Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 31.10.2002, Az.: 14 U 129/01

Kfz-Recht und Verkehr; Mitverschulden des Überholenden; Doppelte Rückschaupflicht des Abbiegers in eine Grundstückseinfahrt; Ausschluß der Fremdgefährdung beim Abbiegen; Verschuldenskürzung wegen totem Winkel

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
31.10.2002
Aktenzeichen
14 U 129/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 16313
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2002:1031.14U129.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Stade - 3 O 33/01 vom 27. 03. 2001

Fundstelle

  • OLGReport Gerichtsort 2003, 39-40

Amtlicher Leitsatz

Zur Abwägung bei Verursachung eines Verkehrsunfalls bei Abbiegen von einer Bundesstraße auf ein Grundstück und eines in diesem Moment überholenden Motorrads.

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers und der Drittwiderbeklagten wird das am 27. März 2001 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Stade unter Zurückweisung der weitergehenden Rechtsmittel teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Klage wird abgewiesen.

Auf die Widerklage werden der Kläger und die Drittwiderbeklagte verurteilt, als Gesamtschuldner an den Beklagten zu 1 3. 798, 58 EUR (7. 429, 37 DM) nebst 4 % Zinsen auf 7. 429, 37 DM für die Zeit vom 24. Juni 2000 bis zum 9. November 2000, 14, 25 % Zinsen auf 7. 429, 37 DM für die Zeit vom 10. November 2000 bis zum 30. November 2001, 13, 75 % Zinsen auf 7. 429, 37 DM für die Zeit vom 1. Dezember 2001 bis zum 31. Dezember 2001 und 13, 75 % Zinsen auf 3. 798, 58 EUR ab dem 1. Januar 2002 abzüglich am 30. Januar 2001 gezahlter 2. 957, 96 DM zu zahlen.

Im Übrigen wird die Widerklage abgewiesen.

Von den Gerichtskosten der ersten Instanz tragen der Kläger und die Drittwiderbeklagte als Gesamtschuldner 31 %, der Kläger weitere 27 % und der Beklagte zu 1 42 %. Von den außergerichtlichen Kosten des Klägers in erster Instanz tragen der Kläger selbst 58 % und der Beklagte zu 1 42 %. Von den außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 1 in erster Instanz tragen der Beklagte zu 1 selbst 42 % und der Kläger und die Drittwiderbeklagte als Gesamtschuldner 31 % sowie der Kläger weitere 27 %. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2 trägt der Kläger. Von den außergerichtlichen Kosten der Drittwiderbeklagten in erster Instanz tragen die Drittwiderbeklagte selbst 43 % und der Beklagte zu 1 57 %.

Von den Gerichtskosten der zweiten Instanz tragen der Kläger und die Drittwiderbeklagte als Gesamtschuldner 38 % sowie der Beklagte zu 1 62 %. Von den außergerichtlichen Kosten des Klägers in zweiter Instanz tragen der Kläger selbst 38 % und der Beklagte zu 1 62 %. Von den außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 1 in zweiter Instanz tragen der Beklagte zu 1 selbst 62 % sowie der Kläger und die Drittwiderbeklagte als Gesamtschuldner 38 %. Von den außergerichtlichen Kosten der Drittwiderbeklagten in zweiter Instanz tragen die Drittwiderbeklagte selbst 38 % und der Beklagte zu 1 62 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Wert der Beschwer übersteigt für keine Partei 20. 000 EUR.

Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 543 Abs. 1 ZPO a. F. , § 26 Nr. 5 EGZPO abgesehen.

Gründe

1

Die zulässige Berufung des Klägers und der Drittwiderbeklagten hat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme teilweise Erfolg. Das angefochtene Urteil war unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels wie geschehen dahin abzuändern, dass der Kläger und die Drittwiderbeklagte auf die Widerklageforderung nur 3. 798, 58 EUR (7. 429, 37 DM) als Gesamtschuldner nebst Zinsen zahlen müssen. Sie haften gemäß §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1 StVG, §§ 1, 3 Nr. 1 PflVG nach einer Quote von 50 % für die Folgen des Verkehrsunfalles vom 24. Juni 2000 gegen 15: 33 h auf der ####### Landstraße in der Gemarkung #######. Wegen der weitergehenden Forderung ist die Widerklage unbegründet und war teilweise abzuweisen.

2

Nach der Einholung des schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dipl. -Ing. ####### vom 20. Juni 2002 steht fest, dass den Beklagten zu 1 ein Verschulden am Zustandekommen des oben genannten Verkehrsunfalles trifft. Er hat gegen seine doppelte Rückschaupflicht gemäß § 9 Abs. 1 S. 4 StVO und seine besondere Sorgfaltspflichten gemäß § 9 Abs. 5 StVO verstoßen. Als Abbiegender in eine Grundstückseinfahrt musste der Beklagte zu 1 jede Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausschließen. Nur wenn dies gewährleistet gewesen wäre, hätte er auf die zweite Rückschaupflicht verzichten dürfen. Den so genannten toten Winkel hatte er zu berücksichtigen (vgl. Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Auflage, § 9 StVO Rn. 24; OLG Köln, NZV 95, 74). Er musste sich vergewissern, dass die nachfolgenden Verkehrsteilnehmer sein Richtungszeigen verstanden hatten (vgl. Jagusch/Hentschel, § 9 StVO Rn. 48). Auf ein erkennbares Überholmanöver hätte der Beklagte zu 1 mit einem Warten reagieren müssen (vgl. OLG Köln, VRS 89, 432; Jagusch/Hentschel, § 9 StVO Rn. 26 + 48). All diese Sorgfaltspflichten hat der Beklagte zu 1 missachtet.

3

Dies alles folgt aus den Ausführungen des Sachverständigen Dipl. -Ing. #######, der überzeugend und nachvollziehbar erläutert hat, dass der Kläger seinen Überholvorgang bereits 100 m hinter dem Beklagten zu 1 begonnen hatte. Dieses Überholmanöver sei für den Beklagten zu 1 erkennbar gewesen. Als sich der Beklagte zu 1 noch in Parallelfahrt zur Mittellinie befunden habe, ca. zwei Sekunden vor der Kollision, habe er den Kläger hinter sich sehen können. Vermutlich habe sich der Kläger zu diesem Zeitpunkt noch auf der rechten Fahrspur hinter dem Beklagten zu 1 befunden. Es sei aber anhand seiner Körperhaltung oder der Schrägstellung des Motorrades erkennbar gewesen, dass der Kläger beabsichtigt gehabt habe, zu überholen. Weiter hat der Sachverständige erklärt, der Beklagte zu 1 sei mit seinem Pkw Mercedes mit der vorderen linken Ecke in das Krad des Klägers hineingefahren, und zwar hinter dem Vorderrad des Motorrades. Das zeigt, dass der Beklagte zu 1 nicht im Sinne der §§ 1 Abs. 2, 9 Abs. 1 S. 4 und Abs. 5 StVO umsichtig genug war, als er seinen Abbiegevorgang einleitete. Anderenfalls wäre er stehen geblieben und hätte sein Abbiegemanöver erst durchgeführt, als er sicher sein durfte, den Kläger nicht zu gefährden.

4

Auf der anderen Seite hat die Beweisaufnahme aber auch ergeben, dass der Kläger seinerseits die Kollision verschuldet hat. Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dipl. -Ing. ####### kann ihm zwar keine Geschwindigkeitsüberschreitung vorgeworfen werden. Der Sachverständige hat festgestellt, dass die maximale Geschwindigkeit des Klägers bei ca. 100 km/h gelegen hat. Das macht sich der Senat trotz der entgegenstehenden Zeugenaussagen zu Eigen, zumal es Zeugen regelmäßig schwer fällt, Geschwindigkeiten korrekt einzuschätzen. Das gilt in besonderem Maße für Kraft- und Motorräder, die durch ihre hohe Geräuschkulisse subjektiv einen schnelleren Eindruck machen, als es objektiv der Fall ist. Der Kläger hat aber das linke Blinkzeichen des Beklagten zu 1 pflichtwidrig außer Acht gelassen und falsch überholt (§ 5 Abs. 3 und Abs. 7 S. 1 StVO). Er hätte sich in der vorgefundenen Situation nicht zu einem Linksüberholen entschließen dürfen, sondern rechts an dem Pkw Mercedes des Beklagten zu 1 vorbeifahren müssen. Angesichts der Fahrweise des Beklagten zu 1 hätte der Kläger entweder damit rechnen müssen, dass der Beklagte zu 1 nach links abbiegen würde. Dann hätte er ihn nicht links überholen dürfen, um seine Weiterfahrt nicht zu behindern (vgl. Jagusch/Hentschel, § 5 StVO Rn. 40 + 67; OLG Köln, VRS 90, 339; OLG Koblenz, VR 78, 576). Oder für den Kläger war ungewiss, wie der Beklagte zu 1 sich verhalten würde. Dann war die Lage unklar, was gleichfalls zu einem Überholverbot führte (vgl. Jagusch/Hentschel, § 5 StVO Rn. 34; OLG Schleswig, NZV 94, 30; KG, VM 90, 52 + 91). Davon, dass der Beklagte zu 1 den linken Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt und sich nach links zur Fahrbahnmitte orientiert hatte, ist der Senat überzeugt. Insoweit schließt er sich der Beweiswürdigung des Landgerichts an. Insbesondere ist den Eheleuten ####### diesbezüglich Glauben zu schenken. Deren Angaben sind im Kern konstant. Sie haben bereits im Ermittlungsverfahren bekundet, dass sich sowohl der Beklagte zu 1 als auch dessen vor ihm herfahrende Ehefrau mit dem Pkw Fiat zur Mitte hin eingeordnet und nach links geblinkt hatten, sowie dass beide Fahrzeuge mehrere Sekunden lang in dieser Position standen. Das spricht für die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben, zumal sie den Beklagten zu 1 und seine Ehefrau an sich hatten vorbei fahren sehen und sich gewundert hatten, dass diese offensichtlich an derselben Feier wie sie selbst teilnehmen wollten. Hierdurch waren die Eheleute ####### veranlasst, genau hinzuschauen. Für ihre Glaubwürdigkeit spricht zudem, dass sie nie einen Hehl daraus gemacht haben, mit dem Beklagten zu 1 und seiner Ehefrau bekannt zu sein. Der Senat hatte unter diesen Umständen keinen Grund, die Zeugenvernehmung zu wiederholen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass das Landgericht deren diesbezüglichen Aussagen falsch gewürdigt haben könnte. Auch den Kläger trifft mithin ein erhebliches Verschulden an dem Verkehrsunfall.

5

Unter Abwägung der jeweiligen Verschuldensbeiträge des Klägers und des Beklagten zu 1 am Zustandekommen des Verkehrsunfalles im Sinne des § 17 Abs. 1 StVG hält der Senat eine Haftungsquote von 50 : 50 für geboten. Sowohl der Kläger als auch der Beklagte zu 1 haben sich jeweils einen groben Verkehrsverstoß vorwerfen zu lassen. Ihre beiden Verursachungsbeiträge wiegen in etwa gleich schwer, weil beide in gleichem Maße eine entscheidende Ursache für den Zusammenstoß gesetzt haben. Dem Beklagten zu 1 oblagen zwar besondere Sorgfaltspflichten, der Kläger hätte aber rechtzeitig erkennen können und müssen, dass der Beklagte zu 1 beabsichtigte, nach links abzubiegen, und adäquat darauf reagieren müssen. Es kann keinem der beiden Unfallverursacher ein größerer Vorwurf gemacht werden als dem anderen.

6

Der Schaden des Beklagten zu 1 ist in der Berufungsinstanz unstreitig. Er beläuft sich auf 14. 858, 74 DM. Hiervon machen 50 % 7. 429, 37 DM (3. 798, 58 EUR) aus, für den der Kläger und die Drittwiderbeklagte gemäß §§ 421 f. , 249 f. BGB a. F. als Gesamtschuldner einzustehen haben. Die unstreitige Zinsforderung des Beklagten zu 1 ist in dem tenorierten Umfange gemäß §§ 246, 288 Abs. 1, 291, 849 BGB a. F. begründet. Der Beklagte zu 1 hat durch Vorlage von Bankbescheinigungen (Bl. 55, 196 d. A. ) die ausgeurteilten Zinssätze schlüssig dargelegt. Ferner war die Währungsumstellung zu berücksichtigen.

7

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 100 Abs. 4 ZPO.

8

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

9

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und eine Entscheidung des Revisionsgerichts weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 543 Abs. 2 ZPO).

10

Die Festsetzung der Beschwer erfolgte im Hinblick auf § 26 Nr. 8 EGZPO.