchtet. Den Nordirak habe er verlassen müssen, weil das dortige INC-büro geschlossen worden sei und ihm die Ausweisung gedroht habe. Sie seien dann zunächst in die Türkei geflohen, wo sie jedoch aufgefordert worden seien auszureisen. Deshalb sei er in die Bundesrepublik gekommen.

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Mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 15. August 2002 wurde der Kläger als Asylberechtigter anerkannt. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG in seinem Fall vorliegen.

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Mit Bescheid vom 26. Januar 2004 widerrief die Beklagte nach vorheriger Anhörung die Anerkennung als Asylberechtigter sowie die Feststellung, dass im Fall des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorlägen und stellte fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Zur Begründung gab die Beklagte an, das Verfolgerregime des Saddam Hussein sei gestürzt worden und die Staatsgewalt ginge faktisch vom US-Militär aus. Auch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG lägen nicht vor.

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Hiergegen hat der Kläger am 6. Februar 2004 Klage erhoben.

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Zu deren Begründung trägt er vor, auch nach dem Sturz von Saddam Hussein bestehe für ihn noch eine Verfolgungsgefahr. Die Besatzungstruppen könnten die Sicherheit der Zivilbevölkerung nicht garantieren und insbesondere Frauen seien stark gefährdet. Es habe keine grundlegende Änderung der Verhältnisse im Irak stattgefunden, was aber Voraussetzung für den Widerrufsbescheid wäre. Auf seinen Kopf sei seinerzeit wegen der Beteiligung am Kerbalaaufstand eine Belohnung ausgesetzt worden, weshalb er auch aktuell noch bedroht sei. Schließlich lägen die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG im Fall des Klägers vor. Er sei wegen der früher drohenden Verfolgung und der ihm im Falle einer Rückkehr in den Irak erneut drohenden Verfolgung oder Tötung durch Anhänger des ehemaligen Regimes erheblich psychisch belastet. Ausweislich des ärztlichen Attestes der Dr. P. Q. leidet der Kläger an schweren Depressionen, Angstzuständen und Schlafstörung.

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Der Kläger beantragt,

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den Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 2004 aufzuheben,

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hilfsweise,

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die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des angefochtenen Bescheides zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Der beteiligte Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten äußert sich nicht zur Sache und stellt keinen Antrag.

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Der Kläger ist in mündlicher Verhandlung informatorisch angehört worden. Wegen der Einzelheiten seiner Einlassung wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, die Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie die Ausländerakten des Landkreises R. Bezug genommen. Diese Unterlagen sind ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen, wie die aus der den Beteiligten mit der Ladung übersandten Liste ersichtlichen Erkenntnismittel.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 2004 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

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Allerdings sind die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Widerruf der Rechtsstellung des Klägers wie sie mit Bescheid der Beklagten vom 15. August 2002 begründet worden ist nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erfüllt. Nach dieser Vorschrift ist diese Rechtsposition unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist hier der Fall.

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Die Vorschrift ist verfassungsrechtlich unbedenklich, denn sowohl das Asylgrundrecht als auch die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft verleihen anders als die Menschenrechte, die dem Individuum Zeit seines Lebens zustehen, seinem Träger keinen unveränderbaren Status. Vielmehr ist der Bestand dieser Rechtspositionen von der Fortdauer der das Asylrecht bzw. die Flüchtlingseigenschaft begründenden Umstände abhängig. Zu ihnen zählt vor allem die Verfolgungsgefahr (BVerwG, Urteil vom 24.11.1992 -9 C 3.92-, Buchholz 402.25, § 73 AsylVfG 1992 Nr. 1, Seite 2).

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Der Gesetzgeber hatte ausweislich des Gesetzentwurfs der Fraktionen der SPD und FDP bei Schaffung des § 16 Abs. 1 AsylVfG 1982, der insoweit im wesentlichen gleich lautenden Vorgängervorschrift des heutigen § 73 Abs. 1 AsylVfG, vor allem den Fall als Widerrufsgrund vor Augen, dass „in dem Verfolgungsland ein Wechsel des politischen Systems eingetreten ist, so dass eine weitere Verfolgung nicht mehr zu befürchten ist“ (BT-Ds. 9/875, Seite 18). Deshalb wird in der von der Kammer geteilten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Voraussetzung des Widerrufs gemacht, dass sich die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse nach Ergehen des bestandskräftigen Anerkennungsbescheides bzw. nach Erlass des das Bundesamt entsprechend verpflichtenden verwaltungsgerichtlichen Urteils erheblich geändert haben und die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 51 Abs. 1 AuslG deswegen nunmehr ausgeschlossen ist (BVerwG, Urteil vom 19.9.2000 -9 C 12.00-, BVerwGE 112, 80, 84; Urteil vom 8.5.2003 -1 C 15.02-, NVwZ 2004, 113, 114). Der Widerrufstatbestand ist erfüllt, wenn eine Wiederholung der Verfolgungsmaßnahmen wegen zwischenzeitlicher Veränderung im Verfolgerstaat mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann (BVerwG, Urteil vom 24.11.1992, a.a.O., Seite 3).

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Der so bestimmte Regelungsgehalt des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG stimmt mit dem Inhalt der sog. “Beendigungsklausel“ des Art. 1 C Ziffer 5 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951 (BGBl 1953 II Seite 560 -Genfer Flüchtlingskonvention- GFK) überein. Diese Bestimmung der GFK besagt, dass ein Flüchtling im Sinne des Abkommens nicht mehr unter dieses Abkommen fällt, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Die GFK schreibt damit weder vor, wie die Flüchtlingseigenschaft festzustellen ist, noch trifft sie Regelungen über den Widerruf des förmlich zuerkannten Flüchtlingsstatus (OVG Münster, Beschluss vom 4.12.2003 -8 A 3766/03.A-, EZAR 214 Nr. 16). Die “Beendigungsklausel“ in Art 1 C Ziffer 5 GFK beruht ebenso wie § 73 Abs. 1 AsylVfG auf der Überlegung, dass in Anbetracht von Veränderungen in dem Land, im Verhältnis zu dem die Furcht vor Verfolgung bestanden hatte, ein internationaler Schutz nicht mehr gerechtfertigt ist, da die Gründe, die dazu führten, dass eine Person ein Flüchtling wurde, nicht mehr bestehen (vgl. zum Ganzen mit Nachweisen, VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.3.2004 -A 6 S 219/04-, AuAS 2004, 142). Art 1 C Ziffer 5 GFK stellt auch keine weitergehenden Anforderungen an den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft als § 73 Abs. 1 AsylVfG. Dies zum einen schon deshalb nicht, weil die GFK keine Regelungen über den Widerruf des Flüchtlingsstatus trifft. Selbst wenn man andererseits aus dieser Vorschrift ableiten wollte, dass für den Wegfall der Rechtsposition als Flüchtling Voraussetzung ist, dass sich die “Umstände“ auf grundlegende, nicht nur vorübergehende, d.h. stabile Veränderungen im Verfolgerstaat beziehen müssen, besteht zu der vom Bundesverwaltungsgericht gefundenen und von der Kammer geteilten Rechtsauffassung kein inhaltlicher Unterscheid zu § 73 Abs. 1 AsylVfG. Denn nach der zitierten Rechtsprechung setzt der Widerruf im Sinne von § 73 Abs. 1 AsylVfG voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Verfolgerstaat so einschneidend und dauerhaft geändert haben, dass der Betroffene ohne Verfolgungsfurcht heimkehren kann.

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Eine derart grundlegende Veränderung der Verfolgungssituation ist im Irak eingetreten.

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Die Kammer schließt sich in ständiger Rechtsprechung (vgl. nur Urteil vom 14. Juli 2004 -2 A 77/04-) der überzeugenden Rechtsprechung des zuständigen Fachsenats des Nds. Oberverwaltungsgerichts an, der in seinem Beschluss vom 30.03.2004 -9 LB 5/03- ( AuAS 04, 153) ausgeführt hat:

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„Dem Kläger droht bei seiner Rückkehr in den Irak weder derzeit noch in absehbarer Zeit eine im Rahmen von Art. 16 a GG bzw. des § 51 Abs. 1 AuslG beachtliche politische Verfolgung. Dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. November 2003 ist mit großer, ja mit völliger Eindeutigkeit zu entnehmen, dass sich die politische Lage im Irak durch die am 20. März 2003 begonnene und am 1. Mai 2003 durch die Erklärung des US-Präsidenten Bush als beendet erklärte Militäraktion grundlegend verändert hat. Die Baath-Regierung unter der Führung Saddam Husseins hat, namentlich nach der Festnahme von Saddam Hussein im Dezember 2003, ihre politische und militärische Herrschaft über den Irak vollständig verloren. Der Irak steht nunmehr unter Besatzungsrecht und wird derzeit von einer „Zivilverwaltung“ der Koalition („Coalition Provisional Authority“- CPA) unter dem Sondergesandten des US-Präsidenten, Paul Bremer, sowie einem provisorischen Regierungsrat („Governing Council“) und einem Interims-Kabinett regiert. Der Sturz des Regimes von Saddam Hussein ist nach allen vorliegenden Erkenntnissen eindeutig und unumkehrbar, und zwar trotz der nach wie vor problematischen Sicherheitslage im Irak, insbesondere im Hinblick auf terroristische Anschläge. Eine Rückkehr der Baath-Regierung kann nach den derzeit gegebenen Machtverhältnissen und der Offenkundigkeit der veränderten politischen Gegebenheiten als ausgeschlossen bewertet werden.

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Mit den veränderten politischen Gegebenheiten hat sich die Verfolgungssituation des Klägers von Grund auf geändert. Der - in der Vergangenheit in der überwiegenden Anzahl der asylrechtlichen Schicksale vorgenommenen - Anknüpfung an die Asylantragstellung und den langjährigen Auslandsaufenthalt ist mit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein der Boden entzogen. Die - frühere - Verfolgungssituation gerade durch diese asylbegründenden Umstände ist vielmehr in ihr Gegenteil verkehrt worden. Die bei der Anhörung des Klägers zum Ausdruck gebrachte Gegnerschaft zum Regime Saddam Hussein würde den Kläger nunmehr eher gegenteilig sogar gerade zum Träger bzw. zum Freund der jetzigen und das aktuelle Tagesgeschehen bestimmenden politischen Kräfte machen. Die zuvor eine politische Verfolgung begründenden Umstände haben ihre asylrelevante Bedeutung verloren, weil sie ihre Grundlage allein im Unrechtsregime von Saddam Hussein hatten. Dieser Einsicht ist - soweit ersichtlich - auch die inzwischen die veränderten politischen Gegebenheiten im Irak aufnehmende und bewertende obergerichtliche Rechtsprechung gefolgt (in jüngster Zeit insbesondere BVerwG, Urt. v. 11.2.2004 - 1 C 23.02 - zum Urt. d. Sen. v. 21.6.2002 - 9 LB 155/02 - und Urt. v. 24.2.2004 - 1 C 24.02 - zum Urt. d. Sen. v. 21.6.2002 - 9 LB 3662/01 -; ferner BayVGH, Urt. v. 13.11.2003 - 15 B 02.31751 und 15 B 01.30114 -; SächsOVG, Beschl. v. 28.8.2003 - A 4 B 573/02 - AuAS 2003, 250; Schleswig-Holsteinisches OVG, Beschl. v. 30.10.2003 - 1 LB 39/03 - und vom 28.10.2003 - 1 LB 41/03 -; OVG Münster, Urt. v. 14.8.2003 - 20 A 430/02.A - Asylmagazin 1-2/2004, 17; weiterhin VG Aachen, Urt. v. 11.9.2003 - 4 K 2360/01.A -).“

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Neuere Erkenntnisse bestätigen die Annahme, dass eine Rückkehr zu den alten Machtverhältnissen ausgeschlossen ist (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24. Mai 2004, Stand: April 2004; Deutsches Orientinstitut, Stellungnahme an das VG Regensburg vom 27. Oktober 2003; Beschluss des OVG Greifswald vom 02.04.2004 -2 L 269/02-; Beschluss des VGH Baden-Württemberg vom 26.04.2004 -A 2 S 172/02-). Die aktuelle politische Entwicklung im Irak hält sich im Rahmen der o.a. politischen Zielvorgaben, beschleunigt den Übergang zu einem souveränen irakischen Staat gar, der nichts mehr mit dem Vorgängerregime gemein hat.

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So hat sich der „irakische Regierungsrat“ Anfang Juni 2004 nach Ernennung einer Übergangsregierung, die die Macht ab 30. Juni 2004 übernehmen sollte, selbst aufgelöst. Inzwischen hat der US-verwalter im Irak, Paul Bremer, die staatliche Macht am 28. Juni 2004 an diese irakische Übergangsregierung übergeben. Präsident mit eher repräsentativen Funktionen ist der Stammesführer Ghasi el Jawar, Ministerpräsident der als säkular eingeschätzte Schiit Ijad Allawi. Als Vizepräsident wurden der Chef der proiranischen Dawa-Partei, Ibrahim Al Dschaafari und als Vizeministerpräsident der Kurde Barham Saleh ernannt. Den Kurden wurden daneben die Schlüsselressorts für Äußeres und Verteidigung zuteil (vgl. Die Welt vom 2.6.2004, „Übergangsrat nominiert neue Regierung“). Formal ist damit auch der gestürzte Präsident Saddam Hussein der Autorität der irakischen Justiz unterstellt. Allerdings spricht die irakische Seite angesichts der andauernden Präsenz ausländischer Truppen in einer Stärke von etwa 150.000 Mann von einer Teilsouveränität (NZZ vom 25.6.2004, „Blutiger Anlauf zur Machtübergabe im Irak“). Dies ändert indes nichts an der Annahme, dass eine Rückkehr zu alten, möglicherweise asylbegründenden Machtstrukturen ausgeschlossen ist, so dass die tatsächlichen Grundlagen für den Anerkennungsbescheid der Beklagten vom 15 August 2002 entfallen sind.

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Dennoch ist der angefochtene Widerrufsbescheid rechtswidrig, denn seinem Erlass steht § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG entgegen. Danach ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dabei ist zu beachten, dass sich diese Gründe mit Gründen für ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG überschneiden können, dass sich die Tatbestandvoraussetzungen der Vorschriften jedoch so wesentlich voneinander unterscheiden, dass sich eine gesonderte Prüfung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG auch dann nicht erübrigt, wenn ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG nicht vorliegt (VGH Kassel, Beschluss vom 28.5.2003 -12 ZU 2805/02.A, InfAuslR 2003, 400, 401). Inhaltlich führt nicht jede auftretende Beeinträchtigung zum Absehen vom Widerruf. Derartige Gründe müssen vielmehr von einer gewissen Schwere und Tragweite sein, so dass ein Widerruf immer dann zu unterbleiben hat, wenn schwere physische oder psychische Schäden vorliegen, die infolge der bereits erlittenen politischen Verfolgung entstanden sind und die sich bei einer Rückkehr in das Heimatland wesentlich verschlechtern. Darüber hinaus können Gesichtspunkte der Erwerbstätigkeit, einer wirtschaftlichen und sozialen Ausgrenzung, das Lebensalter und der Zeitraum zwischen Verfolgung und Flucht einerseits und Rückkehr andererseits zu berücksichtigen sein (vgl. VGH Kassel, a.a.O.; Renner, AuslR, 7. Aufl. § 73 AsylVfG Rdnr. 12f.).

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Gemessen an diesen Vorgaben, nimmt die Kammer im Fall des Klägers an, dass er sich auf zwingende Gründe berufen kann, die seiner Rückkehr in den Irak entgegenstehen.

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Dies folgt zum einen aus dem vom Kläger erlittenen Verfolgungsschicksal, wie er es bei seiner Anhörung im Rahmen der mündlichen Verhandlung auch bei emotional angreifenden Schilderungen ausgesprochen sachlich, widerspruchsfrei und ohne zu übertreiben in Übereinstimmung mit den bisher aus den Akten gewonnenen Erkenntnissen wie auch in Einklang mit der Auskunftslage geschildert hat.

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Danach gehörte der Kläger zum herausgehobenen Kreis der Oppositionellen im früheren Irak, der in den Wirrnissen der Zeit ab 1991 mehrfach nur durch Glück dem sicheren Tod entronnen ist. So war er nach seinem glaubhaften Vorbringen im Range eines “Raid“ (das entspricht dem deutschen Major) 1991 in Kerbala einer der militärischen Anführer des landesweiten Aufstandes gegen Saddam Hussein. Als dieser Aufstand ohne Intervention der Vereinigten Staaten mit brutaler Gewalt niedergedrückt wurde, war auf die Ergreifung des Klägers ein hohes Kopfgeld ausgesetzt worden. Es gelang ihm, sich in den Nordirak abzusetzen. Seine Familie lebte unterdessen fast ein Jahr versteckt in Bagdad in der ständigen Erwartung, ergriffen zu werden. Dennoch gelang auch ihnen 1992 die Flucht nach Sallahaddin in der Nähe von Arbil im Nordirak. Als 1996 die KDP Massud Barsanis mit der irakischen Zentralregierung gemeinsame Sache machte, musste die Familie des Klägers, der bis dahin Mitglied des Militärausschusses des INC gewesen ist, erneut ohne jegliches Hab und Gut unter unmittelbar drohender Gefahr sowohl vor dem irakischen Regime wie auch vor denjenigen flüchten, die vermeintlich Schutz geboten hatten. Es dauerte nur drei Jahre, in denen die Familie im Einflussgebiet der PUK lebte, bis sie auch von hier vertrieben wurden. Wieder, wie der Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2001 im Verfahren der Ehefrau des Klägers zutreffend ausführt, unter dem Einfluss der Vereinigten Staaten. Das Fluchtschicksal der Familie setzte sich in der Türkei auf geradezu beängstigende Weise fort. Die Organisation, von der sich der Kläger am ehesten Schutz erhoffen durfte, der UNHCR, blieb aus welchen Gründen immer neun Monate untätig, mit der Folge, dass die Familie des Klägers von den türkischen Behörden hätte in den Irak zurückgeschoben werden sollen. Ihnen gelang mit Hilfe eines Schleusers aber zunächst die Flucht nach Istanbul. Bei dem Versuch, die Türkei illegal zu verlassen wurde die Familie erneut auseinandergerissen und fand erst zwei Jahre später in der Bundesrepublik Deutschland wieder zusammen. So kam der Kläger ohne sein Wissen und Wollen mit drei Kindern nach Bosnien-Herzegowina, während seine Frau und weitere drei Kinder in die Bundesrepublik reisten. Besonders bedrückend und sowohl vom Kläger wie auch von seiner Frau in der mündlichen Verhandlung auch heute noch nach drei Jahren emotional angegriffen geschildert war dabei der Umstand, dass ein weiteres Kind der Familie, das mit einer anderen Flüchtlingsfamilie aus der Türkei ausgeschleust werden sollte, von den türkischen Behörden aufgegriffen und in ein Waisenheim eingewiesen wurde. Die Unsicherheit über den Verbleib dieses Kindes und die Trauer über dessen Verlust war dem Kläger und seiner Frau in der mündlichen Verhandlung immer noch lebendig anzufühlen. Erst seit Mitte 2002 befindet sich die Familie des Klägers nach einer sich über zehn Jahre erstreckenden fast permanenten Flucht gemeinsam in Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland; einer Sicherheit, die ihnen jetzt genommen werden soll. Es kann in Anbetracht dieses Verfolgungsschicksals und der herausgehobenen oppositionellen Position des Klägers davon ausgegangen werden, dass er und seine Familie im Falle einer Rückkehr in den Irak Zielscheibe gewaltsamer Übergriffe der terroristisch agierenden ehemaligen Anhänger der Baath-Partei werden und auch die Kurden ihm als führendem Mitglied des INC nach wie vor nicht wohlgesonnen sein werden.

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Es nimmt zum anderen in Anbetracht dieses Einzelschicksals nicht Wunder, dass insbesondere der Kläger und seine Ehefrau unter verschiedenen psychischen Erkrankungen leiden, wie sie im ärztlichen Attest des Dr. P. Q. vom 19. Juli 2004 bescheinigt werden. Auf eine genauere Attestierung der Ursachen für die Erkrankungen kann vorliegend verzichtet werden, weil dieser Zusammenhang offensichtlich ist. Der Kläger, seine Frau und auch die erwachsenen und heranwachsenden Kinder, die all das bewusst miterlebt haben, leiden unter den geschilderten Erlebnissen bis heute und haben eine sehr starke und nachvollziehbare Angst, erneut den ihnen gewährten Schutz zu verlieren und wieder in den Irak zurückkehren zu müssen.

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Ein weiterer Gesichtspunkt, der die Rückkehr des Klägers in den Irak als unzumutbar erscheinen lässt kommt hinzu. Der Kläger ist am 27. November 2001 vom Hohen Flüchtlingskommissar als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt worden. Selbst wenn eine derartige Anerkennung bindende Wirkung in den Konventionsstaaten nicht hat (vgl. dazu VG Freiburg, Urteil vom 07.05.2002 -A 7 K 10114/00-, zitiert nach juris), ist zu bedenken, dass der UNHCR derzeit noch große Bedenken gegen eine Rückführung von irakischen Flüchtlingen in ihr Heimatland hat (vgl. 3. überarbeitete UNHCR-Position zur Rückkehrgefährdung irakischer Schutzsuchender - März 2004 vom 1. März 2004). Dies bekräftigt die Annahme des Gerichts, dass die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG im Fall des Klägers und - dies sei hier ebenfalls erwähnt - seiner Frau vorliegen.

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Die Kosten des nach § 83 b Abs. 1 AsylVfG gerichtkostenfreien Verfahrens hat gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Beklagte zu tragen.

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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.