Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 07.04.2011, Az.: L 8 AY 4/08

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
07.04.2011
Aktenzeichen
L 8 AY 4/08
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 23662
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2011:0407.L8AY4.08.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Stade - 12.12.2007 - AZ: S 19 AY 8/06

Tenor:

Auf die Berufung der Kläger werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 12. Dezember 2007 und die Bescheide des Beklagten vom 5. Dezember 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2006 aufgehoben.

Der Beklagte wird verurteilt, den Klägern bis zum 28. Februar 2007 weiterhin Leistungen nach § 2 AsylbLG unter Anrechnung bewilligter Leistungen nach den § 3 ff. AsylbLG zu gewähren.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Kläger zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Kläger begehren über den Monat Dezember 2005 hinaus Leistungen nach § 2 AsylbLG (sogenannte Analogleistungen) anstelle der ihnen gewährten Grundleistungen nach den §§ 3 ff AsylbLG bis zum 28. Februar 2007.

2

Der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. sind Staatsangehörige von Serbien/Montenegro aus dem Kosovo mit albanischer Volkszugehörigkeit. Sie sind erstmals im Jahre 1995 in die Bundesrepublik eingereist und haben hier erfolglos Asyl beantragt. Am 19. Januar 2000 haben sie dem Niedersächsischen Innenministerium mitgeteilt, dass sie im Hinblick auf die geänderte Situation im Kosovo mit ihren zwischenzeitlich geborenen Kindern, den Klägern zu 3. und 4., in ihre Heimat zurückkehren möchten. Tatsächlich sind sie wohl im Februar 2000 nach Schweden ausgereist und am 2. September 2002 erneut in die Bundesrepublik zurückgekehrt. Ein Asylfolgeantrag blieb ebenfalls erfolglos (Bescheid vom 9. September 2002). Seither ist ihr Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland geduldet. Mit Urteil des VG Stade vom 12. Februar 2009 wurde der Beklagte verpflichtet, den Klägern Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 AufenthG zu erteilen. Von der Klägerin zu 2. könne ein Verlassen der Bundesrepublik Deutschland zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht verlangt werden, weil sie für ihre psychische Stabilität in ganz entscheidender Weise auf den Beistand ihrer Familie und namentlich ihrer ebenfalls in Deutschland lebenden Mutter angewiesen sei (Gutachten der Fachärztin für Neurologie Dr. J. vom 9. September 2008).

3

Seit Oktober 2002 erhielten die Kläger vom Beklagten Grundleistungen nach § 3 AsylbLG. Am 21. September 2005 teilte das Ausländeramt des Beklagten mit, der Aufenthalt der Kläger sei nicht rechtsmissbräuchlich. Ein ärztliches Attest vom 10. Mai 2005 belege eine schwere psychische Erkrankung der Klägerin zu 2., eine Ausreise der Familie könne derzeit nicht gefordert werden, eine amtsärztliche Untersuchung habe noch nicht durchgeführt werden können. Mit Bescheid vom 21. September 2005 wurden den Klägern daraufhin Analogleistungen ab Oktober 2005 bis auf Weiteres in Höhe von 1.346,91 EUR bewilligt (Leistungsanspruch bis September 2005: 1.086,00 EUR).

4

Am 19. September 2005 wurde die Klägerin zu 2. von dem Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. K. untersucht. Danach leidet sie an einer mittelschweren Depression, die eine kontinuierliche nervenärztliche Behandlung erforderlich mache. Psychopharmakologisch scheine eine Behandlung, so der Gutachter, mit einem Antidepressivum und einem Tranquilizer sinnvoll. Es sei bei ihr von einem erhöhten Risiko für einen Suizid oder erneute Suizidversuche auszugehen. Sie sei nur in Begleitung von Fachpersonal (z. B. Fachpfleger bzw -Schwester für Psychiatrie, psychiatrisch erfahrener Arzt) flugreisefähig. Eine Flugreisefähigkeit allein durch die Gabe von sedierenden Medikamenten hielt der Gutachter für fraglich. Das Ausländeramt des Beklagten vertrat daraufhin die Auffassung, dass die Dauer des Aufenthaltes der Kläger rechtsmissbräuchlich von ihnen beeinflusst worden sei. Sie könnten freiwillig in den Kosovo zurückkehren, das amtsärztliche Gutachten bestätige die Reisefähigkeit auch der Klägerin zu 2 ... Der Beklagte bewilligte daraufhin mit Bescheid vom 5. Dezember 2005 den Klägern bis auf Weiteres ab dem 1. Januar 1999 (gemeint wohl: 2006) Leistungen nach dem AsylbLG in Höhe von 1.091,38 EUR. Aus der Anlage ergibt sich, dass es sich um Leistungen nach § 3 AsylbLG handelt. Irgendwelche Erläuterungen zu den Gründen für die Änderung finden sich in diesem Bescheid nicht. In einem weiteren Bescheid vom gleichen Tag heißt es, die Leistungen würden ab dem 1. November 2005 (gemeint wohl: 1. Januar 2006) auf die Leistungen nach den §§ 3 bis 7 des AsylbLG umgestellt. Eine freiwillige Ausreise sei ihnen unstreitig möglich. Gründe außer dem unbeachtlichen Wunsch, im Bundesgebiet zu verbleiben und Sozialleistungen zu beziehen, seien nicht ersichtlich und würden auch von den Klägern nicht genannt.

5

Im folgenden Widerspruchsverfahren wiesen die Kläger darauf hin, dass die Klägerin zu 2. zusätzlich an Tinnitus leide und eine adäquate ärztliche Versorgung im Kosovo nicht möglich sei. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 2006). Der Widerspruchsbescheid enthält ebenso wie die angefochtenen Bescheide keine Hinweise auf eine Änderung gegenüber der Situation nach dem Bescheid vom 21. September 2005 oder einen Hinweis darauf, dass es sich insoweit um eine falsche Entscheidung gehandelt haben könnte; Ermessensgesichtspunkte sind dem Bescheid ebenfalls nicht zu entnehmen.

6

Am 27. Februar 2006 haben die Kläger Klage beim SG Stade erhoben. Während des Klageverfahrens hat der Kläger zu 1. am 20. September 2007 eine Arbeit aufgenommen, seither sind die Kläger nicht mehr im Leistungsbezug des Beklagten. Wohl im Juli 2010 sind sie sodann aus dem Zuständigkeitsbereich des Beklagten nach L. verzogen. Das SG Stade hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 12. Dezember 2007 abgewiesen. Die Kläger hätten rechtsmissbräuchlich gehandelt, weil sie nicht ausgereist seien, obwohl dies möglich gewesen wäre. Jedenfalls vor dem Jahre 2002 sei die Klägerin zu 2. auch ausreisefähig gewesen. Höhere Leistungen als bewilligt stünden den Klägern ab dem 1. Januar 2006 bis zum Erlass des Gerichtsbescheides nicht zu.

7

Gegen den Ihnen am 14. Dezember 2007 zugestellten Gerichtsbescheid wenden sich die Kläger mit ihrer am 14. Januar 2008 eingelegten Berufung, die sie insbesondere unter Hinweis auf die bei der Klägerin zu 2. drohende Suizidgefahr im Falle einer Abschiebung begründen.

8

Sie beantragen,

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1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 12. Dezember 2007 sowie die Bescheide des Beklagten vom 5. Dezember 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2006 aufzuheben, 2. den Beklagten zu verurteilen, ihnen - den Klägern - bis zum 28. Februar 2007 weiterhin Leistungen nach § 2 AsylbLG unter Anrechnung bewilligter Leistungen nach den § 3 ff. AsylbLG zu gewähren.

10

Der Beklagte beantragt,

11

die Berufung zurückzuweisen.

12

Er hält auch in Kenntnis des Urteils des BSG vom 17. Juni 2008 (B 8/9b AY 1/07 R) eine rechtsmissbräuchliche Beeinträchtigung der Dauer des Aufenthalts der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland für gegeben. Diese seien in Kenntnis fehlender Asylgründe im Jahre 2002 erneut aus Schweden eingereist und nicht - wie angekündigt - im Jahre 2000 in ihr Heimatland zurückgekehrt.

13

Außer den Gerichtsakten lagen zwei Bände Verwaltungsakten des Beklagten, den streitigen Vorgang betreffend, sowie insgesamt 6 Hefter Ausländerakten der Kläger vor. Sie waren Gegenstand des Verfahrens. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Rechtszüge und der Beiakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

14

Die Berufung der Kläger, die höhere laufende Leistungen für mehr als ein Jahr begehren, ist statthaft (§ 144 Abs 1 Sätze 1, 2 Sozialgerichtsgesetz SGG) und auch ansonsten zulässig (§ 151 SGG). Die Berufung ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind aus formellen Gründen rechtswidrig, den Klägern stehen die mit früheren Bescheiden bewilligten Leistungen (Verwaltungsakte mit Dauerwirkung) weiterhin zu. Das Urteil des SG und die angefochtenen Bescheide sind deshalb aufzuheben. Nur zur Klarstellung hat der Senat zudem die Verpflichtung des Beklagten ausgesprochen, die Leistungen an die Kläger auch auszuzahlen.

15

Gegenstand des Verfahrens sind die Bescheide vom 5. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2006. Entgegen der Auffassung des Beklagten und des SG können die Kläger ihr Ziel, nämlich über den 31. Dezember 2005 hinaus die bis dahin bezogenen Leistungen nach § 2 AsylbLG weiter zu erhalten, durch eine Anfechtungsklage nach § 54 Abs 1 Satz 1 SGG erreichen. Die Leistungen waren ihnen zuletzt mit Bescheid vom 21. September 2005 ab Oktober 2005 bis auf Weiteres bewilligt worden. Einer Leistungsklage bedarf es grundsätzlich dann nicht, wenn mit der Aufhebung der abändernden Bescheide der ursprüngliche Bescheid seine Wirkung wieder entfaltet, die Kläger ihr Ziel also bereits mit der Anfechtungsklage verwirklichen können (vgl nur BSG-Urteil vom 17. Juni 2008 B 8/9b AY 1/07 R m.w.N.).

16

Bei dem Bescheid vom 21. September 2005 handelt es sich um einen Verwaltungsakt, mit dem ohne zeitliche Begrenzungen Leistungen zugesprochen worden sind. Maßgebend für die Beurteilung der Frage, für welche Zeit Leistungen bewilligt werden sollen, ist dabei, wie ein Empfänger die Erklärung nach den Umständen des Einzelfalles verstehen muss (vgl nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, Anhang § 54 Rdn. 3 a; BSG Urteil vom 17. Juni 2008 B 8/9b AY 1/07 R, BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2 = InfAuslR 2009, 29 = FEVS 60, 193 = Breith 2009, 927). Die hier gewählten Formulierungen "ab dem 1.10.2005" und "bis auf Weiteres" sind eindeutig. Die dem Bescheid beigefügte Bedarfsberechnung für den Monat Oktober 2005 kann angesichts dieser Formulierung nur als Berechnungsbeispiel für einen Kalendermonat verstanden werden. Die Formulierung im Bescheid des Beklagten vom 5. Dezember 2005, die Leistungen nach § 2 AsylbLG würden auf Leistungen nach den §§ 3 - 7 AsylbLG "umgestellt", zeigen im Übrigen, dass auch der Beklagte von einem anderenfalls weiter bestehendem Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG ausging.

17

Die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide vom 5. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2006 ist an den gemäß § 9 Abs 3 AsylbLG anzuwendenden §§ 44 ff SGB X zu messen.

18

Eine Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 21. September 2005 nach § 48 SGB X scheitert bereits daran, dass nach dessen Erlass keine wesentlichen Änderungen in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten sind. Die Untersuchung der Klägerin zu 2. am 19. September 2005 durch den Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. K. war bereits vor Erlass des Bescheides vom 21. September 2005 erfolgt, so dass unabhängig davon, ob diese Untersuchung neue medizinische Erkenntnisse erbracht hat und ob sich daraus eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ergeben könnte, eine nachträgliche Änderung nicht eingetreten sein kann. Mit der neuen ausländerrechtlichen Beurteilung vom 2. Dezember 2005 haben sich weder die tatsächlichen noch die rechtlichen Verhältnisse geändert, sondern nur deren Bewertung durch die Behörde; eine Aufhebung nach § 48 SGB X kann darauf nicht gestützt werden.

19

Der Beklagte hätte seine Bescheide vom 5. Dezember 2005 somit allenfalls auf § 45 SGB X stützen können. Nach Abs 1 dieser Vorschrift darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt, im Falle seiner Rechtswidrigkeit nur bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen ganz oder teilweise auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Diese Voraussetzungen sind im Einzelnen in § 45 Abse 2, 4 SGB X geregelt. Gemäß § 45 Abs 2 SGB X ist eine Rücknahme dann nicht möglich, wenn der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist; auf Vertrauen kann sich der Begünstigte ua dann nicht berufen, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X) oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (Nr 3 der Vorschrift).

20

Hier bestehen bereits Bedenken, ob der ursprüngliche Bewilligungsbescheid rechtswidrig war. Selbst wenn die Kläger versucht haben sollten, die Dauer ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland rechtsmissbräuchlich zu beeinflussen, könnte dennoch ein Anspruch auf die hier streitigen Leistungen nach § 2 AsylbLG bestehen, falls den Klägern aus anderen als von ihnen zu vertretenden Gründen eine Ausreise nicht möglich gewesen sein sollte (vgl hierzu BSG Urteil vom 17. Juni 2008 B 8/9b AY 1/07 R, aaO., RdNr 44). Für das Vorliegen derartiger Ausreisehindernisse spricht vieles. Bis 2004 bestand ohnehin ein Abschiebeverbot in den Kosovo, wie der Beklagte selber eingeräumt hat. Der Senat hat zudem erhebliche Zweifel, ob die Klägerin zu 2. nicht aus gesundheitlichen Gründen an einer Ausreise gehindert war, wenn sie nur in Begleitung von Fachpersonal wie Fachpfleger bzw -Schwester für Psychiatrie oder einem psychiatrisch erfahrenen Arzt flugreisefähig war. Auch ist fraglich, ob das Vertrauen der Kläger auf den Bestand des Bescheides vom 21. September 2005 nicht schutzwürdig war; ob den Klägern grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen kann, wenn sie die (insoweit unterstellte) Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides vom 21. September 2005 nicht kannten, ist ebenfalls zweifelhaft.

21

Letztlich kann hier offen bleiben, ob die Voraussetzungen für eine Rücknahme nach § 45 SGB X vorlagen, weil der Beklagte das bei Anwendung des § 45 SGB X erforderliche Ermessen nicht ausgeübt hat. Weder die angefochtenen Bescheide vom 5. Dezember 2005 noch der Widerspruchsbescheid enthalten irgendwelche Ermessenserwägungen. Der Vortrag des Beklagten im Berufungsverfahren deutet zudem darauf hin, dass ein Ermessen gar nicht ausgeübt werden sollte.

22

Eine Rücknahmeentscheidung nach § 45 SGB X setzt grundsätzlich eine Ermessensentscheidung voraus ("darf nur "). Eine dies modifizierende Sonderregelung sieht das AsylbLG nicht vor, anders als beispielsweise das SGB III (dort § 330 Abs 2) oder das SGB II (dort § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 1, unter Verweis auf § 330 Abs 2 SGB III). Bei der durch § 45 SGB X ermöglichten Durchbrechung der Bindungswirkung von Verwaltungsakten (§ 77 SGG) ist zu beachten, dass ein Betroffener grundsätzlich auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns vertrauen darf und vor der Rücknahme geschützt sein soll. Um den Widerstreit zwischen der materiellen Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns und dem Vertrauen des Betroffenen in die ursprüngliche Verwaltungsentscheidung zu lösen, muss im Einzelfall eine Abwägung darüber erfolgen, welches Interesse überwiegt, das der Allgemeinheit auf Herstellung eines gesetzmäßigen Zustands oder das des Begünstigten an der Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen Zustands (vgl auch BSG Urteil vom 11. April 2002 B 3 P 6/01 R ZfS 2002, 329, juris, m. w. N.).

23

Nur in ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen steht dem Leistungsträger bei seiner Entscheidung kein Rücknahmeermessen zu ("Ermessensreduzierung auf Null"). Eine solche Ermessensreduzierung auf Null liegt hier nicht vor. Die Ermessensschrumpfung auf Null stellt einen seltenen Ausnahmefall dar. Sie setzt voraus, dass es nach dem festgestellten Sachverhalt ausgeschlossen ist, dass Umstände vorliegen, die eine anderweitige den Betroffenen ganz oder teilweise begünstigende Entscheidungsfindung rechtsfehlerfrei zuließen. In aller Regel und so auch hier ist dies nicht der Fall (ausführlich BSG Urteil vom 11. April 2002, aaO.; Schütze in von Wulffen/Wiesner, SGB X, § 45 RdNr 91 m. w. N.).

24

Die Frage, ob das Ermessen zu Lasten des Betroffenen auch dann auf Null reduziert sein kann, wenn alle für eine Ermessensausübung in Betracht kommenden Umstände bereits bei der Interessenabwägung nach § 45 Abs 2 SGB X berücksichtigt worden sind und dort zur Verneinung des Vertrauensschutzes geführt haben, sodass für die Ermessensausübung keine eigenständigen (neuen) Gesichtspunkte übrig bleiben (so der 9. Senat des BSG in früheren Entscheidungen, z. B. Urteil vom 5. November 1997 9 RV 20/96 BSGE 81, 156 = SozR 3-1300 § 45 Nr 37), bedarf hier keiner Entscheidung, weil der Beklagte bei seiner Entscheidung keinerlei Interessenabwägung i. S. des § 45 Abs 2 SGB X vorgenommen hat.

25

Nur zur Klarstellung hat der Senat die sich aus der Aufhebung der Bescheide vom 5. Dezember 2005 ergebende Verpflichtung des Beklagten ausgesprochen, die Leistungen an die Kläger auch auszuzahlen. Gegen die Zahlungspflicht spricht insbesondere nicht ein "Aktualitätsgrundsatz", wie vom Beklagten im Berufungsverfahren behauptet. Die Kläger haben einen Rechtsanspruch auf die ihnen mit Bescheid vom 21. September 2005 zugesprochenen Leistungen. Auf die Rechtsprechung des BSG in seinen Urteilen vom 17. Juni 2008 (B 8/9b AY 1/07 R, aaO., B 8/9b AY 11/07 R) kann sich der Beklagte nicht erfolgreich berufen. Nur "nicht mehr bestehende Bedarfe" sind nicht mehr zu decken; damit sind allerdings nicht die hier streitigen pauschalierten Leistungen nach § 2 AsylbLG gemeint.

26

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

27

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) liegen nicht vor.