Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 02.03.2010, Az.: 4 A 39/07

Behinderung; Erkrankung; Erlass; Regelstudienzeit; schwere Erkrankung; Student; Studienbeitrag; Studierender

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
02.03.2010
Aktenzeichen
4 A 39/07
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2010, 48051
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Studienzeitverlängernde Auswirkungen einer Behinderung oder schweren Erkrankung rechtfertigen einen Erlass des Studienbeitrags (§ 14 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 NHG) erst nach Ablauf der Regelstudienzeit.

Tatbestand:

1

Der Kläger begehrt den Erlass des Studienbeitrags für das Sommersemester 2007 und das Wintersemester 2007/2008.

2

Der 1983 geborene Kläger studiert seit dem Wintersemester 2003/2004 Biologie (Diplom) an der Beklagten. Im Mai 2004 erlitt er bei einem Sportunfall neben einer Außenbandruptur einen Bandscheibenvorfall, der im August 2005 operativ behandelt wurde. Der Kläger litt auch in der Folgezeit unter Schmerzzuständen und eingeschränkter Beweglichkeit, zu denen psychosomatische Beschwerden und Depressionen hinzutraten. Das Nds. Landesamt für J. stellte einen Grad der Behinderung von 20 seit Mai 2004 und 40 ab Februar 2007 fest. Nach verschiedenen ärztlichen Attesten war die Studierfähigkeit des Klägers seit dem Sportunfall um 60 bis 100% reduziert.

3

Mit Schreiben vom 6.3.2007 beantragte der Kläger unter Vorlage eines amtsärztlichen Attestes bei der Beklagten den Erlass des Studienbeitrags ab dem Sommersemester 2007. Die Einziehung des Beitrags stelle für ihn eine unbillige Härte dar, weil er krankheits- und behinderungsbedingt nicht seine volle Studienleistung erbringen könne. Zudem sei er arbeitsunfähig und könne deshalb keiner Nebentätigkeit nachgehen, um den Studienbeitrag zu finanzieren.

4

Mit Bescheid vom 13.3.2007 lehnte die Beklagte den Erlass für das Sommersemester 2007 ab. Da der Kläger sich noch innerhalb der Regelstudienzeit von insgesamt neun Semestern befinde, könne eine krankheitsbedingte Studienzeitverlängerung nicht festgestellt werden.

5

Am 27.3.2007 hat der Kläger Klage erhoben. Er ist der Ansicht, dass eine unbillige Härte vorliege. Es sei bereits im Sommersemester 2007 erkennbar gewesen, dass er sein Studium nicht innerhalb der Regelstudienzeit habe beenden können. Zudem habe die Beklagte durch organisatorische Mängel dazu beigetragen, dass sich sein Studium verzögere. Der Erlass sei schließlich auch deshalb geboten, weil sich sein Gesundheitszustand aufgrund mehrfachen Fehlverhaltens von Dozenten und Ärzten der Beklagten ihm gegenüber erheblich verschlechtert habe.

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Der Kläger beantragt,

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den Bescheid der Beklagten vom 13.3.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm den Studienbeitrag für das Sommersemester 2007 und das Wintersemester 2007/2008 in Höhe von jeweils 500,- € zu erlassen und ihm die bereits gezahlten Studienbeiträge für diese Semester zu erstatten.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie hält an ihrer Auffassung fest, dass die vom Gesetz geforderte Studienzeitverlängerung erst bei einer Überschreitung der Regelstudienzeit vorliegen könne. Fehlverhalten ihrer Bediensteten oder organisatorische Mängel seien nicht ersichtlich.

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Seit dem Sommersemester 2008 erlässt die Beklagte dem Kläger den Studienbeitrag.

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Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist als Verpflichtungsklage (soweit hinsichtlich des Wintersemesters 2007/2008 kein Bescheid ergangen ist, in Form der Untätigkeitsklage) zulässig, aber unbegründet.

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Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erlass des Studienbeitrages innerhalb der Regelstudienzeit.

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Gemäß § 14 Abs. 2 des Nds. Hochschulgesetzes (NHG) in der für den streitigen Zeitraum geltenden Fassung vom 26.2.2007 (Nds. GVBl. S. 69) kann der Studienbeitrag nach § 11 NHG auf Antrag ganz oder teilweise erlassen werden, wenn die Entrichtung zu einer unbilligen Härte führen würde. Eine unbillige Härte liegt hinsichtlich des Studienbeitrags in der Regel vor bei studienzeitverlängernden Auswirkungen einer Behinderung (§ 14 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 NHG).

16

Der Kläger ist zwar unstreitig behindert i.S.d. § 14 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 NHG, eine von der Vorschrift vorausgesetzte Studienzeitverlängerung ist innerhalb der Regelstudienzeit, für die der Kläger den Erlass begehrt, jedoch nicht gegeben.

17

Unter Studienzeit i.S.d. § 14 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 NHG ist die Regelstudienzeit zu verstehen. Denn diese ist maßgebend für die Gestaltung des Studiengangs und des Lehrangebots und stellt den Zeitraum dar, innerhalb dessen nach Vorstellung des Gesetzgebers das Studium üblicherweise abgeschlossen werden kann (vgl. § 6 Abs. 3 NHG). Nicht dagegen maßgebend ist die Zeit, die von den Studierenden für das Studium innerhalb der Regelstudienzeit aufgewandt oder eingeplant wird. Diese ist individuell verschieden und regelmäßig nicht objektivierbar. Sie hängt nicht nur von dem Vorliegen einer Behinderung, sondern auch von persönlichen Interessen, Begabungen Schwerpunktsetzungen und Prognosen ab. Unbeachtlich ist es deshalb, wenn eine nach dem Studienplan für ein bestimmtes Semester empfohlene Lehrveranstaltung zu einem späteren Zeitpunkt innerhalb der Regelstudienzeit besucht wird oder das Studium entgegen der persönlichen Planung nicht vor dem Ablauf der Regelstudienzeit abgeschlossen werden kann.

18

Studienzeitverlängernd wirkt sich die Behinderung demnach erst aus, wenn sie zu einer Überschreitung der Regelstudienzeit führt.

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Dabei ist der Erlasstatbestand nicht bereits dann gegeben, wenn die Regelstudienzeit - wahrscheinlich oder konkret voraussehbar - erst in Zukunft überschritten werden wird. Ob es tatsächlich zu einer Studienzeitverlängerung kommen wird, ist innerhalb der Regelstudienzeit letztlich ungewiss. Die Regelstudienzeit kann u.U. durch vermehrte Anstrengungen dennoch eingehalten werden oder das Studium kann vor dem Ende der Regelstudienzeit aufgegeben werden.

20

Ein Erlass des Studienbeitrags bereits innerhalb der Regelstudienzeit würde Behinderte zudem begünstigen; denn sie müssten insgesamt weniger Abgaben entrichten als gesunde Studierende. Dies dürfte zwar im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG - der lediglich eine Benachteiligung Behinderter verbietet, nicht aber eine Bevorzugung - zulässig sein, eine derartige Absicht kann dem Gesetz jedoch nicht entnommen werden. § 14 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 NHG sieht eine unbillige Härte in den durch Verlängerung der Studienzeit entstehenden Mehrkosten, nicht jedoch in behinderungsbedingten Erschwernissen während der Studienzeit. Die Erlassregelung im niedersächsischen Hochschulrecht unterscheidet sich insoweit von derjenigen anderer Bundesländer, die z.T. einen Erlasstatbestand bei (ab dem ersten Semester möglichen) studienerschwerenden Auswirkungen einer Behinderung annehmen (vgl. z. B. zum baden-württembergischen Recht: VG Karlsruhe, Urteil vom 20.4.2009 - 7 K 1529/07 -, NVwZ-RR 2009, 886; VG Freiburg, Urteil vom 7.5.2008 - 1 K 1001/07 -, juris).

21

Der Gesetzgeber war auch nicht gehalten, den behinderungsbedingten Erschwernissen während der Regelstudienzeit durch eine Erlassregelung Rechnung zu tragen. Dem Verbot der Benachteiligung Behinderter (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) ist durch § 14 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 NHG hinreichend Rechnung getragen worden. Die Berücksichtigung jeglicher sozialer Härten - hier z.B. behinderungsbedingte Mehraufwendungen während der Regelstudienzeit - ist mit dem im Beitragsrecht herrschenden Prinzip des Vorteilsausgleichs grundsätzlich nicht vereinbar. Der Studienbeitrag dient dem Ausgleich eines Vorteils, den die Studierenden durch die Inanspruchnahme der Beklagten als Institution erhalten. Die Pflicht des Staates zur Wahrung des Existenzminimums wird hierdurch nicht berührt. Mit dem Beitrag wird der notwendige Lebensbedarf nicht beschnitten, sondern eine Gegenleistung erbracht für die Gewährung eines über den notwendigen Lebensunterhalt hinausgehenden Vorteils (vgl. Beschluss der Kammer vom 25.1.2005 - 4 A 4160/01 -, n.v.; VG Hannover, Gerichtsbescheid vom 20.7.2001 - 6 A 5590/00 -, Nds.VBl 2002, 79; VG Lüneburg, Urteil vom 18.6.2003 - 1 A 396/99 - juris; jeweils zum Verwaltungskostenbeitrag).

22

Der Kläger kann sich auch nicht auf den allgemeinen Erlasstatbestand des § 14 Abs. 2 S. 1 NHG berufen.

23

Eine von dem Gesetz geforderte unbillige Härte kann sich aus den persönlichen Verhältnissen des Beitragsschuldners (persönliche Billigkeitsgründe) oder aus der Sache (sachliche Billigkeitsgründe) ergeben (Nds. OVG, Beschluss vom 1.12.2006 - 9 LA 32/05 -, NVwZ-RR 2007, 275).

24

Persönliche Billigkeitsgründe liegen vor, wenn es sich um einen atypischen, vom Gesetzgeber so nicht vorhergesehenen Fall handelt, in dem durch die Einziehung der Abgabe für den Betroffenen außergewöhnlich schwer wiegende Nachteile entstehen, die über die eigentliche Zahlung der Abgabe hinausgehen, so dass es zur Wahrung der Einzelfallgerechtigkeit geboten ist, von der Einziehung abzusehen (Nds. OVG, Beschluss vom 29.5.2007 - 2 ME 419/07 -, NJW 2007, 2570). Diese Voraussetzungen liegen bei dem Kläger nicht vor. Nach eigenen Angaben ist er zwar arbeitsunfähig und kann deshalb keine über die BAföG-Leistungen hinausgehenden Einkünfte erzielen. Jedoch befindet sich eine Vielzahl von Studierenden unabhängig von einer Erkrankung in einer vergleichbaren finanziellen Lage. Die Lebensunterhaltssicherung durch Einkünfte in Höhe des BAföG-Höchstsatzes stellt eine für Studierende typische, vom Gesetzgeber vorhergesehene Situation dar. Zur sozialverträglichen Gestaltung der mit der Studienbeitragspflicht einhergehenden zusätzlichen finanziellen Belastungen hat der Gesetzgeber einen Anspruch auf ein Studiendarlehen in Höhe des Studienbeitrags gesetzlich festgelegt (§ 11 a NHG). Diese Regelung geht einem Billigkeitserlass vor. Der Kläger hat keine tragfähigen Gründe für die fehlende Möglichkeit der Inanspruchnahme eines solchen Darlehns vorgebracht. Sein Hinweis auf überhöhte Zinsen steht der Beseitigung einer gegenwärtigen Notlage nicht entgegen, weil die spätere Rückzahlungsverpflichtung von der entsprechenden Leistungsfähigkeit abhängt und ggf. ganz entfallen kann (§ 11 a Abs. 4 NHG).

25

Sachliche Billigkeitsgründe liegen vor, wenn die durch einen sachlichen Grund eintretende Härte nicht dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers entspricht (Nds. OVG, Beschluss vom 29.5.2007, a.a.O.).

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Die von dem Kläger vorgetragenen organisatorischen Mängel begründen für die hier streitigen Semester keine sachliche Unbilligkeit. Zwar können studienzeitverzögernde organisatorische Mängel grundsätzlich zu einer unbilligen Härte führen. Denn die Beklagte hat gemäß § 6 Abs. 3 NHG sicherzustellen, dass ein Studium innerhalb der Regelstudienzeit abgeschlossen werden kann. Eine unbillige Härte i.S.d. § 14 Abs. 2 S. 1 NHG entsteht jedoch erst dann, wenn Studierende allein aufgrund organisatorischer Mängel der Beklagten gezwungen sind, die Regelstudienzeit zu überschreiten. Da der Kläger den Erlass für sein 8. und 9. Hochschulsemester begehrt, liegt eine Überschreitung der Regelstudienzeit nicht vor.

27

Ebenso wenig rechtfertigt sich der Erlass aus dem Gesichtspunkt der fehlenden Gegenleistung. Der Kläger ist zwar im Wintersemester 2007/2008 kapazitätsbedingt nicht zum Praktikum im Nebenfach Biochemie zugelassen worden, er hatte aber die Möglichkeit, andere Leistungen der Beklagten in Anspruch zu nehmen. So hat er nach eigenen Angaben weiterführende Veranstaltungen im Fach Mikrobiologie besucht. Da der Semesterbeitrag nicht kostendeckend erhoben wird, entsteht eine unbillige Härte nicht bereits bei dem Ausfall einer einzelnen Lehrveranstaltung.

28

Aufgrund etwaigen Fehlverhaltens einzelner Bediensteter der Beklagten kann der Kläger ebenfalls keinen Erlass beanspruchen.

29

Soweit der Kläger diesen Vorwurf auf Ärzte des Klinikums der Beklagten bezieht, fehlt es bereits an einem Zusammenhang mit der für das Studium zu erbringenden Abgabe. Die Inanspruchnahme eines bei der Beklagten beschäftigten Arztes oder einer medizinischen Einrichtung der Beklagten begründet einen zivilrechtlichen Behandlungsvertrag. Leistungen der Ärzte und medizinischen Mitarbeiter werden innerhalb des Behandlungsvertrages erbracht und nicht innerhalb des durch Immatrikulation begründeten öffentlich-rechtlichen Verhältnisses des Klägers als Studierender an der Beklagten.

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Auch etwaiges Fehlverhalten der Dozenten des Klägers führt hier nicht zu einer sachlichen Unbilligkeit. Der Studienbeitrag dient einer finanziellen Beteiligung der Studierenden an den Kosten des Studiums, um diesen das für einen berufsqualifizierenden Hochschulabschluss erforderliche Studienangebot zu ermöglichen. Dieser Zweck wird nicht bereits durch einzelne, als beleidigend und verletzend empfundene Äußerungen von Dozenten vereitelt, soweit die den Beitrag rechtfertigende Gegenleistung - wie hier - noch in adäquater und zumutbarer entgegen genommen werden kann. Der Kläger hat für den hier streitigen Zeitraum lediglich geschildert, dass ihm ein Prüfer unangemessen schwierige Fragen gestellt, ihm eine Pause während der Prüfung verweigert und ihn bei der Ergebnisbekanntgabe angeschrien habe. Der Erlasstatbestand bezweckt nicht die Wiedergutmachung jeglichen innerhalb des Universitätsbetriebes begangenen Unrechts. Soweit schuldhaft-rechtswidriges hoheitliches Handeln vorliegt, kommen insoweit Amts- bzw. Staatshaftungsansprüche (§ 839 BGB, Art. 34 GG) in Betracht. Wirkt sich das Fehlverhalten eines Prüfers auf das Prüfungsergebnis aus, stehen Rechtsmittel gegen die Prüfungsentscheidung zur Verfügung. Soweit der Kläger das Fehlverhalten von Dozenten mit einer Verschlechterung seines Gesundheitszustandes in Verbindung bringt, sind behinderungs- und krankheitsbedingte Auswirkungen auf das Studium - unabhängig von deren Entstehung - innerhalb des § 14 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 NHG zu prüfen. Die ausdrückliche Regelung schließt die Berücksichtigung weiterer, von der Vorschrift nicht erfasster krankheits- oder behinderungsbedingter Härten aus. Aus dem gleichen Grunde kommt eine zusammenfassende Wertung der von dem Kläger genannten Härtegründe unter Einbeziehung der behinderungsbedingten Erschwernisse als unbillige Härte nicht in Betracht.

31

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Beweisanregung des Klägers in seinen Schriftsätzen vom 23.2.2010 und vom 2.3.2010 nicht nachzugehen war. Die Behinderung des Klägers und die Voraussehbarkeit einer Überschreitung der Regelstudienzeit sind zwischen den Beteiligten nicht streitig. Die von dem Kläger als beleidigend empfundenen Äußerungen und seine Unfähigkeit, eigenständig für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, können als wahr unterstellt werden, ohne dass hierdurch ein Anspruch auf Erlass entstünde. Drangsalierungen u.ä. gegenüber anderen behinderten Studierenden sind für das vorliegende Verfahren unerheblich.

32

Da der Kläger unterliegt, hat er gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO. Gründe, die Berufung zuzulassen, liegen nicht vor.