Verwaltungsgericht Göttingen
v. 22.03.2010, Az.: 2 B 111/10

Herleitung eines Duldungsgrundes aus § 1685 Abs. 2 BGB

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
22.03.2010
Aktenzeichen
2 B 111/10
Entscheidungsform
Entscheidung
Referenz
WKRS 2010, 16457
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2010:0322.2B111.10.0A

Amtlicher Leitsatz

Aus § 1685 Abs. 2 BGB vermag sich ein Duldungsgrund zu ergeben.

Gründe

1

Der gemäß §§ 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. §§ 70 Abs. 1 NVwVG und 64 Abs. 4 NSOG statthafte und auch sonst zulässige Antrag,

die aufschiebende Wirkung der mit Schriftsatz vom 29. Dezember 2009 eingelegten Klage, beim erkennenden Gericht anhängig unter dem Aktenzeichen 2 A 234/09, hinsichtlich der in Satz 3 des angefochtenen Bescheides der Antragsgegnerin vom 15. Dezember 2009 ausgesprochenen Abschiebungsandrohung anzuordnen, hat Erfolg.
2

Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers, einstweilen vom Vollzug des angefochtenen Bescheides verschont zu bleiben, gegenüber dem von der Antragsgegnerin vertretenen öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Bescheides geht zu Gunsten des Antragstellers aus. Denn die mit dem Bescheid vom 15. Dezember 2009 verbundene Abschiebungsandrohung wird sich im Hauptsacheverfahren aller Voraussicht nach als rechtswidrig erweisen; es besteht ein inlandsbezogenes rechtliches Vollstreckungshindernis gemäß § 60 a Abs. 2 AufenthG; ein solches steht anders als ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot gemäß § 59 Abs. 3 AufenthG dem Erlass der Abschiebungsandrohung entgegen. Das einen Duldungsanspruch des Antragstellers begründende Abschiebungshindernis folgt aus der Betreuung der deutschen, aus einer früheren Beziehung mit einem deutschen Staatsangehörigen stammenden Tochter seiner vietnamesischen Ehefrau. Infolge der ganztägigen Ausbildungstätigkeit seiner Ehefrau übernimmt der Antragsteller morgens und nachmittags vor und nach den Öffnungszeiten der von der vierjährigen Tochter seiner Ehefrau besuchten Kinderkrippe deren Betreuung und Versorgung. Er ist die maßgebliche männliche Bezugsperson im Leben des Kindes, und die Beziehung dient dem Wohl des Kindes. Hieraus folgt für den Antragsteller ein Umgangsrecht mit der Tochter seiner Ehefrau nach § 1685 Abs. 2 BGB.

3

Die Kammer kann in diesem Verfahren dahingestellt sein lassen, ob diese "de facto - Vaterschaft" verfassungsrechtlich über Art. 6 Abs. 1 GG abgesichert ist (verneinend z.B. VGH BadenWürttemberg, Beschluss vom 22.11.2006 -13 S 2157/06-, AuAS 2007, 38). Bejahte man diese Frage, könnte das zur Folge haben, dass eine Ausnahme von den Regelversagungsgründen des § 5 AufenthG in Betracht käme. Sie kann auch offen lassen, ob im Rahmen des Art. 8 EMRK andere rechtliche Erwägungen eine Rolle spielen (vgl. hierzu Nds. Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 23.06.2008 -7 ME 58/08-, zitiert nach [...]) und wie sich dies ggf. auf das Klagebegehren des Antragstellers auf Verlängerung seines Aufenthaltstitels auswirkt. Denn jedenfalls folgt aus§ 1685 Abs. 2 BGB ein rechtliches Abschiebungshindernis. Eine Abschiebung des Antragstellers würde einen unverhältnismäßigen Eingriff in sein Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG darstellen. Die Kammer folgt insoweit dem OVG Hamburg, das in seinem Beschluss vom 17.06.2008 -4 Bs 76/08-, AuAS 2009, 48 ausgeführt hat:

Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit steht als allgemeines Menschenrecht auch Ausländern zu. Die Beschränkung des Grundrechts der Freizügigkeit auf Deutsche und auf das Bundesgebiet (Art. 11 GG) schließt nicht aus, auf den Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland Art. 2 Abs. 1 GG anzuwenden (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 10.8.2007, InfAuslR 2007, 443, m.w.N.). Die Abschiebung als Maßnahme, mit der die Pflicht eines Ausländers, das Bundesgebiet zu verlassen, durchgesetzt wird, ist ein Eingriff in das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit des sich - noch - im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländers. Der aus dem Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit folgende Schutz vor Eingriffen ist nur in dem durch Art. 2 Abs. 1 GG gezogenen Rahmen, insbesondere nur in den Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung, gewährleistet (BVerfG, a.a.O., m.w.N.). Zur verfassungsmäßigen Ordnung gehört jede Rechtsnorm, die formell und materiell mit der Verfassung in Einklang steht. (BVerfG, a.a.O., m.w.N.). Ausweisungen oder sonstige Maßnahmen zum Entzug oder zur Verkürzung eines bereits gewährten Aufenthaltsrechts sind aufgrund solcher Vorschriften grundsätzlich möglich. In materieller Hinsicht bietet -vorbehaltlich besonderer verfassungsrechtlicher Gewährleistungen - der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den allgemeinen verfassungsrechtlichen Maßstab, nach dem das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG eingeschränkt werden darf (BVerfG, a.a.O., m.w.N.). Das gilt gleichermaßen für Maßnahmen, die darauf zielen, einen Aufenthalt tatsächlich zu beenden.
Die Regelungen über die Abschiebung, insbesondere die Regelung in§ 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG über die zwingende Abschiebung von Ausländern u.a. dann, wenn deren Ausreisepflicht vollziehbar ist, unterliegt keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Zweifeln. Diese Regelung enthält allerdings selbst keine besonderen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit von Abschiebungen. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist deshalb bei der Frage Rechnung zu tragen, ob im Einzelfall die Abschiebung rechtlich unmöglich ist, sodass sie nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 - wiederum zwingend - auszusetzen ist. Eine Abschiebung, die im Einzelfall dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widerspricht, ist in diesem Sinne rechtlich unmöglich.
Es spricht viel dafür, dass mit der Abschiebung die Handlungsfreiheit des Antragstellers nach diesen Maßstäben in einer Weise eingeschränkt wird, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht mehr entspricht. Seine Handlungsfreiheit umfasst das Recht, mit dem jetzt knapp 13 Jahre alten A.,.... in Deutschland Umgang zu pflegen. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass ihm dieses Umgangsrecht zusteht. Es ergibt sich aus § 1685 Abs. 1 und 2 BGB. Danach haben enge Bezugspersonen des Kindes ein Recht auf Umgang mit dem Kind, wenn sie für das Kind tatsächliche Verantwortung tragen oder getragen haben und wenn der Umgang dem Wohl des Kindes dient. Wie sogar das nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Elternrecht ist dieses Umgangsrecht auf das Kindeswohl ausgerichtet und deshalb ein Recht im Interesse des Kindes (zu Art. 6: BVerfG, Urt. v. 1.4.2008, NJW 2008, 1287 [BVerfG 01.04.2008 - 1 BvR 1620/04]). Nach gegenwärtigem Erkenntnisstand ist davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen vorliegen. Auf die vom VGH Mannheim aufgeworfene (und verneinte) Frage, ob sich aus § 1685 Abs. 2 BGB ein rechtliches Abschiebungshindernis ergeben könne (Beschl. v. 22.11.2006, AuAS 2007, 38), kommt es bei einer Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht an.
...
Bei der Bewertung, ob die Abschiebung in unverhältnismäßiger Weise dieses Recht auf Umgang einschränkt, ist ebenfalls das Kindeswohl zu berücksichtigen, dem das Umgangsrecht entscheidend dient. Je stärker das Wohl des Kindes von diesem Umgang abhängt, desto gewichtiger müssen die Gründe sein, die es rechtfertigen, das Kindeswohl gleichwohl zurücktreten zu lassen...... Angesichts der herausragenden Bedeutung, die der Umgang des Kindes mit seinen Eltern für seine Entwicklung hat (vgl. BVerfG, Urt. v. 1.4.2008, NJW 2008, 1287 [BVerfG 01.04.2008 - 1 BvR 1620/04], [...] Rn. 79 und 85), dürfte im Regelfall von einer erheblichen Gefahr für das Kindeswohl beim Abbruch des Umgangs auszugehen sein.
4

Das Argument der Antragsgegnerin, die Ehe des Antragstellers mit seiner vietnamesischen Frau und deren deutschem Kind könne, ohne dass das Kind Schaden nähme, auch in Vietnam geführt werden, verfängt aus Rechtsgründen nicht. Als Deutsche hat die Tochter der Ehefrau des Antragstellers das Recht, sich in Deutschland aufzuhalten. Dieses Recht übt ihre sorgeberechtigte Mutter für sie aus. Wenn diese im Rahmen der Personensorge den Aufenthalt in Deutschland bestimmt, ist die Antragsgegnerin hieran gebunden und darf ihren ausländerrechtlichen Überlegungen nicht einen fiktiven Sachverhalt zugrunde legen (vgl. auch Beschluss der 4. Kammer des Gerichts vom 14.02.2008 -4 B 33/08-, ebenfalls die Antragsgegnerin betreffend). Insofern unterscheidet sich die Rechtslage hier von derjenigen, die dem von der Antragsgegnerin herangezogenen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (vom 30.04.2009 -1 C 3/08-, AuAS 2009, 194) zugrunde lag. Denn dort bestand die Familie ausschließlich aus Ausländern im Sinne von § 2 Abs. 1 AufenthG.

5

Da die Rechtsverfolgung aus den dargelegten Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg hat, ist dem Antragsteller Prozesskostenhilfe zu bewilligen (§§ 166 VwGO i.V.m 114 ZPO).

6

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.