Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 18.02.1997, Az.: 5 U 176/96
Dringende Empfehlung zu sofortiger Operation bei klinischer Diagnose des Verdachts eines einschnürenden Leistenbruchs; Vorliegen einer wirksamen Einwilligung in den Eingriff; Erfordernis einer vorherigen Sonographie
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 18.02.1997
- Aktenzeichen
- 5 U 176/96
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1997, 21756
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1997:0218.5U176.96.0A
Fundstelle
- VersR 1998, 57-58 (Volltext mit amtl. LS)
Amtlicher Leitsatz
Klinische Verdachtsdiagnose "einschnürender Leistenbruch" rechtfertigt dringende Empfehlung zu sofortiger Operation - vorherige Sonographie ist nicht erforderlich
Tatbestand
Am 28.5.1994 wurde der Kläger vom ärztlichen Notdienst wegen Verdachts auf Leistenbruch in das von der Beklagten zu 2) getragene Krankenhaus eingewiesen. Auf die dort von zwei Chirurgen nach entsprechender klinischer Befunderhebung gestellte Diagnose "Verdacht auf incarcerierte Leistenhernie" (Leistenbruch mit Abschnürung des Bruchinhaltes von der Blutzufuhr) willigte der Kläger ausweislich des unterschriebenen Aufklärungs- und Anamnesebogens in den beabsichtigten Eingriff ein. Bei der sodann vom Beklagten zu 1) durchgeführten Operation stellte sich ein stark vergrößerter Lymphknoten als Ursache der schmerzhaften Leistenschwellung heraus. Nach Entfernung dieses Knotens und komplikationslosem postoperativem Verlauf wurde der Kläger am 7.6.1994 aus der stationären Behandlung entlassen.
Der Kläger hat behauptet, der Eingriff sein nicht indiziert gewesen, die schmerzhafte Schwellung sei nicht ausreichend abgeklärt und seine anamnestischen Angaben nicht hinreichend beachtet worden. Im Übrigen hätte er darüber, dass es sich nur um eine Verdachtsdiagnose gehandelt habe und sich der wahre Befund erst intraoperativ herausstellen könne, aufgeklärt werden müssen. Dann hätte er auf weiterer diagnostischer Abklärung bestanden. Seine Schmerzensgeldvorstellung hat er mit 15.-20.000 DM beziffert.
Die Beklagten haben behauptet, die durchgeführte Untersuchung habe dringend Anlass zu der Operation gegeben, um drohendes schwerstes Übel von dem Patienten abzuwenden.
Das Landgericht hat sachverständig beraten der Klage in Höhe von 15.000,00 DM stattgegeben. Den Beklagten sei zwar kein Behandlungsfehler vorzuwerfen, der Kläger habe aber in die Operation nicht wirksam eingewilligt, weil er nicht über den Umstand einer bloß bestehenden "Verdachtsdiagnose" hingewiesen worden sei.
Mit der dagegen gerichteten Berufung verfolgten die Beklagten ihr Klagabweisungsbegehren in vollem Umfang weiter.
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Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung hat in vollem Umfang Erfolg.
Die Beklagten haben weder wegen einer fehlerhaften Behandlung noch wegen einer unzureichenden Aufklärung für die Operation einzustehen. Nach dem Ergebnis der sachverständigen Erläuterungen sind unter keinem der beiden genannten einzig denkbaren Gesichtspunkte haftungsbegründende Versäumnisse festzustellen; der Kläger hat die nach fachärztlichem Standard geschuldete Behandlung und Beratung erhalten. Für einen Immaterialausgleich ist kein Raum.
Das Landgericht (LGU 6) hat Behandlungsfehler im Hinblick auf die Befunderhebung bis hin zur Operationsentscheidung zu Recht verneint. Fehler bei der Operation selbst werden nicht behauptet und sind auch sonst nicht ersichtlich. Der gerichtliche Sachverständige hat in seinem Gutachten, dem Ergänzungsgutachten und bei seiner Anhörung keinen Zweifel daran gelassen, dass solange - wie hier - differenzialdiagnostisch ein einschnürender Leistenbruch nicht ausgeschlossen werden kann, eine umgehende Operation nicht zu vermeiden ist, da nur so die größtmögliche Chance besteht, gegenüber der Gefahr einer strangulierenden Einklemmung von Darmteilen den Darm zu erhalten.
Die davon abweichende Stellungnahme des medizinischen Beratungsdienstes der Krankenkassen (MDK-Niedersachsen) hat der Gutachter überzeugend widerlegt, da dessen Schlussfolgerungen auf unrichtigen Annahmen beruhen. Die klinische Untersuchung, deren Ergebnisse stark auf einen strangulierenden Leistenbruch hindeuteten, vor allem, weil sich die "Hernie nicht reponieren ließ", behält die Hauptbedeutung für die Diagnose und das darauf gestützte therapeutische Vorgehen. Das gilt gerade auch für die Sonographie, die der Kläger vermisst. Auch wenn der Sachverständige bei seiner Anhörung diese als durchaus sinnvolle Untersuchungsmaßnahme beschrieben hat, steht das damit nicht in Widerspruch. Die auf Grund der dokumentierten gewissenhaften klinischen Befunderhebung (Untersuchung und Anamnese) bestehende Diagnose mit ihrer Operationsdringlichkeit bleibt davon unberührt, wie der Sachverständige anschließend und in Übereinstimmung mit seinen nachvollziehbaren und widerspruchsfreien schriftlichen Begutachtungsergebnissen bestätigt. Die Leitsymptome für einen einschnürenden Leistenbruch lagen nach dem maßgeblichen lokalen Befund vor. Der Verzicht auf eine Sonographie begründet demgegenüber keine Verletzung des fachärztlich geschuldeten Behandlungsstandards bzw. der Sorgfaltspflichten. Wegen des Fehlens abdomineller Befunde in der klinischen Untersuchung konnten von ihr keine zusätzlichen nützlichen Informationen erwartet werden. Der Vorwurf einer bloßen Blickdiagnose ist nach der dokumentierten klinischen Befundung nicht haltbar. Die von der Berufung jetzt vorgelegte schriftliche Stellungnahme von ... gibt - abgesehen davon, dass sie bereits über den Klägervortrag von dem gerichtlichen Sachverständigen berücksichtigt worden ist - keinen Anlass für eine andere rechtliche Beurteilung.
Auf dieser Grundlage scheidet auch eine Haftung wegen unwirksamer Operationseinwilligung infolge etwaiger Aufklärungsversäumnisse aus.
Zu Recht weist die Berufung darauf hin, dass dem auch vom Sachverständigen gebrauchten Begriff "Verdachtsdiagnose" kein spezifischer Aussagegehalt zukommt in dem Sinne, dass es sich nur um eine Diagnose "2. Wahl" mit einem unsicheren, geringeren Erkenntniswert handelt. Das maßgebliche klinische Beschwerdebild, wie es sich dem Arzt darstellte, belegte den genannten Verdacht, und bereits dieser gebietet es, umgehend zur Operation zu raten.
Unzutreffend ist allerdings der Hinweis der Berufung, es handele sich insoweit hier "nur" um eine sog. therapeutische Beratung, bei der für Darlegung und Beweis der Fehlerhaftigkeit die Grundsätze betr. Behandlungsfehler anzuwenden seien. Der Kläger rügt die unzureichende Aufklärung hinsichtlich der Notwendigkeit und damit des Risikos der Operation als solcher. Der Berufung ist aber im Ergebnis zuzustimmen, dass der unterlassene Hinweis darauf, intraoperativ könne sich auch etwas anderes herausstellen, zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechtes nicht erforderlich war. Es liegt in der Natur einer jeden Diagnose, dass sich bei weiterer Behandlung auch etwas davon Abweichendes (Zusätzliches, Anderes etc.) ergeben kann. Das ist mit dem Patienten nicht stets zu erörtern. Eine Überschreitung der auch dafür gebotenen Grenzziehung, ohne dass eine solche hier näher vorzunehmen sein müsste, liegt jedenfalls nicht vor. Von einer (gar übertreibenden) Beschreibung einer sehr gefährlichen Situation auf Grund ungesicherter Befunddaten, die eine unzulässige Verkürzung des Selbstbestimmungsrechts bedeuten könnte (vgl. BGH VersR 1989, 478), kann hier keine Rede sein. Das maßgebliche klinische Beschwerdebild belegt - wie ausgeführt - die Notwendigkeit eines sofortigen operativen Eingriffs, die durch eine zusätzliche Sonographie oder andere Maßnahmen nicht entscheidend beeinflusst werden kann. Die zu fordernde Grundaufklärung einschließlich der nach den zurzeit vorhandenen Erkenntnismöglichkeit bestehenden Gesundheitsgefahren in ihren auch schwersten Auswirkungen hat der Kläger erhalten. Ein demgegenüber verharmlosender Hinweis, dass sich auch etwas weniger Gefährliches herausstellen könne, hätte zwar auch sinnvoll gewesen sein können, wie der Sachverständige angegeben hat. Eine haftungsbegründende Missachtung des Selbstbestimmungsrechts des Klägers ist mit dem Unterbleiben eines solchen Hinweises aber nicht zu begründen.
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