Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 26.01.2017, Az.: L 10 SB 39/16
Neufeststellung eines Grades der Behinderung (GdB) durch das Versorgungsamt; Feststellung des Grades der Behinderung nach dem SGB IX; Erhöhung des Gesamt-GdB durch einen Teil-GdB von 20
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 26.01.2017
- Aktenzeichen
- L 10 SB 39/16
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2017, 14150
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - 03.03.2016 - AZ: S 6 SB 285/13
Rechtsgrundlagen
- § 69 Abs. 1 SGB IX
- § 48 Abs. 1 SGB X
- § 69 SGB IX
- Anlage zu § 2 Teil A Nr. 3 Buchst. d) Doppelbuchst. aa) und Doppelbuchst. bb) VersMedV
Redaktioneller Leitsatz
Die Feststellung des GdB richtet sich nach der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008.
Tenor:
Auf die Berufung des Beklagten werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 3. März 2016 sowie der Bescheid des Beklagten vom 28. Mai 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Oktober 2013 abgeändert.
Der Beklagte wird verurteilt, bei dem Kläger ab dem 13. Januar 2014 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Im Übrigen werden die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers beider Rechtszüge zu 3/4 zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Neufeststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 seit dem 21. Dezember 2012.
Das Versorgungsamt Berlin stellte bei dem 1957 geborenen Kläger mit Bescheid vom 24. Juni 1999 einen GdB von 30 fest, gestützt auf die Funktionsbeeinträchtigungen
- gering- bis mittelgradig kombinierte Schwerhörigkeit beiderseits bei chronischer Mittelohrentzündung - Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, Adipositas, Fettstoffwechselstörung - Schilddrüsenleiden.
Am 21. Dezember 2012 beantragte der Kläger die Feststellung eines höheren GdB ab Antragstellung. Mit Bescheid vom 28. Mai 2013 hob der Beklagte den Bescheid vom 24. Juni 1999 insoweit auf, als er bei dem Kläger ab dem 21. Dezember 2012 einen GdB von 40 feststellte, gestützt auf die Funktionsbeeinträchtigungen
1. Herz-/Kreislaufschaden, Adipositas, Fettstoffwechselstörung (Einzel-GdB 20) 2. gering- bis mittelgradig kombinierte Schwerhörigkeit beiderseits bei chronischer Mittelohrentzündung (Einzel-GdB 20) 3. seelische Erkrankung (Einzel-GdB 20).
Den gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31. Oktober 2013, zugegangen am 4. November 2013, als unbegründet zurück.
Dagegen hat der Kläger am 4. Dezember 2013 Klage bei dem Sozialgericht (SG) Lüneburg erhoben, mit der er die Feststellung eines GdB von mindestens 50 begehrt hat. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, die Schilddrüsenfunktionsstörung, der Diabetes mellitus, seine seelische Erkrankung sowie die Hörschädigung seien bisher nicht ausreichend berücksichtigt worden. Das SG hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers beigezogen sowie Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Innere Medizin Dr. I. vom 8. Februar 2015. Dieser gelangte in seinem Gutachten im Wesentlichen zu dem Ergebnis, dass sich auf internistischem Gebiet ein Gesamt-GdB von 30 ab Antragstellung feststellen ließe. Dieser beruhe im Wesentlichen auf der festgestellten Herzfunktionsminderung bei Bluthochdruck. Der darüber hinaus bestehende Einzel-GdB von 20 für die Einschränkung der Lungenfunktion wirke sich internistischerseits nicht erhöhend auf den Gesamt-GdB aus. Gleiches gelte für den Diabetes mellitus sowie die Funktionsstörung der Schilddrüse, die jeweils keinen Einzel-GdB bedingen würden. Auch in orthopädischer Hinsicht bestünden keine bedeutsamen Funktionsminderungen. Weiter aufklärungsbedürftig sei hingegen das Ausmaß des seelischen Leidens. Das SG hat daraufhin Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. J. vom 3. September 2015. Diese ist in ihrem Gutachten im Wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt, dass das seelische Leiden seit dem Zeitpunkt der letzten Konsultation des Facharztes für Psychiatrie Dr. K. am 13. Januar 2014 mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten sei. Ab diesem Zeitpunkt sei daher ein Gesamt-GdB von 50 festzustellen im Hinblick auf die kardiale Erkrankung, die seelische Erkrankung sowie die Schwerhörigkeit des Klägers. Diese Funktionsbeeinträchtigungen potenzierten sich gegenseitig und wirkten sich sämtlich in negativer Weise auf die Gestaltungsfähigkeit des Klägers aus.
Mit Gerichtsbescheid vom 3. März 2016 hat das SG Lüneburg den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 28. Mai 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Oktober 2013 verurteilt, bei dem Kläger ab dem 21. Dezember 2012 einen GdB von 50 festzustellen. Zur Begründung hat das SG im Wesentlichen auf die eingeholten Gutachten Bezug genommen. Hinsichtlich der Einschränkung der Hörfähigkeit ergebe sich aus den beigezogenen Befundberichten ein Einzel-GdB von 20, so dass ein Gesamt-GdB von 50 gerechtfertigt sei.
Gegen den ihm am 9. März 2016 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Beklagte mit seiner am 30. März 2016 beim Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen eingelegten Berufung, mit der er die Aufhebung des Gerichtsbescheides sowie die Abweisung der Klage begehrt. Zur Begründung stützt er sich auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme, wonach die seelische Erkrankung zwar mit einem Einzel-GdB von 30, die Erkrankung des Herzens sowie die Schwerhörigkeit jedoch jeweils nur mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten seien, so dass ein Gesamt-GdB von 50 nicht in Betracht komme.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 3. März 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,
die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 3. März 2016 zurückzuweisen.
Der Kläger hält dagegen den Gerichtsbescheid des SG Lüneburg für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig und im tenorierten Umfang auch begründet. Im Übrigen ist sie unbegründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 28. Mai 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Oktober 2013 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Dem Kläger steht gemäß § 48 Abs. 1 SGB X in Verbindung mit § 69 Abs. 1 SGB IX seit dem 13. Januar 2014 ein Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 zu. Für die Zeit vom 21. Dezember 2012 bis zum 12. Januar 2014 kann dagegen kein höherer GdB als 40 festgestellt werden.
Die Feststellung des GdB richtet sich nach der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (im Folgenden: VMG).
Nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Dr. J. besteht bei dem Kläger ein seelisches Leiden in Form einer rezidivierend depressiven Störung, derzeit mittelgradige Episode, einer generalisierten Angststörung und einer Persönlichkeitsstörung mit emotional-instabilen Anteilen. Es handelt sich dabei um eine stärker behindernde Störung, die gemäß Teil B Nr. 3.7 der VMG mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten ist. Diese Bewertung schlägt Dr. J. überzeugend ab dem Zeitpunkt der letzten Konsultation des Psychiaters Dr. K. am 13. Januar 2014 und dem zu diesem Zeitpunkt beschriebenen Arbeitsplatzverlust vor (vgl. Seite 21 und 25 ihres Gutachtens vom 3. September 2015). Dies erscheint schlüssig. Die von dem Psychiater Dr. K. in seinem Befundbericht vom 4. Februar 2014 bezogen auf den Zeitpunkt seiner letzten Konsultation am 13. Januar 2014 beschriebenen Diagnosen und Beschwerden des Klägers stimmen mit den Feststellungen der Sachverständigen Dr. J. in ihrem Gutachten vom 3. September 2015 überein. Der Kläger klagte über allgemeine Ängste, herzbezogene Ängste, Grübeln über verlorene Arbeit und Zukunft mit Aufgeregtheit sowie über Schlafstörungen, Ohnmachtsgefühle und Konzentrationsprobleme. Anlässlich der im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung durchgeführten Begutachtung durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. L. im November 2013 war das seelische Leiden noch nicht so stark ausgeprägt. So konnte zum Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. L. eine depressiv ausgerichtete Psychopathologie nicht beschrieben werden. Auch schilderte der Kläger einen strukturierten Alltag sowie in geringen Umfang das Bestehen sozialer Kontakte über die Bekanntschaften seiner Partnerin. Anlässlich der Begutachtung durch die Sachverständige Dr. J. gab der Kläger an, über keine Hobbys und keinen Freundeskreis mehr zu verfügen. Es wurde ein sozialer Rückzug beschrieben. Es bestünden keine sozialen Kontakte mehr außer zur Lebensgefährtin. Weiterhin beschrieb der Kläger eine Einengung seiner Gedanken auf die Herzerkrankung. Die Stimmung wurde von Dr. J. als äußerst labil angegeben sowie geprägt von innerer Unruhe, Angst, Niedergeschlagenheit und dem Gefühl der eigenen Wertlosigkeit. Der Schlaf sei in Form von Ein- und Durchschlafstörungen gestört. Entsprechend wurde die Problematik bereits im Befundbericht des Psychiaters Dr. K. vom 4. Februar 2014 bezogen auf den Zeitpunkt seiner letzten Konsultation am 13. Januar 2014 beschrieben, so dass ab diesem Zeitpunkt ein Einzel-GdB von 30 für das seelische Leiden angemessen erscheint. Für die Zeit davor ist dagegen noch von einem Einzel-GdB von 20 entsprechend einer leichteren psychischen Störung gemäß Teil B Ziffer 3.7 der VMG in Übereinstimmung mit der versorgungsärztlichen Einschätzung des Beklagten auszugehen.
Darüber hinaus liegt bei dem Kläger nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. I. eine verminderte kardiopulmonale Belastbarkeit bei koronarer Zweigefäßerkrankung mit einem Zustand nach Stentimplantation bei Herzinfarkt im August 2012 mit Belastungsdyspnoe vor. Diese Erkrankung hat Dr. I. gemäß Teil B Ziffer 9.1.1 der VMG überzeugend mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet. Daneben bestehen seit dem 11. Dezember 2012 ein persistierendes Vorhofflimmern, das der Sachverständige gemäß Teil B Nr. 9.1.6 der VMG ebenfalls mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet hat sowie ein arterieller Hypertonus mit Herzschädigung, der nach seiner Ansicht gemäß Teil B Ziffer 9.3 auch einen Einzel-GdB von 20 bedingt. Der Sachverständige Dr. I. geht davon aus, dass sich diese drei Funktionsbeeinträchtigungen gegenseitig funktionsmindernd verstärken und schlägt deshalb für die Funktionsbeeinträchtigungen des Herzens einschließlich des Bluthochdrucks insgesamt einen Einzel-GdB von 30 vor. Selbst wenn in Übereinstimmung mit der versorgungsärztlichen Einschätzung des Beklagten hinsichtlich der Funktionsbeeinträchtigungen des Herzens einschließlich des Bluthochdrucks lediglich ein Einzel-GdB von 20 angenommen werden sollte, wofür vorliegend die relativ gute fahrradergometrische Belastbarkeit des Klägers bis 125 Watt spricht, wirkt sich dieser Einzel-GdB vorliegend gleichwohl erhöhend auf den Gesamt-GdB aus. Dies hat die Sachverständige Dr. J. in ihrem Gutachten vom 3. September 2015 überzeugend dargelegt. Danach wirke sich die kardiale Erkrankung negativ verstärkend auf die psychosoziale Belastbarkeit des Klägers aus. Dies erscheint überzeugend vor dem Hintergrund der geschilderten herzbezogenen Ängste sowie der Einengung der Gedanken auf die Herzerkrankung.
Darüber hinaus leidet der Kläger nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. I. an einer restriktiven Ventilationsstörung mit dauerhafter Einschränkung der Lungenfunktion bis zu einem Drittel der Sollwerte, die gemäß Teil B Nr. 8.3 der VMG mit einem Einzel-GdB von 20 zutreffend bewertet ist. Der mit Metformin behandelte Diabetes mellitus sowie die Schilddrüsenfunktionsstörung bedingen in Übereinstimmung mit der Einschätzung des Sachverständigen Dr. I. gemäß Teil B Nr. 15.1 sowie Nr. 5.6 der VMG jeweils keinen Einzel-GdB.
Ausweislich des Befundberichtes der Ärztin für HNO-Heilkunde Dr. M. vom 1. Dezember 2015 wie auch des Sprachaudiogramms des HNO-Arztes N. vom 15. August 2013 bestehen bei dem Kläger außerdem eine mittelgradige Schwerhörigkeit des rechten Ohres und eine geringgradige Schwerhörigkeit des linken Ohres. Die Schwerhörigkeit ist somit gemäß Teil B Nr. 5.2.1 und 5.2.4 der VMG mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten.
Hinsichtlich der Bildung des Gesamt-GdB wirkt sich der Einzel-GdB von 20 für die Lungenfunktionseinschränkung nicht erhöhend auf den Gesamt-GdB aus. Das hat der Sachverständige Dr. I. schlüssig in seinem Gutachten vom 8. Februar 2015 dargelegt. Die Herzerkrankung bei Bluthochdruck wirkt sich hingegen, wie bereits oben ausgeführt, erhöhend auf das Ausmaß der Gesamtbeeinträchtigung aus. Gleiches gilt nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Dr. J. in ihrem Gutachten vom 3. September 2015 hinsichtlich der Schwerhörigkeit. Die Sachverständige beschreibt nachdrücklich das Angst- und Minderwertigkeitserleben des Klägers sowie dessen sozialen Rückzug. Dass sich vor diesem Hintergrund die Schwerhörigkeit in negativer Hinsicht verstärkend auswirkt und die Teilhabefähigkeit des Kläger zusätzlich beeinträchtigt erscheint nachvollziehbar, so dass auch insoweit gemäß Teil A Nr. 3 d) aa) und bb) der VMG ausnahmsweise eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung anzunehmen ist.
In der Gesamtschau ergibt sich damit entsprechend dem Vorschlag der Sachverständigen Dr. J. seit dem 13. Januar 2014 ein Gesamt-GdB von 50. Für die Zeit davor ist der festgestellte Gesamt-GdB von 40 nicht zu beanstanden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.