Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 05.12.2001, Az.: 4 K 193/00
Ermittlungspflicht der Behörde und Erklärungspflicht des Antragstellers bei missverständlichen Fragen im Antragsformular für Kindergeld
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 05.12.2001
- Aktenzeichen
- 4 K 193/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2001, 14569
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2001:1205.4K193.00.0A
Rechtsgrundlagen
- § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO
- § 63 Abs. 1 Nr. 2 EStG
Fundstelle
- EFG 2002, 889-890
Tatbestand
Streitig ist die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung wegen neuer Tatsachen gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO).
Die Klägerin ist seit dem...mit einem Engländer, der bei den britischen Streitkräfte tätig ist, in zweiter Ehe verheiratet. Aus dieser Ehe hat sie ein Kind (A). Aus ihrer ersten Ehe hat die Klägerin zwei Kinder (B + C), die seit dem 08.05.1998 in ihrem Haushalt in Deutschland, den sie gemeinsam mit ihrem jetzigen Ehemann führt, leben. Die Klägerin ist in Deutschland nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt; sie bezieht auch keine Lohnersatzleistungen.
Die Beklagte hat der Klägerin mit Einverständnis ihres jetzigen Ehemannes seit Juni 1998 für die Kinder B + C antragsgemäß Kindergeld gewährt. Die unter Nr. 11 Buchstabe b des Antragsformulars (Bl. 31 R der Kindergeldakte) gestellte Frage, welche die Klägerin mit "nein" beantwortete, hat folgenden Wortlaut:
"Sind oder waren Sie, Ihr Ehegatte oder eine andere Person, zu der die eingetragenen Kinder in einem Kindschaftsverhältnis stehen, in den letzten 7 Monaten vor der Antragstellung
a)
...?b)
in Deutschland bei einer Dienststelle oder Einrichtung eines anderen Staates oder als Angehörige(r der NATO-Streitkräfte tätig?"
Am 17.05.1999 beantragte die Klägerin mit Einverständnis ihres jetzigen Ehemannes zusätzlich Kindergeld für A. Die unter Nr. 10 Buchstabe b des Antragsformulars gestellte Frage hat den selben Wortlaut wie die oben zitierte Frage unter Nr. 11 Buchstabe b des vorgenannten Antragsformulars. Diese Frage beantwortete die Klägerin nunmehr mit "ja" und gab an, dass ihr jetziger Ehemann bei den britischen Streitkräften tätig sei (Bl. 36 R der Kindergeldakte).
Die Beklagte kam aufgrund der Bejahung der Frage Nr. 10 Buchstabe b des Antragsformulars zu dem Ergebnis, dass ein vorrangiger Kindergeldanspruch für die Kinder B + C in Großbritannien gegeben sei. Sie sah in der Tätigkeit des jetzigen Ehemannes bei den britischen Streitkräften eine neue Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO und hob durch Bescheid vom 19.11.1999 die Kindergeldfestsetzung für die Kinder B + C mit Wirkung ab Juni 1998 insoweit auf, als der Klägerin lediglich die Differenzbeträge zum britischen Kindergeld belassen wurden. Gleichzeitig forderte sie von der Klägerin die Überzahlung für die Zeit von Juni 1998 bis August 1999 in Höhe von 4.173,00 DM zurück.
Mit ihrem Einspruch machte die Klägerin geltend, dass die teilweise Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und die Rückforderung des Überzahlungsbetrages nicht gerechtfertigt seien. Der Umstand, dass ihr jetziger Ehemann bei den britischen Streitkräften tätig sei, stelle keine neue Tatsache dar, die zu einer Änderung der Kindergeldfestsetzung führe. Die in Nr. 11 Buchstabe b des Antragsformulars enthaltene Frage habe sie zutreffend mit "nein" beantwortet, weil der leibliche Vater der Kinder B + C nicht bei einer Dienststelle oder Einrichtung eines anderen Staates oder als Angehöriger der NATO-Streitkräfte tätig sei. Das im Nebensatz der Frage aufgeführte Kindschaftsverhältnis beziehe sich nicht nur auf eine "andere Person", sondern auch auf den "Ehegatten" des Antragstellers. Ihr jetziger Ehemann stehe jedoch in keinem Kindschaftsverhältnis zu den beiden Kindern aus ihrer ersten Ehe. Wenn sich aber das Kindschaftsverhältnis ausschließlich auf die "andere Person" beziehen solle, so sei die Frage missverständlich formuliert. Dies schließe ggf. eine Änderung des Kindergeldfestsetzung zu ihren Lasten wegen neuer Tatsachen aus.
Die Beklagte wies den Einspruch zurück.
Dagegen richtet sich die Klage. Zur Begründung hält sie unverändert an ihrem Vorbringen im Vorverfahren fest.
Die Klägerin beantragt,
den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 19.11.1999 sowie den Einspruchsbescheid vom 30.03.2000 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Frage zu Punkt 11 Buchstabe b des Antragsformulars sei nicht missverständlich formuliert. Der Nebensatz "zu der die eingetragenen Kinder in einem Kindschaftsverhältnis stehen" beziehe sich nur auf eine "andere Person" und nicht zusätzlich auf den "Ehegatten". Im übrigen stehe der Ehemann der Klägerin als Stiefvater sehr wohl in einem Kindschaftsverhältnis zu den Kindern B + C.
Das Gericht hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung informatorisch befragt. Wegen des Ergebnisses dieser Befragung wird auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
Gründe
Die Klage ist begründet.
Der Kindergeld- Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid ist rechtswidrig. Der Beklagte war nicht berechtigt, die Aufhebung auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu stützen; denn die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen nicht vor.
1.
Da das Kindergeld als Steuervergütung gezahlt wird (vgl. § 31 Satz 3 EStG), sind die Vorschriften der Abgabenordnung 1977 (AO) hinsichtlich der Steuerfestsetzung und Änderung von Steuerbescheiden anzuwenden (§ 155 Abs. 4 AO). Gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen; das bedeutet in Anwendung auf Kindergeldbescheide, dass sie zu Ungunsten des Berechtigten aufzuheben oder zu ändern sind, soweit Tatsachen nachträglich bekannt werden, die zu einem niedrigeren Kindergeld führen.
Der Umstand, dass der Ehemann der Klägerin Bediensteter der britischen Streitkräfte in Deutschland ist, stellt eine solche nachträglich bekannt gewordene Tatsache dar. Sie führt dazu, dass der jetzige Ehemann der Klägerin als Berechtigter i.S. des § 63 Abs. 1 Nr. 2 EStG (Stiefvater) die hier vom Kindergeld betroffenen Kinder ("Kinder seines Ehegatten") in seinen Haushalt aufgenommen hatte (zu Stiefkindern vgl. Herrmann/Heuer/Raupach, Familienleistungsausgleich 1997, § 63 Anm. 7). Infolge dessen lagen die Voraussetzungen dafür vor, dass die Klägerin zwar grundsätzlich kindergeldberechtigt war, ihr aber gemäß § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG das Kindergeld deshalb nur eingeschränkt zustand, weil ihrem britischen Ehemann in Großbritannien bei entsprechender Antragstellung Leistungen für die Kinder gewährt worden wären, die dem Kindergeld vergleichbar sind, und die bei der Klägerin anzurechnen sind. Diese Punkte sind zwischen den Beteiligten unstreitig und bedürfen daher keiner weiteren Erörterung.
Wie sich aus der Anwendung der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO (vgl. dazu BFH-Urteil vom 4. März 1999 II R 79/97 (BFH/NV 1999, 1301 ff) auf das Kindergeld ergibt, kann trotz einer nachträglich bekannt gewordenen und rechtserheblichen Tatsache die Kindergeldkasse an einer Änderung eines Kindergeldbescheides zu Ungunsten des Empfängers gehindert sein, wenn ihr die Tatsache vor dem Erlass des zu ändernden Bescheids infolge Verletzung der ihr obliegenden Ermittlungspflicht unbekannt geblieben war. Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben ist es der Behörde nämlich verwehrt, über § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO eigene Pflichtverletzungen zu Lasten des Kindergeldempfängers auszugleichen. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Kindergeldempfänger seinerseits die ihm obliegenden Mitwirkungspflichten erfüllt hat. Ist dies nicht der Fall, kann er sich regelmäßig nicht auf die Verletzung der Ermittlungspflichten der Behörde berufen (vgl. dazu ebenfalls die BFH-Urteile vom 4. Dezember 1992 III R 50/91, BFH/NV 1993, Seite 496 sowie vom 14. Dezember 1994 IX R 80/92, BStBl II 1995 Seite 293, 295 [BFH 14.12.1994 - XI R 80/92]). Eine lückenhafte Unterrichtung der Kindergeldkasse schließt es für gewöhnlich aus, gegenüber einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu Ungunsten des Kindergeldempfängers Ermittlungsfehler der Behörde geltend zu machen. Haben sowohl der Empfänger als auch die Behörde eine Pflichtverletzung zu vertreten, ist der Schweregrad abzuwägen und danach zu entscheiden (vgl. BFH-Urteil vom 11. November 1987 I R 108/85, BFHE 151, Seite 33; BStBl II 1988 Seite 115).
Bei dieser Abwägung ist die Bedeutung der Ermittlungspflicht der Behörde einerseits und die der Erklärungspflicht des Kindergeldantragstellers andererseits zu berücksichtigen. Die Behörde hat grundsätzlich lediglich "allen offenkundigen Zweifelsfragen, also Zweifeln, die sich ohne Weiteres aufdrängen", nachzugehen (vgl. BFH-Urteil vom 13. November 1985 II R 208/82, BStBl II 1986 Seite 241). An die Erklärungspflicht eines Steuerpflichtigen bzw. eines Kindergeldempfängers sind grundsätzlich hohe Anforderungen zu stellen; die relevanten Sachverhalte müssen richtig, vollständig und deutlich der Behörde zur Prüfung unterbreitet werden (vgl. BFH II R 208/82, a.a.O.). Ist indes eine Frage in einem Fragebogen missverständlich formuliert, kann dem Antragsteller unter Umständen kein Vorwurf gemacht werden, wenn er daraufhin eine erhebliche Tatsache unzutreffend für unerheblich hält und nicht erklärt. So liegt hier der Fall:
Die Frage unter der Nummer 11 Buchstabe b des Antragsformulars ("Sind oder waren Sie, Ihr Ehegatte oder eine andere Person, zu der die eingetragenen Kinder in einem Kindschaftsverhältnis stehen, in den letzten sieben Monaten vor der Antragstellung...in Deutschland bei einer Dienststelle oder Einrichtung eines anderen Staates oder als Angehöriger der NATO-Streitkräfte tätig?") ist missverständlich formuliert. Das liegt daran, dass der Relativsatz "zu der die eingetragenen Kinder in einem Kindschaftsverhältnis stehen" sich zwar grammatikalisch allein auf die erwähnte "andere Person" bezieht. Gleichwohl drängt sich dem Antragsteller aus der Aneinanderreihung der Person des Antragstellers, des Ehegatten und der "anderen Person, zu der die Kinder in einem Kindschaftsverhältnis stehen" der Eindruck auf, die Frage sei nur dann - bezogen auf den Antragsteller bzw. dessen Ehegatten - relevant, wenn auch zwischen dem Antragsteller bzw. dem Ehegatten und den zuvor im Antrag angegebenen Kindern ein "Kindschaftsverhältnis" besteht. Schließlich handelt es sich um einen Antrag auf "Kindergeld" und anzugeben sind "Kinder". Zutreffend konnte deshalb die Klägerin darauf abstellen, ob ihr gegenwärtiger - britischer - Ehemann aus ihrer Sicht "natürlicher Vater" der angegebenen Kinder ist bzw. ob zwischen ihm und den Kindern ein "Kindschaftsverhältnis" besteht. Dabei darf nach Ansicht des Senats der Klägerin kein Vorwurf daraus gemacht werden, dass sie nicht erkannt hat, dass sich aus der Vorschrift des § 63 Abs. 1 Nr. 2 EStG, die den "Berechtigten" definiert, herleiten lässt, dass (lediglich) kindergeldrechtlich (also weder zivilrechtlich noch einkommensteuerrechtlich) zwischen dem Stiefvater und den Kindern der Klägerin ein "Kindschaftsverhältnis" besteht. Da die Klägerin selber die Antragstellende war, war zunächst ihre eigene Sicht als Antragstellerin entscheidend. Aus dieser Sicht durfte sie auch die Vorschrift des § 63 Abs. 1 Nr. 2 in erster Linie verstehen. Dort heißt es: "Als Kinder werden berücksichtigt...vom Berechtigten in seinen Haushalt aufgenommene Kinder seines Ehegatten". Um Kinder des gegenwärtigen britischen Ehegatten der Klägerin handelte es sich jedoch bei den Kindern B + C nicht.
Dieses Missverständnis hat nach der Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts dazu geführt, dass die Klägerin objektiv etwas falsches erklärt hat. Angesichts der besonderen Umstände, wie vorstehend dargestellt, sieht der Senat darin jedoch keine Erklärungspflichtverletzung. Doch selbst wenn dies der Fall wäre, würde sie von einer Ermittlungspflicht-Verletzung der Behörde deutlich überwogen (vgl. dazu zum Beispiel BFH-Urteil vom 4. Dezember 1992 III R 50/91, BFH/NV 1993 Seite 496).
Grundsätzlich - wie bereits ausgeführt - darf die Behörde von der Vollständigkeit und Richtigkeit der Erklärungen ausgehen. In besonderen Fällen trifft die Behörde jedoch eine erhöhte Ermittlungspflicht. Das ist - wie hier - dann der Fall, wenn eine missverständliche Frage gestellt worden ist. In einem solchen Fall darf die Behörde nicht ohne Weiteres darauf vertrauen, dass die Sachverhaltsdarstellung bzw. die Antwort des Kindergeldantragstellers zutreffend ist.
Hier kommt noch hinzu, dass die Frage 11 Buchstabe b des Antragsformulars auch einen besonderen Sachverhalt, nämlich einen solchen mit Auslandsberührung, betraf (zur besonderen Ermittlungspflicht der Behörde im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO vgl. FG Köln, Urteil vom 18. Juli 2000, 8 K 3485/99, EFG 2002, Seite 3). Es stellt sich für die Kindergeldkasse bei einem in Deutschland wohnenden britischen Staatsangehörigen grundsätzlich die Frage, ob dieser nicht für die in seinen Haushalt aufgenommenen Kinder in Großbritannien kindergeldberechtigt ist. Es ist allgemein bekannt, dass in Norddeutschland Angehörige der britischen Streitkräfte stationiert sind. Für die Beklagte war erkennbar, dass vorliegend ein Fall mit Auslandsberührung vorlag, weil in dem Antragsformular die Staatsbürgerschaft des jetzigen Ehemannes der Klägerin mit "englisch" angegeben war. Die Beklagte hatte daher unabhängig von der Frage unter Nr. 11 Buchstabe b des Antragsformulars Grund gehabt, der Frage nachzugehen, ob der jetzige Ehemann in Großbritannien kindergeldberechtigt war.
In Anbetracht der vom Beklagten zu vertretenden missverständlichen Formulierung der Frage unter Nr. 11 Buchstabe b des Antragsformulars und der sich aus dem Sondertatbestand der Auslandsberührung ergebenden Aufklärungspflicht, überwiegt die Pflichtverletzung der Behörde gegenüber dem möglichen Versäumnis der Klägerin, sich nicht um ein anderes Verständnis der Frage unter Nr. 11 Buchstabe b des Antragsformulars bemüht zu haben.
Nach allem trägt die Kindergeldkasse letztlich die Verantwortung dafür, dass der zutreffende Sachverhalt der Kindergeldkasse erst später bekannt wurde. Die Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist nicht anwendbar. Der Einspruchsbescheid und der Kindergeldaufhebungs- und Rückforderungsbescheid waren daher aufzuheben.
2.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
3.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 1 und 3 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).