Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 14.02.2017, Az.: S 2 U 10/14
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 14.02.2017
- Aktenzeichen
- S 2 U 10/14
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2017, 25469
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Tenor:
- 1.)
Der Bescheid der Beklagten vom 19.09.2013 und der Widerspruchsbescheid vom 18.12.2013 werden aufgehoben.
- 2.)
Es wird festgestellt, dass es sich bei dem Ereignis vom 29.11.2012 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat.
- 3.)
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Arbeitsunfalls während einer stationären Behandlung zur medizinischen Rehabilitation (§ 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII).
Die im Jahr 1953 geborene Klägerin ist Lehrerin für lernbehinderte Jugendliche im hauswirtschaftlichen Bereich. Vom 22.11.2012 - 11.12.2012 befand sie sich in Trägerschaft der Deutschen Rentenversicherung zu einer medizinischen Reha-Maßnahme in der H. in I ... Während ihres Aufenthalts bewohnte sie das Zimmer 722 auf der 7. Ebene. Am Abend des 29.11.2012 gegen 20.15 Uhr befand sie sich auf dem Rückweg von dem Vortrag "Hexen und Mythen im Harz", der von der Klinik im Klinikbereich als Abendveranstaltung angeboten worden war. Dabei erlitt sie einen Unfall, als sie am Übergang vom Treppenhaus zum Eingang der 7. Ebene wegen einer Vertiefung im Flurbereich stürzte und zu Fall kam. Nach dem Durchgangsarztbericht von Dr. J. vom 12.12.2012 zog sie sich dabei "eine Prellung im rechten Kniegelenk" zu. Im Schreiben vom 05.05.2013 teilte sie der Beklagten ergänzend mit, dass der Unfall auf eine unsichtbare Vertiefung unterhalb des Teppichbodens zurückzuführen sei. Im Übrigen nahm die Klägerin Bezug auf ihr Schreiben vom 30.12.2012 an die H ... Darin war unter anderem auf die mangelhafte Beleuchtung in diesem Bereich hingewiesen worden, da von 7 Lampen im Flur nur 2 in Betrieb gewesen seien.
Mit dem Bescheid vom 12.06.2013 erstattete die Beklagte der Klägerin Fahrtkosten und Verdienstausfall i. H. v. 98,86 EUR.
Im Schreiben vom 07.09.2013 führte die Klägerin ergänzend aus, dass die Teilnahme an der Abendveranstaltung freiwillig und nicht ärztlich angeordnet gewesen sei. Es hätten ca. 70 Patienten daran teilgenommen. Für den Unfall würden keine Zeugen existieren. Sie habe diesen Weg vor dem Unfall ca. 10 - 12 mal/Tag benutzt, da keine alternative Wegstrecke zu ihrem Zimmer existiert habe. Im Übrigen seien auch die an die Vertiefung heranreichenden Fliesen locker gewesen.
Mit dem Bescheid vom 19.09.2013 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 29.11.2012 als Arbeitsunfall ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die Klägerin auf dem Rückweg von einer privaten Tätigkeit befunden und somit ein Zusammenhang mit der medizinischen Behandlung nicht bestanden habe. Außerdem sei der Unfall nicht auf besondere Gefahrenmomente im Klinikbereich zurückzuführen, da sich die Klägerin am Unfalltag bereits seit 8 Tagen in der Klinik befunden habe und nach ihren Angaben den Weg bis zu 12 mal/Tag gegangen sei. Daher sei davon auszugehen, dass ihr die Vertiefung im Bodenbelag und die schlechte Beleuchtung bekannt gewesen seien. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 18.12.2013 zurückgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin am 20.01.2014 beim Sozialgericht (= SG) Lüneburg Klage erhoben und geltend gemacht, dass sie weiterhin unfallbedingt an einer gravierenden Mobilitätsstörung und erheblichen Kopfschmerzen leiden würde. Während der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Ansicht vertritt, dass sämtliche Unfälle, die sich auf dem Klinikgelände ereignen, vom Versicherungsschutz des § 2 Abs. 1 Nr. 15 a SGB VII erfasst seien, existiert nach Auffassung der Beklagten im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung - außerhalb der Schifffahrt - kein sog. Betriebsbann.
In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin ergänzend ausgeführt, dass ihr die Vertiefung im Boden, die nach ihrer Einschätzung ca. 4 cm und vom Umfang her 10 × 15 cm betragen habe, vor dem Unfall nicht aufgefallen sei. Dies habe daran gelegen, dass die Vertiefung vom Teppichboden überdeckt gewesen sei. Es sei ihr lediglich aufgefallen, dass die Fliesen, die bis an den Teppichboden herangereicht hätten, locker gewesen sein. Nach dem Unfall habe sie sich die Vertiefung im Boden näher betrachtet und diese auch einer Mitpatientin gezeigt. Dabei sei lediglich zu erkennen gewesen, dass der Teppichboden leicht eingedellt gewesen sei. Man habe aber die Vertiefung in ihrem wahren Ausmaß nicht erkennen können. Im Übrigen habe sich der Unfall zu einem Zeitpunkt ereignet, als kein Tageslicht mehr vorhanden gewesen sei. Sie selbst habe die Flurbeleuchtung nicht einschalten können, weil sich der Lichtschalter hinter der Unfallstelle befunden habe. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
- 1.)
den Bescheid der Beklagten vom 19.09.2013 und den Widerspruchsbescheid vom 18.12.2013 aufzuheben,
- 2.)
festzustellen, dass es sich bei dem Ereignis vom 29.11.2012 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen des Beklagten erweisen sich als rechtswidrig und waren aufzuheben, da es sich bei dem Ereignis vom 29.11.2012 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat.
Gem. § 8 Abs. 1 S.1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalles ist es danach i. d. R. erforderlich, dass das Verhalten des Versicherten, bei dem sich der Unfall ereignet hat, einerseits der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist und dass diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat. Zunächst muss also eine sachliche Verbindung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit bestehen, der innere bzw. sachliche Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen (BSGE 63, 273, 274 [BSG 28.06.1988 - 2 RU 60/87] = SozR 2200 § 548 Nr. 92; Bundessozialgericht (= BSG) SozR 2200 § 548 Nrn 82 und 97; SozR 3-2200 § 548 Nrn 19 und 26). Der innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht (BSGE 58, 76, 77 [BSG 30.04.1985 - 2 RU 24/84] = SozR 2200 § 548 Nr. 70; BSGE 61, 127, 128 = SozR 2200 § 548 Nr. 84). Innerhalb dieser Wertung stehen bei der Frage, ob der Versicherte zur Zeit des Unfalls eine versicherte Tätigkeit ausgeübt hat, Überlegungen nach dem Zweck des Handelns mit im Vordergrund (BSG SozR 3-2200 § 548 Nr. 19).
Die Klägerin war während der ihr gewährten stationären Behandlung nach § 2 Abs. 1 Nr. 15 a SGB VII grundsätzlich gegen Arbeitsunfall versichert. Allerdings besteht nach der ständigen Rechtsprechung des BSG nicht schlechthin während der gesamten Dauer der stationären Behandlung Versicherungsschutz. Ein nur zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen der stationären Behandlung und dem Unfall genügt nicht. Vielmehr wird auch im Rahmen des § 2 Abs. 1 Nr. 15 a SGB VII entsprechend den o g. Grundsätzen ein innerer ursächlicher Zusammenhang vorausgesetzt. Der Versicherungsschutz bei einer stationären Behandlung ist dabei dadurch begründet, dass der Versicherte sich in eine besondere Einrichtung begeben muss und dort überwiegend anderen Risiken ausgesetzt ist als zu Hause (BSGE 46, 283, 285; 55, 10, 12). Versicherungsschutz besteht somit bei allen Verrichtungen, die im ursächlichen Zusammenhang mit der stationären Behandlung stehen. Demgegenüber besteht bei Tätigkeiten, die wesentlich allein von der stationären Behandlung unabhängigen privaten Interessen des Versicherten dienen - wie auch im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses - grundsätzlich kein Versicherungsschutz (BSG SozR 2200 § 539 Nr. 42). Die Ansicht des Prozessbevollmächtigten der Klägerin, dass schlichtweg jeder Unfall, der sich auf dem Klinikgelände ereignet, vom Versicherungsschutz des § 2 Abs. 1 Nr. 15 a SGB VII umfasst werde, ist daher mit der Rechtsprechung des BSG nicht in Einklang zu bringen. Auch im vorliegenden Fall fehlte es zum Unfallzeitpunkt an dem nach § 2 Abs. 1 Nr. 15 a i. V. m. § 8 Abs. 1 SGB VII erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall und der stationären Behandlung. Hierzu ist es grundsätzlich erforderlich, dass sich ein Unfall bei einer Betätigung ereignet, die der Mitwirkung des Versicherten an einer ärztlich bzw. therapeutisch angeordneten oder empfohlenen Behandlungsmaßnahme diente. Dies war hier nicht der Fall, da der Besuch des Vortrags "Hexen und Mythen im X." einschließlich des Rückwegs in das Zimmer nicht im Zusammenhang mit der medizinischen Behandlung stand. Es handelt sich somit um eine rein private bzw. eigenwirtschaftliche Tätigkeit der Klägerin, für die an sich kein Versicherungsschutz bestand.
Dennoch ist der Unfall der Klägerin ein Arbeitsunfall, da er sich durch das Wirksamwerden einer mit dem Aufenthalt in der Kurklinik verbundenen, besonderen Gefahr ereignet hat (BSG SozR 2200 § 539 Nr. 72; BSG, Urt. v. 30.01.1985 - 2 RU 32/85). In diesem Fall ist der Versicherungsschutz auch bei Annahme einer eigenwirtschaftlichen Betätigung zu bejahen. Dabei geht die Kammer davon aus, dass sich der Unfall so zugetragen hat, wie er von der Klägerin im Laufe des Verfahrens und in der mündlichen Verhandlung geschildert wurde. Zwar existieren hierfür keine Zeugen. Gleichwohl können auch die glaubwürdigen Angaben eines Beteiligten nach persönlicher Anhörung durch das Gericht als Entscheidungsgrundlage herangezogen werden (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, § 103 Rz. 12, m. w. N.; BSG SozR Nr. 56 zu § 128 SGG, Gutzler, SGB 2009, 73, 75; Möhlenbruch NZS 2011, 417, 420). Nach den in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrücken hält die Kammer die im Laufe des Verfahrens gemachten Angaben der Klägerin für glaubhaft.
Die o. g. Bodenvertiefung hat dabei für die Klägerin - und auch für alle anderen Personen, die diesen Weg benutzten - ein erhebliches Risiko dargestellt. Es hat sich auch nicht um eine Gefährdung allgemeiner Art gehandelt, welcher die Klägerin in gleicher Weise bei jedem anderen Weg zwischen dem Treppenhaus und dem Eingang zur Wohnebene ausgesetzt war und mit der sie hätte rechnen können. Die Gefahr war vielmehr viel zu spezifisch, da in Klinikbereichen dieser Art nicht grundsätzlich mit derartigen - verdeckten - Baumängeln gerechnet werden muss. Es handelt sich vielmehr um eine spezielle, besonders heimtückische Gefahr, da die genannte Vertiefung unter dem Teppichboden verborgen war. Erst nach genauerem Hinsehen war eine leichte Eindellung des Teppichbodens zu erkennen, die aber auch nicht das gesamte Ausmaß der Vertiefung offenbarte. Außerdem bestanden zum Unfallzeitpunkt ungünstige Lichtverhältnisse, so dass die Klägerin ohnehin keine Chance hatte, die Gefährdung zu erkennen. Entgegen den bisherigen Annahmen der Beklagten war der Klägerin die Gefährdung auch nicht vor dem Unfall bekannt. Obwohl sie bis zum Unfallzeitpunkt die Strecke bereits 10 - 12 mal/Aufenthaltstag zurückgelegt hatte, hat sie in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargestellt, dass ihr die Vertiefung bislang nicht aufgefallen war.
Die Klägerin stand somit bei dem angeschuldigten Ereignis unter den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Da sie sich dabei unstreitig "eine Prellung des rechten Kniegelenks" zugezogen hat, liegt auch ein sog. Erstkörperschaden vor, so dass das Ereignis als Arbeitsunfall anzuerkennen war. Ob darüber hinaus weitere bei der Klägerin vorliegende Gesundheitsstörungen Folgen des angeschuldigten Ereignisses sind, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens.
Schließlich kann auch dahinstehen, ob bereits im Bescheid vom 12.06.2013, welcher die Erstattung von Fahrtkosten aufgrund einer unfallbedingten Behandlung zum Gegenstand hatte, konkludent eine Anerkennung des streitgegenständlichen Ereignisses als Arbeitsunfall erfolgt war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.