Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 20.09.2021, Az.: 7 A 2/20
Briefwahl; Personalratswahl; Wahl: Geheimheit der; Wahlanfechtung
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 20.09.2021
- Aktenzeichen
- 7 A 2/20
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 70949
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- nachfolgend
- OVG Niedersachsen - 08.02.2023 - AZ: 18 LP 4/21
- BVerwG - 17.07.2023 - AZ: BVerwG 5 PB 8.23
Rechtsgrundlagen
- § 21 PersVG ND
- § 20 Abs 1 PersVWO ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Geheimheit der Wahl führt zur Ungültigkeit der Personalratswahl.
Gründe
Die Antragsteller, vier wahlberechtigte Beschäftigte der L. Entsorgungsbetriebe, begehren die Ungültigerklärung der bei den L. Entsorgungsbetrieben am 24. März 2020 durchgeführten Personalratswahl.
Bei diesen, unter den Einschränkungen der Corona-Pandemie stattfindenden, Personalratswahlen wurden 97 Stimmen direkt abgegeben, 80 per Briefwahl (Anmerkung des Gerichts: Die hiervon abweichende Zahl von 83 Briefwählern in der Wahlniederschrift deckt sich nicht mit den in den Akten befindlichen Briefwahlunterlagen). Von den 7 Personalratssitzen entfielen infolge der Wahl 4 auf die Liste 1, Verdi, sowie 3 auf die Liste 2, Komba.
Die Behandlung der Briefwahlunterlagen geschah dabei auf folgende Weise:
Die eingegangenen Briefwahlcouverts wurden geöffnet und zunächst die Briefwahlerklärungen der Wähler mit dem Wählerverzeichnis abgeglichen. Die Erklärungen wurden sodann auf einen Stapel gelegt, wobei zwischen den Beteiligten umstritten ist, wie weit dieser Stapel von den stimmauszählenden Personen entfernt gelegen hat. Sodann wurden die in dem großen Couvert befindlichen kleineren Briefumschläge geöffnet und die Stimmzettel anschließend ausgewertet, d. h. den Stimmen nach gezählt. In die Wahlurne gelangte keiner diese Stimmzettel, weder mit noch ohne Couvert. Der als Vorsitzender fungierende Wahlvorstand K. bekundete in der Güteverhandlung vor dem Vorsitzenden darüber hinaus, dass er nicht ausschließen könne, dass auch Briefwahlumschläge und zwar im großen Couvert in der Wahlurne gelegen hätten. Diese seien der Wahlurne entnommen worden und auf die gleiche Art und Weise behandelt worden wie die übrigen Briefwahlunterlagen. Daneben und zeitgleich erfolgte die Auszählung der direkt abgegebenen Stimmen. Anschließend kam es zu einer gesonderten Auswertung der Direktwahlstimmzettel und der durch Briefwahl abgegebenen Stimmzettel, mit der Folge, dass ersichtlich war, wie viele Direkt- bzw. Briefwähler jeweils die Liste 1 und die Liste 2 gewählt haben.
Am 03. April 2020 haben die Antragsteller bei Gericht das vorliegende personalvertretungsrechtliche Beschlussverfahren anhängig gemacht, mit dem Ziel der Ungültigerklärung der am 24. März 2020 durchgeführten Personalratswahl.
Sie machen im Wesentlichen Mängel der durchgeführten Briefwahl geltend. Im Einzelnen rügen sie, Briefwahlunterlagen hätten frei zugänglich auf den Tischen der Verwaltung gelegen und hätten ohne Kontrolle mitgenommen werden können. Teilweise seien Briefwahlunterlagen und Stimmzettel in den Büros der Mitarbeiter ausgefüllt worden, wo die Stimmabgabe für jedermann sichtbar gewesen sei. Wahlberechtigte seien von Verdi-Mitgliedern abgeholt worden. Der Wahlvorstand habe keine Informationen im Vorfeld darüber gegeben, wie die Wahl durchgeführt wird. Vielmehr sei deren Ausgabe ohne Dokumentation erfolgt. Teilweise seien rückkehrende Briefwahlunterlagen in einen allgemein zugänglichen Briefkasten der Entsorgungsbetriebe eingeworfen worden. Dieser Briefkasten sei übergequollen. Die Briefwahlumschläge seien kurz nacheinander geöffnet worden, so dass eine Identifikation der Stimmabgabe möglich gewesen sei.
Die Antragsteller beantragten,
die am 24. März 2020 erfolgte Personalratswahl bei den L. Entsorgungsbetrieben für ungültig zu erklären.
Die Beteiligten zu 1. und 2. beantragen,
den Antrag abzulehnen.
Sie treten dem antragstellerischen Vorbringen in der Sache entgegen. Es habe bei der Ausgabe der Briefwahlunterlagen keine Unregelmäßigkeiten gegeben. Sowohl die Ausgabe wie auch der Rücklauf der Briefwahlunterlagen sei ordnungsgemäß dokumentiert worden. Eine Identifikation der Briefwähler sei durch die Behandlung der Briefwahlunterlagen nicht ermöglicht worden. Vielmehr sei die Briefwahlerklärungen den Wahlcouverts entnommen und beiseitegelegt worden. Anschließend sei die Stimmauszählung erfolgt, ohne dass eine Zuordnung von Stimmen zu einzelnen Personen möglich gewesen sei.
Mit gerichtlicher Verfügung vom 01. April 2021 sowie im Rahmen der Güteverhandlung sind die Verfahrensbeteiligten darauf hingewiesen worden, dass die angefochtene Personalratswahl – unabhängig von den Rügen der Antragsteller – möglicherweise deshalb für ungültig zu erklären sei, weil ein Verstoß gegen § 20 Abs. 1 der Wahlordnung für die Personalvertretungen – WO-PersV – vorgelegen hat.
Die Beteiligten haben sich hierzu dahingehend eingelassen, ein solcher Fehler, wenn er denn vorgelegen habe, habe sich nicht auf das Ergebnis der Personalratswahl auswirken können. Denn auch bei rechtmäßiger Behandlung der Briefwahlunterlagen wäre eine andere Stimmabgabe nicht erfolgt.
Die Antragsteller haben hierzu die Meinung vertreten, es komme nicht darauf an, dass die tatsächlich abgegebenen Stimmen keine Änderung erfahren hätten, wäre der Rechtsverstoß nicht aufgetreten. Vielmehr sei maßgeblich, wie sich die Briefwähler hypothetisch verhalten hätten, hätten sie gewusst, dass der Verstoß gegen Rechtsvorschriften zur Briefwahl eintreten würde. Für diesen Fall sei zu unterstellen, dass viele Briefwähler von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht hätten, so dass das Ergebnis der Wahl ein anderes gewesen wäre.
Die Antragsteller und die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung durch den Vorsitzenden ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Verfahrensbeteiligten wird auf die Gerichtsakte und die vom Beteiligten zu 2. vorgelegten Unterlagen, die Gegenstand der Güteverhandlung waren, Bezug genommen.
II.
Der Antrag, über den gemäß §§ 83 Abs. 2 NPersVG i.V.m. 80 Abs. 2, 83 Abs. 4 Satz 3, 54 Abs.4, 55 Abs. 3 ArbGG im Einverständnis der Antragsteller und der übrigen Verfahrensbeteiligten der Vorsitzende ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat Erfolg. Die am 24. März 2020 bei den L. Entsorgungsbetrieben durchgeführte Personalratswahl ist für ungültig zu erklären.
Der Wahlanfechtungsantrag der Antragsteller ist form- und fristgerecht und auch im Übrigen zulässig.
Nach § 21 NPersVG können u. a. mindestens drei Wahlberechtigte binnen einer Frist von 14 Tagen, vom Tage der Bekanntmachung des Wahlergebnisses gerechnet, die Wahl unmittelbar bei dem Verwaltungsgericht anfechten. Die vier Antragsteller sind in den L. Entsorgungsbetrieben wahlberechtigt
i. S. v. § 11 Abs. 1 Nr. 1 NPersVG und somit auch anfechtungsberechtigt. Die Anfechtungsfrist ist gewahrt. Das Wahlergebnis ist am Tag der Wahl, dem 24. März 2020 bekannt gegeben worden. Der am 03. April 2020 gestellte Antrag wahrt die 14-Tage-Frist.
Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg, denn die Voraussetzungen des § 21 NPersVG liegen vor. Voraussetzung für die erfolgreiche Anfechtung einer Personalratswahl ist danach, dass gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen worden ist, eine nach der Wahlordnung zulässige und beantragte Berichtigung nicht vorgenommen worden ist und der Verstoß das Wahlergebnis ändern oder beeinflussen könnte.
Bei der Wahl ist gegen § 20 Abs. 1 WO-PersV verstoßen worden.
Danach entnimmt der Wahlvorstand unmittelbar nach Abschluss der Stimmabgabe die Wahlumschläge den bis zu diesem Zeitpunkt eingegangenen Briefumschlägen und legt sie nach Vermerk der Stimmabgabe im Wählerverzeichnis ungeöffnet in die Wahlurne. Gegen diese Vorschrift ist bei der streitbefangenen Wahl dadurch verstoßen worden, dass nicht die ungeöffneten Briefumschläge nach Stimmabgabe in die Wahlurne eingelegt worden sind, sondern die Briefwahlumschläge getrennt von den Direktwahlstimmzetteln den Umschlägen entnommen und ausgezählt worden sind. Die Vorschrift dient dem Schutz des Wahlgeheimnisses nach § 16 Abs. 1 NPersVG. Sie ist abschließend und zwingend (vgl. Dembowski/Ladwig/Sellmann, Das Personalvertretungsrecht in Niedersachsen, § 20 WP-PersV Rn. 1 und 11; Cecior/Vallendar/Lechtermann/Klein, Das Personalvertretungsrecht in Nordrhein-Westfalen § 16 Rn. 12; VG des Saarlandes, Beschluss vom 23.101.2000 – 8 K 1/00.PVB, juris Rn. 13). Es handelt es sich bei § 20 WO-PersVG um eine wesentliche Vorschrift über das Wahlverfahren i. S. v. § 21 NPersVG (vgl. Sächsisches OVG, Beschluss vom 01.03.2018 – 9 A 53/17.PL, juris Rn. 30 f.; Dembowski u. a., a. a. O. Rn. 11; Ilbertz/Widmaier/Sommer, Bundespersonalvertretungsgesetz, 14. Auflage, § 25 Rn. 8). Wesentliche Vorschriften über das Wahlverfahren sind grundsätzlich alle die Vorbereitung und Durchführung der Personalratswahl betreffenden zwingenden Bestimmungen, d. h. „Muss-Vorschriften“, die – im Gegensatz zu Soll- oder Ordnungsvorschriften - Ausnahmen von dem betreffenden Ge- oder Verbot nicht zulassen (vgl. Thüringisches OVG, Beschluss vom 08.06.2014 – 6 PO 308/13-, juris Nr. 51). Diese Voraussetzung ist bei § 20 Abs. 1 WO-PersV zweifelsfrei erfüllt.
Dabei ist es rechtlich unbeachtlich, dass die Antragsteller diesen Verstoß nicht innerhalb der Antragsfrist gerügt haben.
Zwar stellt es keine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht dar, wenn in einem Wahlanfechtungsverfahren die personalvertretungsrechtlichen Fachspruchkörper von Nachforschungen absehen, die von den Verfahrensbeteiligten nicht beantragt oder angeregt waren und die sich ihnen auch nicht aufdrängen mussten. Andererseits sind aber die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Wahl und die Nachforschungen zur Aufklärung des Sachverhalts im Rahmen der gestellten Anträge nicht durch das Vorbringen der Beteiligten begrenzt. Bei einem auf die Ungültigkeitserklärung der Wahl gerichteten Antrag – wie hier – hat sich die gerichtliche Überprüfung nicht auf diejenigen Anfechtungsgründe zu beschränken, die innerhalb der Anfechtungsfrist von den Anfechtenden geltend gemacht werden. Vielmehr besteht aufgrund der Offizialmaxime das Recht und die Pflicht, bei der Entscheidung ebenfalls sowohl nach Ablauf der Anfechtungsfrist erstmals vorgetragene als auch überhaupt nicht geltend gemachte Anfechtungsgründe zu berücksichtigen (Beschluss der erkennenden Kammer vom 01.04.2015 – 7 A 3/14 -; OVG Lüneburg, Beschluss vom 19.02.1986 – 17 B 23/85; BVerwG, Beschluss vom 28.05.2009
- 6 PB 11.09 -).
Eine Berichtigung dieses Mangels ist nicht vorgenommen oder beantragt worden.
Zur Überzeugung des Vorsitzenden steht schließlich auch fest, dass der Verstoß das Wahlergebnis hätte ändern oder beeinflussen können. Ob eine solche Möglichkeit besteht, beantwortet sich in der Regel aus der Art des Verstoßes unter Berücksichtigung des konkreten Sachverhalts. Dabei wird allerdings eine nur denkbare Möglichkeit dann nicht genügen, die Anfechtung zu begründen, wenn sie nach der Lebenserfahrung vernünftigerweise nicht in Betracht zu ziehen ist. Demnach bleiben abstrakt nicht auszuschließende, nach der Lebenserfahrung aber unwahrscheinliche Kausalverläufe unberücksichtigt, wenn für ihren Eintritt keine tatsächlichen Anhaltspunkte bestehen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 07.05.2003 – 6 P 17/02 -, juris Rn. 11; vom 26.11.2008 – 6 P 7/08 -, juris Rn. 20; vom 11.08.2009 – 6 PB 16/09 -, juris Rn. 5). Mit anderen Worten muss eine verfahrensfehlerhafte Wahl nur dann nicht wiederholt werden, wenn sich konkret feststellen lässt, dass auch bei der Einhaltung der Wahlvorschriften kein anderes Ergebnis erzielt worden wäre (BAG, Beschluss vom 10.07.2013 – 7 ABR 83/11 -, juris Rn. 24).
Hier kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich infolge der nicht eingehaltenen Vorschriften über die Briefwahl Auswirkungen auf das Wahlergebnis ergeben hätten. In diesem Zusammenhang muss nicht festgestellt werden, ob – von wem auch immer – die Fehlbehandlung der Briefwahlunterlagen tatsächlich für Manipulationen ausgenutzt worden ist. Es muss auch nicht einmal geprüft werden, ob überhaupt ein Manipulationsverdacht besteht; allein die durch die verschiedenen Fehlbehandlungen eröffnete Möglichkeit einer Manipulation reicht aus. Denn § 20 WO-PersV soll der Minderung abstrakter Gefährdungen dienen (vgl. zur Parallelvorschrift des § 12 Abs. 1 S. 1 und 2 SchwbVWO, BAG, Beschluss vom 10.07.2013 – 7 ABR 83/11 -, juris Rn. 24). Durch die vom Wahlvorstand gewählte Vorgehensweise ist die Stimmauszählung unter eklatantem Verstoß gegen den Grundsatz der Geheimhaltung der Wahl zustande gekommen. Unabhängig von der Frage, wo die Briefwahlerklärungen im Zeitpunkt der Auszählung der Briefwahlstimmen tatsächlich räumlich gelegen haben, bleibt die allein entscheidende Möglichkeit einer Manipulation des Wahlvorgangs.
Dagegen wendet der Beteiligte zu 2. zu Unrecht ein, das Ergebnis der Wahl wäre auch im Falle ordnungsgemäßer Briefwahlbehandlung kein anderes gewesen. Denn nur, wenn sich der Wähler sicher ist und auch objektiv sicher sein kann, dass seine Wahlentscheidung nicht von Dritten wahrgenommen werden kann, ist gewährleistet, dass sie losgelöst von ungewollten Einflüssen allein seiner freien Entscheidung entspricht. Eine nicht in jeder Hinsicht geheime Wahl kann sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung deshalb auf die Wahlentscheidung auswirken (Hessischer VHG, Beschluss vom 29.01.1986 – HPVTL 1436/85 -, juris Rn. 27; VG Saarland, a. a. O. Rn. 18; OVG Münster, Beschluss vom 31.07.1975 – CB 11/74 -, ZBR 1975, 357, 358 a. E.).
Als Kontrollüberlegung ist heranzuziehen, dass unter Beachtung der Rechtsauffassung des Beteiligten zu 2. selbst grobe Verstöße gegen den Grundsatz der Geheimheit der Wahl nicht zu einer erfolgreichen Anfechtung der Wahl führen könnten. Denn nach dessen Auffassung hätte ja der Briefwähler unabhängig von der korrekten oder inkorrekten Behandlung im weiteren Wahlverfahren seine Stimme abgegeben; an dieser Stimmabgabe würde sich trotz des Verstoßes gegen den Grundsatz der Geheimheit der Wahl nichts ändern. Dem ist allerdings entgegen zu halten, dass ein Wahlberechtigter in Kenntnis der später erfolgenden rechtswidrigen Behandlung seiner Wahlunterlagen und des damit einhergehenden Verstoßes gegen den Grundsatz der Geheimheit der Wahl aller Voraussicht nach nicht an der Wahl teilgenommen hätte. Auch dies unterstellt, wäre das Wahlergebnis der Personalratswahl bei den L. Entsorgungsbetrieben am 24. März 2020 ein anderes gewesen.
Bei dieser Sachlage kommt es auf die von den Antragstellern gerügten weiteren Verstöße gegen Wahlrechtsbestimmungen nicht mehr an. Das Gericht verweist zur Vermeidung von Wiederholungen insoweit aber auf seine Verfügung vom 01. April 2021.
Eine Kostenentscheidung entfällt im personalvertretungsrechtlichen Beschlussverfahren.