Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 09.02.2017, Az.: S 38 R 107/15
Rücknahme einer Befreiung von der Rentenversicherungspflicht eines Rechtsanwalts
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 09.02.2017
- Aktenzeichen
- S 38 R 107/15
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2017, 25477
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 44 SGB X
- § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X
Tenor:
- 1.
Der Bescheid der Beklagten vom 28. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2015 wird aufgehoben.
- 2.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft die Rücknahme einer Befreiung von der Rentenversicherungspflicht. Der im September 1954 geborene Kläger absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaft und legte beide Staatsexamen ab. Anschließend war er als Rechtsanwalt in Baden-Württemberg tätig. Er wurde ab dem 1. Juni 1985 Mitglied im Versorgungswerk für Rechtsanwälte in Baden-Württemberg (im Folgenden: Versorgungswerk) und zahlte fünf Zehntel des Regelbeitragssatzes. Im September 1985 zeigte er der Beklagten an, dass er ab dem 1. Oktober 1985 eine versicherungspflichtige Tätigkeit aufnehmen werde. Er beantragte unter Hinweis auf seine Mitgliedschaft im Versorgungswerk die Befreiung von der der Pflichtmitgliedschaft. Ab dem 1. Oktober 1985 änderte der Kläger seinen Beitragssatz gegenüber dem Versorgungswerk auf den vollen Regelbeitragssatz ab. Mit Bescheid vom 14. März 1985 befreite die Beklagte den Kläger ab dem 1. Oktober 1985 antragsgemäß von der Rentenversicherungspflicht. In dem Bescheid hieß es, dass die Befreiung für die Zeit der Mitgliedschaft und einer daran anschließenden freiwilligen Mitgliedschaft in der Versorgungseinrichtung gelte, soweit Versorgungsabgaben in gleicher Höhe geleistet würden, wie ohne die Befreiung Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten zu entrichten wären. In dem Bescheid hieß es weiter, dass der Kläger verpflichtet sei, alle Umstände anzuzeigen, die zum Wegfall der Befreiung von der Versicherungspflicht führten. Das sei insbesondere dann der Fall, wenn die Mitgliedschaft in der Versorgungseinrichtung ende, keine Versorgungsabgaben mehr zu entrichten seien oder Versorgungsabgaben nicht mehr in der dem Einkommen entsprechenden Höhe zu entrichten seien. Die Befreiung ende erst mit dem Widerruf durch die Beklagte. Im Zuge einer Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV bei der Arbeitgeberin des Klägers, der G., teilte diese der Beklagten mit Schreiben vom 28. Dezember 2011 mit, dass der Kläger dem Stab Recht angehöre, der dem Vorstand direkt unterstellt sei. Er sei - wie die anderen Mitarbeiter in diesem Stab - in den Tätigkeitsfeldern Rechtsberatung, Rechtsentscheidung, Rechtsgestaltung und Rechtsvermittlung tätig. Das Versorgungswerk teilte der Beklagten im Februar 2012 mit, dass der Kläger seine Mitgliedschaft bei ihr mit Antrag vom 1. November 1985 fortgesetzt habe und diese Mitgliedschaft auch weiterhin fortbestehe. Das Justizministerium des Landes Baden-Württemberg habe ihr mit Datum vom 21. August 1986 mitgeteilt, dass der Kläger auf seine Zulassung zur Anwaltschaft verzichtet habe. Mit Bescheid vom 28. Februar 2012 widerrief die Beklagte die Befreiung des Klägers von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zum 29. Februar 2012 mit Wirkung für die Zukunft. Die Voraussetzungen für die Befreiung seien bereits 1986 entfallen, weil mit dem Verzicht auf die Anwaltszulassung auch seine Kammerzugehörigkeit endete. Mit dem Verzicht sei eine wesentliche Änderung in den für die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht maßgeblichen Verhältnissen eingetreten. Die Aufhebung der Befreiung von der Rentenversicherungspflicht sei daher zwingend mit Wirkung für die Zukunft anzuordnen. Mit seinem am 16. März 2012 eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, dass er unter Berücksichtigung der Regelungen in § 231 SGB VI Vertrauensschutz genieße. Er sei seit 1985 ununterbrochen Mitglied in dem Versorgungswerk und entrichte seitdem Beiträge in dem gesetzlich gebotenen Umfang. Im Versorgungswerk sei auch die Nachversicherung für seine Referendarzeit durchgeführt worden. Soweit er dennoch zur Pflichtversicherung bei der Beklagten herangezogen werde, könne er keine genügenden Anwartschaften mehr für eine Rente erwirtschaften. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2015 zurück. Die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht sei in seinem Fall davon abhängig gewesen, dass er Pflichtmitglied in einem berufsständischen Versorgungswerk geworden sei. Mit dem Wegfall der Voraussetzungen für die Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk entfielen auch von Gesetzes wegen die Voraussetzungen für eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht. In seinem Falle sei mit dem Verzicht auf die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft keine Pflichtmitgliedschaft im Versorgungswerk mehr möglich gewesen. Die Befreiungsentscheidung habe unter diesen Umständen keine Wirkung mehr entfalten können. Seine Pflichtmitgliedschaft in der Rentenversicherung sei zu diesem Zeitpunkt von Gesetzes wegen eingetreten. Die freiwillige Versicherung im Versorgungswerk stehe einer Pflichtversicherung nicht gleich. Mit seiner am 8. März 2015 bei dem Sozialgericht Lüneburg erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Anliegen auf Fortbestehen der Befreiungsentscheidung der Beklagten weiter. Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 28. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2015 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält ihre Entscheidung für zutreffend. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorganges der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 28. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2015 verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, weil die Beklagte gegenüber dem Kläger nicht berechtigt ist, ihre Befreiungsentscheidung vom 14. März 1986 aufzuheben. Die Beklagte hat die Aufhebung ihrer Befreiungsentscheidung auf § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X gestützt. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der maßgebliche Befreiungsbescheid der Beklagten vom 14. März 1986 beruhte auf der seinerzeit noch geltenden Vorschrift des § 7 Abs. 2 AVG. Danach wurden auf Antrag Personen von der Versicherungspflicht befreit, die aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglieder einer öffentlich-rechtlichen Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe sind, wenn für die angestellten Mitglieder nach näherer Maßgabe der Satzung einkommensbezogene Beiträge unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze zu entrichten sind und auf Grund dieser Beiträge Leistungen für den Fall der Invalidität und des Alters sowie für Hinterbliebene erbracht und angepasst werden, wobei auch die finanzielle Lage der Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung zu berücksichtigen ist. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Befreiungsentscheidung im März 1986 waren diese Voraussetzungen bei dem Kläger erfüllt. Denn er war seit Mitte 1985 zugelassener Rechtsanwalt und damit in der Versorgungseinrichtung versicherungspflichtig. Auch die übrigen Voraussetzungen sind zwischen den Beteiligten nicht streitig. Eine Änderung ergab sich zunächst auch durch die zusätzliche Aufnahme einer abhängigen Beschäftigung des Klägers als sogenannter Syndikus Anwalt bei der G. zum 1. Oktober 1985 nicht. Denn der Kläger blieb Kammermitglied und damit auch Mitglied der Versorgungseinrichtung und war dies auch noch zum Zeitpunkt der Befreiungsentscheidung. Die Beklagte hat eine wesentliche Änderung in den für die Befreiungsentscheidung vom 14. März 1986 maßgeblichen Verhältnissen darin gesehen, dass der Kläger im Verlaufe des Jahres 1986 auf seine Zulassung zur Rechtsanwaltschaft verzichtet hatte, damit nicht mehr Mitglied der Rechtsanwaltskammer und daraus folgend auch nicht mehr Pflichtmitglied des Versorgungswerkes war. Insoweit ist der Beklagten Recht zu geben. Denn nach § 10 Abs.2 Satz 1 der Satzung des Versorgungswerkes scheiden Mitglieder aus, wenn sie einer Rechtsanwaltskammer in Baden-Württemberg nicht mehr angehören. Allerdings wurde die Mitgliedschaft im Versorgungswerk nach § 10 Abs. 2 Satz 2 der Satzung mit allen Rechten und Pflichten aufrechterhalten, wenn das Mitglied dies innerhalb einer Ausschlussfrist von 6 Monaten nach dem Ausscheiden aus der Pflichtversicherung beantragte. So liegt es hier. Der Kläger hat den Antrag auf Fortbestehen der Mitgliedschaft gestellt, ist weiterhin bis heute Mitglied im Versorgungswerk und zahlt die nach dem Gesetz erforderlichen Beiträge. Der Kläger steht nach wie vor in der Beschäftigung, die der damaligen Befreiungsentscheidung zugrunde lag. Unter Berücksichtigung dieser Umstände, die zum Einen dadurch geprägt sind, dass die Rentenversicherungsträger für Betroffene, die dem Personenkreis des Klägers zuzuordnen sind, in der Vergangenheit regelmäßig Befreiungen erteilt hat und zum Anderen dadurch, dass im konkreten Fall des Klägers die Befreiungsentscheidung nach 27 Jahren aufgehoben wurde, hält die Kammer dieses Vorgehen der Beklagten für rechtswidrig, weil damit schutzwürdiges Vertrauen des Klägers verletzt wird. Sie schließt sich insoweit der Auffassung des Bundessozialgerichtes (BSG) an, das in mehreren Entscheidungen vom 3. April 2014 (vgl. u.a. AZ: B 5 RE 13/14) angemerkt hat, dass Betroffene wie der Kläger ein rechtlich geschütztes Vertrauen in den Bestand der Befreiungsentscheidungen hat, das über die den Schutz der §§ 44 ff. SGB X hinausgeht. Es hat dies überzeugend damit begründet, dass insbesondere die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung (wenn auch ohne gesetzliche Grundlage) die den Befreiungsentscheidungen zugrundeliegende "Vier-Kriterien-Theorie" selbst mit befördert und angewandt hätten. Schon weil damit bei der gebotenen typisierenden Betrachtung Lebensentscheidungen über die persönliche Vorsorge nachhaltig mit beeinflusst wurden, könne einer Änderung der Rechtsauffassung hinsichtlich ergangener Befreiungsentscheidungen grundsätzlich keine Bedeutung zukommen (vgl Urteil vom 3.4.2014, B 5 RE 13/14 R, Rdnr.58, zitiert nach [...] Das Rechtsportal). So liegt es hier. Aus der Befreiungsentscheidung der Beklagten vom 14. März 1986 geht eindeutig hervor, dass die Befreiung auch dann fortgelten sollte, wenn die Mitgliedschaft im Versorgungswerk von der Pflichtmitgliedschaft in eine freiwillige Mitgliedschaft umgestaltet wird. Diese Passage in dem Bescheid vom 14. März 1986 steht im Widerspruch zu der seinerzeit geltenden gesetzlichen Regelung in § 7 Abs. 2 AVG. Darauf hat sich die Beklagte jahrzehntelang aber nicht berufen. Der Kläger konnte somit im Februar 2012 zu Recht darauf vertrauen, dass er seine Altersvorsorge im Versorgungswerk bis zum Ende der Beschäftigung, für die ihm die Befreiung erteilt wurde, fortsetzen kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.