Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 11.02.1997, Az.: 5 U 58/96

Schmerzensgeld bei Indikation einer Spinalanästhesie; Ordnungsgemäße Durchführung der ärztlichen Behandlung; Ersatz des materiellen Schadens und Feststellung der Schadensersatzverpflichtung; Unzureichende Aufklärung des behandeldenden Arztes

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
11.02.1997
Aktenzeichen
5 U 58/96
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 21798
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1997:0211.5U58.96.0A

Fundstelle

  • MedR 1998, 25

Amtlicher Leitsatz

Zur Indikation und ordnungsgemäßen Durchführung einer Spinalanästhesie

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt Schmerzensgeld, Ersatz ihres materiellen Schadens und Feststellung der Schadensersatzverpflichtung der Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung.

2

Die Klägerin, die von Beruf Krankenschwester ist, wurde am 11. Juli 1992 zur Spiegelung des linken Kniegelenks in die Kliniken in O., deren Träger die Beklagte zu 1) ist, aufgenommen. Der Eingriff wurde am 12. Juni 1992 durchgeführt, und zwar unter Spinalanästhesie. Dabei wurden vier Punktionen durchgeführt.

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Die Klägerin hat behauptet, sie habe schon beim ersten Injektionsversuch einen ungewöhnlichen heftigen Sofortschmerz verspürt. Auch im Anschluss an die Knieoperation habe sie heftige Schmerzen im Rückenbereich verspürt, die bis in die Beine ausstrahlten. Es sei ihr deshalb mehrfach ein Schmerzmittel gespritzt worden. In der Folgezeit habe sie permanent an Schmerzen im Rückenbereich gelitten. Sie könne sich heute nicht mehr ohne Hilfsmittel bewegen und sei auf einen Rollstuhl angewiesen. Im November 1993 sei im Röntgen- Nuklear-Institut D. in O. festgestellt worden, dass bei ihr fast völlig die Rückenmarksflüssigkeit (Liquor) fehle Dies sei auf eine irreparable Schädigung des Rückenmarkskanals durch die fehlerhafte Spritztechnik bei der Spinalanästhesie zurückzuführen. Auch in dem im Schlichtungsverfahren erstatteten Gutachten von Dr. H. sei die Anästhesie als Ursache ihrer Beschwerden festgestellt worden.

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Seit der Anästhesie könne sie ihren Beruf nicht mehr ausüben. Sie beziehe jetzt eine Rente in Höhe von 1.443,-- DM. Außerdem seien ihr infolge ihres Gesundheitsschadens Kosten für eine Haushaltshilfe in Höhe von 30.000,-- DM für die Zeit von August 1993 bis März 1995 entstanden.

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Die Klägerin hält ein Schmerzensgeld in Höhe von 200.000,-- DM für angemessen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung ist sachlich nicht gerechtfertigt. Die Beklagte zu 1. hat weder für Behandlungsfehler noch für Aufklärungsversäumnisse der behandelnden Ärzte der Kliniken O. zu haften. Ebensowenig stehen der Klägerin Ansprüche gegen den Beklagten zu 2. zu.

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1.

Nach der Beweisaufnahme steht fest, dass den Anästhesisten, für die die Beklagte zu 1. gemäß §§ 823 Abs. 1, 831 BGB einzustehen hat, bei der Durchführung der Spinalanästhesie kein schuldhafter Behandlungsfehler unterlaufen ist.

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Der Senat teilt die Auffassung des Landgerichts, dass die Spinalanästhesie bei dem hier vorliegenden Eingriff (Spiegelung des linken Kniegelenkes) indiziert war, weil sie gegenüber der Allgemeinnarkose den Vorzug hatte, dass sie die Klägerin hinsichtlich der Herzkreislaufsituation und der Lungenbeteiligung weniger stark belastete. Insbesondere im Hinblick auf die von der Klägerin angegebenen Vorerkrankungen, die sie zu einer Risikopatientin machten (Herzmuskelschwäche, Angina pectoris, Thrombose, Asthma, Lungenentzündung, Sehen von Doppelbildern, Lähmungen, Versagen der Beine) war es sachgerecht, das schonendere Anästhesieverfahren zu wählen.

9

Auch der Umstand, dass - wie unstreitig - vier Punktionsversuche notwendig waren, um die Spinalanästhesie ordnungsgemäß setzen zu können, lässt nach der Auffassung des gerichtlichen Gutachters, die er im Verhandlungstermin erläutert hat und die der Senat für überzeugend hält, nicht den Schluss auf einen Behandlungsfehler zu. Angesichts der anatomischen Gegebenheiten bei einer Patientin, die - wie die Klägerin - bei einer Körpergröße von 1,70 m ein Körpergewicht von nahezu 100 kg aufweist, kann es vorkommen, dass die Injektion nicht sofort gelingt, weil der Spinalkanal schlecht zu erreichen ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Abstand zwischen Haut und Spinalkanal durch Fettgewebe vergrößert und der Dornfortsatz nicht gut tastbar ist. Auch mehrfache Punktionsversuche sind bei derartigen, hier gegebenen Verhältnissen nicht zu beanstanden (so auch der im Schlichtungsverfahren tätige Gutachter Dr. H.). Andererseits gebot es das Körpergewicht der Klägerin nicht, von der Spinalanästhesie gänzlich abzusehen (so Dr. M.).

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Ebensowenig sind den behandelnden Anästhesisten im weiteren Verlauf der Behandlung Fehler unterlaufen. Wie der Gutachter im Senatstermin weiter ausgeführt hat, wird bei der Spinalanästhesie das Lokalanästhetikum im Bereich der unteren Lendenwirbel mit einer Hohlnadel in den mit Hirn - Rückenmarksflüssigkeit gefüllten Raum (Liquorraum) eingespritzt. Die Injektion in diesen Duraschlauch erfolgt somit ganz gezielt, weil nur dort die Anästhesie wirken kann. Es kann zwar durch den Einstich zu einem Liquorverlust kommen; dieser wird aber regelmäßig alsbald ausgeglichen, weil der Körper in der Lage ist, Liquorflüssigkeit kompensatorisch in ausreichendem Maß nachzubilden. Nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen ist die Durchführung der Spinalanästhesie bei der Klägerin nicht zu beanstanden. Die Spritze wurde, wie sich aus dem in Ablichtung vorliegenden Anästhesieprotokoll ergibt, dessen Richtigkeit von der Berufung nicht in Zweifel gezogen worden ist, korrekt zwischen die Lendenwirbel L 3 und L 4 gesetzt, sodass das Anästhetikum dort in den Duraschlauch gelangen konnte.

11

Die dem Sachvortrag der Klägerin offenbar zugrunde liegende Vorstellung, durch die mehrfachen Punktionsversuche sei ihr Rückenmarkskanal geschädigt worden, sodass ein Liquorverlust eingetreten sei und sich im Lendenwirbelbereich auslaufende Rückenmarksflüssigkeit gebildet habe, ist nach der Anhörung des Sachverständigen medizinisch nicht haltbar.

12

Die mit der Spinalanästhesie notwendigerweise verbundene Verletzung des Duraschlauchs kann zwar - wie dargelegt - zu einem Liquorverlust führen. Ein Liquorleck verschließt sich jedoch in aller Regel innerhalb weniger Tage von selbst, sodass ein dauernder Verlust von Rückenmarksflüssigkeit infolge einer Spinalanästhesie ausgeschlossen ist. Hinzu kommt, dass als Folge eines Liquorverlustes starke Kopfschmerzen auftreten können, weil im Kopf des Patienten bis zur hinreichenden Neubildung von Liquor ein Unterdruck entsteht. Die Klägerin hat aber nicht schriftsätzlich vorgetragen, dass es infolge der Anästhesie bei ihr zu Kopfschmerzen gekommen ist. Hingegen sind Rückenschmerzen, an denen die Klägerin nach ihrem Sachvortrag seit der Anästhesie leidet, durch die Spinalanästhesie nicht zu erklären, wie der Sachverständige weiter ausgeführt hat. Rückenschmerzen können vielmehr auf eine Enge im Spinalkanal zurückzuführen sein.

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Der Sachvortrag der Klägerin wird auch nicht durch den Bericht des Röntgenologen Dr. F. vom 11.11.1993 gestützt, der nach Anfertigung eines MR-Tomogramms von der Wirbelsäule der Klägerin das "nahezu vollständige Fehlen von Liquor im LWS-Bereich als besonders auffällig festgestellt hat."

14

Der Gutachter Dr. M. hat zur Auswertung dieses MR-Tomogramms ein neuroradiologisches Zusatzgutachten eingeholt, das Prof. Dr. P. und Dr. S. vom Institut für klinische Radiologie der Universität M. erstellt haben. In Übereinstimmung mit diesem Zusatzgutachten kommt Dr. M., dem darüber hinaus weitere im F.-Hospital, in der P.-Klinik in Osnabrück und bei Dr. B., Osnabrück, gefertigte Röntgenaufnahmen zur Verfügung standen, zu dem Ergebnis, dass keinerlei Hinweise für eine Liquorleckage oder eine lumbale Arachnoiditis vorliegen. Diesen Befund hat der Gutachter dem Senat nochmals mündlich erläutert und ausgeführt, dass es ein MR-Tomogramm ermöglicht, verschiedene Substanzen wie Knochen, Fett, Gewebe und Flüssigkeit zu unterscheiden. Die fraglichen Aufnahmen zeigen an der maßgeblichen Stelle zwar einen relativen Mangel an Liquor. Dieser ist - so der Gutachter weiter - jedoch darauf zurückzuführen, dass ein überwiegender Anteil an epiduralem Fettgewebe vorliegt. Diese epidurale Lipomatose kann zu einer relativen spinalen Stenose führen und Rückenschmerzen verursachen. Der Senat sieht hiernach die Ausführungen des Dr. F. - soweit sie dem tatsächlich entgegenstehen sollten - als wiederlegt an, zumal nicht ersichtlich ist, dass Dr. F. über höhere Sachkunde als der gerichtliche Gutachter und die von ihm beteiligten Neuroradiologen verfügt.

15

Es ist auch nicht ersichtlich, dass den behandelnden Ärzten bei der Verabreichung der Spinalanästhesie andere Behandlungsfehler unterlaufen sind. Soweit die Klägerin behauptet, sie habe bereits bei dem ersten Injektionsversuch einen stechenden Sofortschmerz verspürt, könnte dies zwar darauf hindeuten, dass ein im Spinalkanal verlaufender Nerv getroffen wurde. Abgesehen davon, dass es auch bei größtmöglicher ärztlicher Sorgfalt unvermeidbar ist, durch die Injektion einen Nerven zu treffen, führt die Zerstörung eines Nerven jedoch zu einem definierten neurologischen Schaden in einem bestimmten Bereich, nicht aber zu allgemeinen Rückenschmerzen, wie von der Klägerin beschrieben.

16

Dazu wird auf die Ausführungen des Sachverständigen im Senatstermin vom 28.1.1997 verwiesen.

17

Schließlich liegen auch für die von der Klägerin erstmals im Verhandlungstermin vom 28.1.1997 aufgestellte Behauptung, durch die Injektion sei ihr Rückenmark verletzt worden, keinerlei Anhaltspunkte vor. Dagegen spricht zum einen, dass die Spinalanästhesie ausweislich des Protokolls kunstgerecht zwischen die Lendenwirbel L 3 und L 4 gesetzt und in diesen Bereich eine Rückenmarksschädigung anatomisch ausgeschlossen. Außerdem hat der Gutachter im Termin dazu erläutert, dass es bei einer Rückenmarksschädigung zu einer sofortigen Querschnittslähmung kommt. Damit ist das von der Klägerin beschriebene Beschwerdebild jedoch nicht in Einklang zu bringen. Denn sie konnte sich - wie sie vorträgt - trotz ihrer Schmerzen zunächst noch mit zwei Unterarmstützen fortbewegen und ist seit März 1995 auf die Benutzung des Rollstuhls angewiesen.

18

Die nach Auffassung des Sachverständigen bestehenden Dokumentationslücken vermögen keine Haftung der Beklagten zu begründen. Abgesehen davon, dass Dokumentationsversäumnisse keinen eigenständigen Anknüpfungspunkt für eine vertragliche oder deliktische Haftung begründen, sondern allenfalls beweisrechtliche Folgen haben (dazu: Erich Steffen, Neue Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht, 6. Aufl. 1995, 178 ff), kommt es auf diese Dokumentationsmängel nicht an. Der Gutachter hat dazu ergänzend ausgeführt, dass dahingestellt bleiben kann, ob eine 25 G oder eine 22 G Nadel verwendet worden ist, da bei der Klägerin die Verwendung beider Kanülengrößen indiziert gewesen wäre. dass eine andere als die vom Gutachter beschriebene Nadelgröße verwendet worden ist, wird von der Klägerin nicht behauptet. Hinsichtlich der Anzahl der Punktionversuche, die im Anästhesieprotokoll nicht erfasst ist, hat der Senat den Sachvortrag der Klägerin zugrunde gelegt.

19

Eine Haftung der Beklagten ist überdies auch deshalb ausgeschlossen, weil - wie dargelegt - die Beschwerden der Klägerin nicht auf der Spinalanästhesie beruhen. Die Klägerin leidet an einer epiduralen Lipomatose, die zu einer spinalen Stenose und damit zu Rückenbeschwerden führen kann. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist es hingegen ausgeschlossen, dass die Rückenschmerzen der Klägerin, die - wie sie vorträgt - dazu geführt haben, dass sie seit März 1995 auf die Benutzung des Rollstuhls angewiesen ist, durch die Spinalanästhesie ausgelöst wurden.

20

2.

Ebensowenig stehen der Klägerin Schadensersatzansprüche gegen die Beklagten zu, weil sie durch die behandelnden Ärzte unzureichend aufgeklärt worden ist.