Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 31.01.2017, Az.: L 7 BK 5/16
Gewährung eines Kinderzuschlags; Beendigung des Rechtsstreits durch Rücknahmefiktion der Klage
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 31.01.2017
- Aktenzeichen
- L 7 BK 5/16
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2017, 14153
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Bremen - 18.05.2016 - AZ: S 12 BK 30/15 WA
Rechtsgrundlagen
- § 67 SGG
- § 102 Abs. 2 S. 1 SGG
- § 159 Abs. 1 Nr. 1, 2 SGG
- § 6a BKGG
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 18. Mai 2016 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Bremen zurückverwiesen, welches auch über die Kosten des Berufungsverfahrens entscheiden wird.
Tatbestand
Mit der am 13. Oktober 2010 erhobenen Klage hat sich die Klägerin gegen die Ablehnungsentscheidung der Beklagten gewandt, keinen Kinderzuschlag für ihre vier Kinder für den Zeitraum Juli 2008 - September 2008 zu gewähren, weil die Mindesteinkommensgrenze gemäß § 6a Abs. 1 Nr. 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) nicht erreicht sei. In den folgenden vier Jahren hat das angerufene Sozialgericht (SG) Bremen bis auf diverse "Schiebeverfügungen" nichts Prozessförderndes veranlasst. Mit Verfügung vom 4. November 2014 wird die Klägerin nach einem Wechsel im Kammervorsitz an die Abgabe einer Klagebegründung erinnert. Nach Eingang von Stellungnahmen beider Beteiligten hat das SG diese zum beabsichtigten Erlass eines Gerichtsbescheides nach § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehört. Mit weiterem Schreiben vom 2. Juni 2015 hat das SG mitgeteilt, an der Ankündigung nach § 105 SGG nicht mehr festhalten zu wollen und die Klägerin zu weiteren Auskünften aufgefordert. Mit Schriftsatz vom 28. Mai 2015 hat die Beklagte wegen eines zeitgleich laufenden Antragsverfahrens auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) die Beiladung des Jobcenters angeregt.
Mit Schreiben vom 1. September 2015 hat das SG unter Hinweis darauf, dass gemäß § 102 Abs. 2 SGG die Klage als zurückgenommen gilt, wenn die Klägerin länger als drei Monate das Verfahren nicht betreibt, die Klägerin aufgefordert, die Gehaltsabrechnungen und vollständige Kontoauszüge für den Zeitraum vom 1. Januar 2008 bis zum 30. September 2008 sowie Belege über die gezahlten Kosten der Unterkunft und Heizung für diesen Zeitraum vorzulegen. Diese Verfügung ist am 5. September 2015 der Prozessbevollmächtigten der Klägerin zugestellt worden. Mit Fax vom 8. Dezember 2015 hat die Klägerin Fotokopien von Lohnabrechnungen eingereicht, die schlecht lesbar sind. Mit Schreiben vom 10. Dezember 2015 hat das SG den Beteiligten mitgeteilt, dass das Verfahren gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG im Prozessregister als durch "Klagerücknahme erledigt" ausgetragen worden sei, weil die Dreimonatsfrist am 7. Dezember 2015 abgelaufen und das Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin erst am 8. Dezember 2015 eingegangen sei.
Am 7. Januar 2015 hat die Klägerin die Fortsetzung des Verfahrens, hilfsweise die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Ihre Prozessbevollmächtigte habe im Fristkalender eine Erledigungsfrist bis zum 16. November 2015 eingetragen, die später als erledigt durchgestrichen worden sei. Die Prozessbevollmächtigte erinnere sich daran, die Unterlagen nebst Kopien, die sie von der Klägerin davor auf anders farbigem Papier als Kopie erhalten habe, eingereicht zu haben. Die Unterlagen müssten folglich spätestens bis zum 19. November 2015 im Postfach angekommen sein. Vermutlich seien diese Unterlagen irrtümlich in das Prozesskostenhilfe-Heft einsortiert worden. Fotokopien dieser Unterlagen werden deshalb erneut beigefügt.
Mit Gerichtsbescheid vom 18. Mai 2016 stellt das SG Bremen fest, dass der Rechtsstreit durch Klagerücknahme beendet worden sei. Auf die Beitreibungsaufforderung gemäß § 102 Abs. 2 SGG vom 1. September 2015 habe die Klägerin keinerlei Reaktionen gezeigt. Hiergegen richtet sich die am 13. Juni 2016 eingegangene Berufung der Klägerin.
Die Klägerin beantragt,
- 1.
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 18. Mai 2016 sowie den Bescheid der Beklagten vom 4. Dezember 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Mai 2010 aufzuheben,
- 2.
ihr Leistungen nach § 6a BKGG in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet und führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG Bremen.
1. Der Rechtsstreit ist nicht durch eine fiktive Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG beendet. Danach gilt die Klage als zurückgenommen, wenn ein Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.
a) Diese Rücknahmefiktion kommt - wie vom Bundesverfassungsgericht zur gleichlautenden Regelung in der Verwaltungsgerichtsordnung festgestellt (BVerfG, Beschluss vom 17. September 2012 - 1 BvR 2254/11) - nur in engbegrenzten Ausnahmefällen in Betracht, in denen sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers vorliegen, weil ihm offensichtlich an einer Sachentscheidung mangels Sachbescheidungsinteresses nicht mehr gelegen ist. § 102 Abs. 2 SGG ist kein Verfahrensmittel zur bequemen Erledigung von Verfahren oder zur Sanktionierung von nicht befolgten prozessleitenden Verfügung oder überforderten Prozessbevollmächtigten, sondern soll im Lichte des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz nur in begründeten Ausnahmefällen zur Anwendung kommen. Im Streit um Leistungen nach dem SGB II bzw. um die alternative Leistung Kinderzuschlag nach § 6a BKGG kann nur ausnahmsweise auf ein zwischenzeitlich entfallenes Rechtsschutzinteresse der klägerischen Partei geschlossen werden (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16. Juni 2010 - L 5 AS 217/10 -).
b) Es bestehen Zweifel, ob sich dieser Rechtsstreit nach jahrelanger Nichtbearbeitung durch das SG und Unterlassung einer nach § 75 Abs. 2 SGG notwendigen Beiladung überhaupt für eine fiktive Erledigung nach § 102 Abs. 2 SGG eignet. Selbst bei nach Wechsel im Kammervorsitz erweckter Erledigungseile darf das SG nicht übersehen, dass nach Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) der Antrag auf Kinderzuschlag gleichzeitig das Begehren auf Leistungen nach dem SGB II enthält (BSG, Urteil vom 10. Mai 2011 - B 4 KG 1/10 R - SozR 4-5870 § 6a Nr. 2, Rdnr. 26), so dass der zuständige Grundsicherungsträger beizuladen war, zudem die Beklagte dies mit dem Hinweis darauf angeregt hatte, dass dort die vom SG angeforderten Unterlagen vorhanden sein könnten.
c) Entscheidend ist auf jeden Fall vorliegend, dass die Klägerin sich innerhalb der Dreimonatsfrist mit zwei Schriftsätzen vom 16. November 2015, eingegangen am 19. November 2015, gemeldet und u.a. die in diesem Rechtsstreit angeforderten Unterlagen eingereicht hat. Diese Unterlagen sind im Prozesskostenhilfeheft des parallel laufenden Rechtsstreits für einen späteren Zeitraum (Az: S 12 BK 33/11) abgeheftet worden. Zwar hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin in beiden Schriftsätzen in der Betreffzeile das falsche Aktenzeichen angegeben. Auf dem PKH-Vordruck hat die Klägerin aber handschriftlich vermerkt, dass diese Unterlagen zu dem Streitgegenstand: "Stand 06-09/2008 - gehören, also zu dem vorliegenden Klageverfahren. In einem der beiden Schreiben vom 16. November 2015 hat die Prozessbevollmächtigte ferner Folgendes vorgetragen: "Die Unterlagen sind heute zum Verfahren S 12 BK 20/10 vollständig eingereicht worden. Die Unterlagen werden von daher als gerichtsbekannt angesehen". Bei dem Aktenzeichen S 12 BK 20/10 handelt es sich um das ursprüngliche sozialgerichtliche Aktenzeichen des Klageverfahrens. Der Inhalt des PKH-Heftes in S 12 BK 33/11 war dem SG bekannt, wie sich aus dem Aktenvermerk desselben Kammervorsitzenden vom 17. Dezember 2015 ergibt (Bl. 95 des Parallel-Rechtsstreits, Az: L 7 BK 6/16). Jedenfalls kann bei dieser Sachlage nicht ernsthaft von einer Untätigkeit der Klägerin innerhalb der Dreimonatsfrist bzw. vom Wegfall des Rechtsschutzinteresses ausgegangen werden.
2. Der Rechtsstreit ist gemäß § 159 Abs. 1 SGG an das SG zurückzuverweisen. Danach kann das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil die Sache an das SG zurückverweisen, wenn (1) dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, (2) das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und aufgrund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. Beide Voraussetzungen sind erfüllt.
a) Einer Klageabweisung ohne inhaltliche Entscheidung im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG ist nach Auffassung des Senates ein Urteil des SG gleichzusetzen, mit dem die fiktive Klagerücknahme gemäß § 102 Abs. 2 SGG festgestellt wird. Diese Auslegung folgt daraus, dass die Vorschrift nicht nur den Fall erfasst, dass das SG zu Unrecht durch Prozessurteil entschieden hat, sondern darüber hinaus auch greift, wenn das SG aus anderen Gründen zu Unrecht nicht in der Sache entschieden hat (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26. Januar 2012 - 3 C 8/11 - zu § 130 Abs. 2 VwGO). Das ist deshalb gerechtfertigt, weil vorliegend das SG - wie beim Prozessurteil - zum eigentlichen Streitgegenstand gar nicht vorgedrungen ist, weil es im Verkennen der Sach- und Rechtslage die Weichen falsch gestellt und sich infolgedessen an einer Sachentscheidung gehindert gesehen hat.
b) Das Verfahren leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG.
aa) Das SG hätte gemäß § 75 Abs. 2 SGG den Grundsicherungsträger beiladen müssen. Das ergibt sich zum einen - wie bereits oben ausgeführt - daraus, dass bei Ablehnung des Kinderzuschlags nach § 6a BKGG mit der Begründung, dadurch könnte Hilfebedürftigkeit nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) nicht abgewendet werden, mit dem Antrag auf den Kinderzuschlag gleichzeitig Arbeitslosengeld II beantragt wird (BSG, Urteil vom 10.05.2011 - B 4 KG 1/10 R - SozR 4-5870 § 6a Nr. 2 [...] Rdz. 26). Zum zweiten ergibt sich die Notwendigkeit der Beiladung zwingend daraus, dass nach Angaben der Beklagten die Klägerin für den hier streitigen Zeitraum auch SGB II-Leistungen beim Jobcenter beantragt hat. Das Unterlassen einer notwendigen Beiladung nach § 75 Abs. 2 SGG stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar (BSG, Urteil vom 23. August 2013 - B 8 SO 10/12 R -, SozR 4-1500 § 130 Nr. 4, [...] Rdnr. 10).
bb) Das SG hat ferner über den Hilfsantrag der Klägerin, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, nicht entschieden. Wie aus einem späteren Schreiben des Kammervorsitzenden ersichtlich, geht dieser davon aus, dass es sich beim § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG um eine Ausschlussfrist handele, in die eine Wiedereinsetzung grundsätzlich nicht möglich sei. Diese Rechtsauffassung befreit jedoch das SG nicht, will es keinen Verfahrensfehler begehen, förmlich über diesen Antrag zu entscheiden. Im Übrigen ist es höchstrichterlich nicht geklärt, ob bei der fiktiven Klagerücknahme § 67 SGG einschlägig ist oder nicht (verneinend: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18. August 2015 - L 16 KR 224/15 B -; bejahend: Müller in Roos/Wahrendorff SGG-Kommentar, § 102 Rdnr. 27). Ferner hat das SG verkannt, dass selbst wenn in § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG eine Ausschlussfrist gesehen wird, eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der gesetzten Frist im Falle "höherer Gewalt" in Betracht kommt, wobei als Fall höherer Gewalt auch der Verlust einer Klagebegründung oder eines anderen Schriftsatzes im Geschäftsgang eines Gerichtes anzusehen ist (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 06. August 2009 - L 14 AS 1005/09 B -; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Januar 2016 - L 19 AS 1863/15 B - Rdnr. 14).
cc) Durch diese Verfahrensdefizite werden umfangreiche Ermittlungen, gegebenenfalls auch eine Beweisaufnahme erforderlich, wie die langen Verfügungen des SG zeigen. Das SG muss selbst darüber befinden, ob die eingereichten Unterlagen für die Bildung einer richterlichen Überzeugung ausreichen oder nicht.
c) Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens hat der Senat das Interesse der Klägerin an einer möglichst zeitnahen Entscheidung gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abzuwägen und insbesondere zu berücksichtigen, dass die Zurückweisung dies Ausnahme sein soll (Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG-Kommentar, 11. Auflage 2014, § 154 Rdz. 5 - 5g). Angesichts der erheblichen Mängel des sozialgerichtlichen Verfahrens hat sich der Senat für eine Zurückverweisung entschieden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Rechtsstreit noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist und weitere Ermittlungen zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlich sind. Das SG wird am besten überprüfen können, ob möglicherweise innerhalb der dreimonatigen Frist des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG auch in diesem Verfahren die angeforderten Unterlagen, wie die Klägerin behauptet, eingegangen und wo anders verlegt worden sind. Der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, dass diese Klage nunmehr abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln ist. Vielmehr stellt die Zurückverweisung die dem gesetzlichen Modell entsprechenden Zweitatsacheninstanzen wieder her.
3. Das SG wird in seiner Kostenentscheidung schließlich auch über die Kosten der Berufung zu befinden haben.
Gesetzliche Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.