Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 24.02.1997, Az.: 5 U 152/96
Unzureichende Schwangerschaftsbetreuung; Verrichtungsgehilfe und Weisungsabhängigkeit; Beweiserleichterungen im Hinblick auf den völlig ungeklärten haftungsbegründenden Ursachenzusammenhang; Arm-Plexus-Schädigungen
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 24.02.1997
- Aktenzeichen
- 5 U 152/96
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1997, 21675
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1997:0224.5U152.96.0A
Rechtsgrundlagen
- § 831 BGB
- § 286 ZPO
Fundstellen
- MDR 1997, 647 (Volltext mit red. LS)
- NJW-RR 1997, 1118-1119 (Volltext mit amtl. LS)
Amtlicher Leitsatz
Keine vertragliche Haftung aller Ärzte einer gynäkologischen Gemeinschaftspraxis
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Ersatz immaterieller Schäden und Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige immaterielle sowie vergangene und zukünftige materielle Schäden, die sie aus einer unzureichenden Schwangerschaftsbetreuung ihrer Mutter herleitet, wodurch es bei ihr zu einer Frühgeburt mit erheblichen Folgeschäden gekommen sei.
Die Beklagten zu 1) und 4) betreiben eine gynäkologische Gemeinschaftspraxis mit Belegstationen in der ... in ... . Die Mutter der Klägerin, die ..., ließ sich bei dieser Schwangerschaft seit dem 16.9.1985 in der rechnerisch 6. Schwangerschaftswoche von dem Beklagten zu 1) ärztlich betreuen. Er untersuchte sie in dem ersten und in dem folgenden Termin am 7.10.1985 nicht aber bei den weiteren Voruntersuchungen am 18.11. und 16.12.1985 auch vaginal. In dem nächsten Termin am 13.11.1986 stellte er bei der vaginalen Untersuchung eine Vorwölbung der Fruchtblase und eine Öffnung des Gebärmutterhalses (Cervixkanals) fest und veranlasste die sofortige Aufnahme in seine Belegabteilung. Nach dem Blasensprung am 22.1.1986 um 19.45 Uhr wurde die Klägerin am nächsten Morgen um 8.35 Uhr mit 600 g Gewicht in der 24. Schwangerschaftswoche geboren. Ihre weitere Versorgung übernahmen etwa 20 Minuten später die Ärzte ... .
Die Klägerin leidet an einer schweren Störung der zentralen Wahrnehmungsverarbeitung und Wahrnehmungsintegration, die zu einer psychomotorischen und psychointellektuellen Retardierung und eingeschränkter emotionaler Belastbarkeit sowie hochgradiger Innenohrschwerhörigkeit geführt hat und eine ständige sonderpädagogische Betreuung erfordert.
Der Beklagte zu 4) hat die Mutter der Klägerin allenfalls postpostal bei einigen Visiten gesehen.
Die Klägerin hat den Beklagten Versäumnisse bei der Schwangerschaftsbetreuung und geburtshilflichen Versorgung vorgeworfen und dabei insbesondere behauptet, der Beklagte zu 1) habe es fehlerhaft unterlassen, Maßnahmen gegen die sich abzeichnende Cervixinsuffizienz zu ergreifen, durch die die Frühgeburt und die darauf beruhenden Beschwerden vermieden worden wären. Ihre Schmerzensgeldvorstellung hat sie mit 250.000,00 dM angegeben. Die Feststellungsanträge seien im Hinblick auf die noch offene Entwicklung ihres Gesundheitszustandes und eine Mehrbedarfsrente sowie den Ersatz des Verdienstausfallschadens gerechtfertigt.
Die Beklagten zu 1) und 4) haben behauptet, die Möglichkeit einer Frühgeburt habe sich erstmals am 13.1.1986 ergeben und sei dann unvermeidbar gewesen.
Das Landgericht hat sachverständig beraten die Klage abgewiesen. Die Schwangerschaftsbetreuung durch den Beklagten zu 1) habe bis zur Geburt dem gebotenen Standard entsprochen.
...
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
Nach der sorgfältigen und umfangreichen erstinstanzlichen Sachverständigenberatung, für deren Ergänzung keinerlei Anlass bzw. Bedarf besteht, hat die Klägerin den Beweis nicht erbringen können, dass den Beklagten zu 1) und zu 4) bei der ärztlichen Betreuung von Schwangerschaft und Geburt ein Fehler unterlaufen ist und dass insoweit ein Ursachenzusammenhang mit dem frühgeburtlichen Beschwerdebild besteht. Für beides Behandlungsfehler wie Kausalzusammenhang ist sie aber beweisbelastet. Ersatzansprüche scheiden daher insgesamt aus.
...
Eine Haftung des Beklagten zu 4) scheidet bereits deswegen aus, weil nicht einmal die Klägerin ihm gegenüber einen Fehlervorwurf erhebt und seine Einstandspflicht für den Beklagten zu 1) sich nicht aus dem Gesichtspunkt der von beiden Ärzten betriebenen Gemeinschaftspraxis ergibt. Deliktische Ansprüche scheiden aus, da die Ärzte mangels gegenseitiger Weisungsabhängigkeit auch nicht gegenseitig Verrichtungsgehilfe gemäß § 831 BGB sind. Eine vertragliche Ersatzverpflichtung aller eine Gemeinschaftspraxis betreibenden Ärzte kommt nur in Betracht, wenn es sich um eine Arztpraxis mit weithin austauschbaren Leistungen handelt, bei der der Person des behandelnden Arztes allenfalls noch eine ganz untergeordnete Bedeutung zukommt, wie beispielsweise bei sog. Röntgeninstituten (vgl. BGHZ 97, 273 = VersR 1986, 866 = NJW 86, 2364; VersR 1989, 700 = NJW 89, 2320; Steffen, Neue Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht, 6. Aufl., Seite 14). Diese Austauschbarkeit ärztlicher Leistungen bei weitgehender Anonymität der behandelnden Person ist bei einer gynäkologischen geburtshilflichen Betreuung, für die sich die Mutter der Klägerin gerade den Beklagten zu 1) ausgewählt und den sie durchgängig aufgesucht hat, nicht gegeben (vgl. Senats-Urteils vom 03.09.1996 5 U 87/96 NJW-RR 97, 24).
Der Vorwurf der Berufung, der Beklagte zu 1) habe grob fehlerhaft auf eine sich abzeichnende Cervixinsuffizien nicht ausreichend reagiert, ist nach der Beweisaufnahme nicht haltbar. Der Berufungserwiderung ist darin zuzustimmen, dass sich aus den herangezogenen Zitaten aus medizinischen Lehrbüchern und der umfassenden Beurteilung durch den gerichtlichen Sachverständigen, der sich wiederholt speziell auch zu dieser Frage überzeugend geäußert hat, nichts ergibt, was diesen weiterverfolgten Vorwurf auch nur im Ansatz stützen könnte.
Hauptgutachten vom 27.1.1995, mündliche Erläuterung vom 27.11.1995, erste schriftliche Ergänzung vom 6.2.1996 und zweite schriftliche Ergänzung vom 3.5.1996 lassen keine Zweifel daran, dass die erfolgten Schwangerschaftsuntersuchungen dem fachärztlich geschuldeten Betreuungsstandard entsprochen haben und in Übereinstimmung mit den Mutterschaftsrichtlinien vorgenommen worden sind. Dabei hat der Sachverständige auch alle von der Berufung hervorgehobenen Umstände, die eine Risikokonstellation mit zusätzlichen Versorgungspflichten stützen sollten, berücksichtigt. Das gilt für die Schwangerschaftsabbrüche und den Abort 1977 und 1980 wie auch für die Untersuchungen im September und Oktober 1985. Auch in Anbetracht dieser Umstände hat der Sachverständige nachvollziehbar eine Risikoschwangerschaft verneint. Dass er insoweit die beiden genannten Untersuchungen nicht ausdrücklich als risikoerhöhend ausschließt, ist unschädlich, weil selbstverständlich. Er hat die gesamte Behandlung des Beklagten zu 1) seiner medizinischen Betrachtung zu Grunde gelegt. Dazu gehören die im Übrigen durchgängig mit abgehandelten Untersuchungen. Vor diesem das gesamte Behandlungsgeschehen einschließenden Hintergrund gibt seine medizinische Einschätzung eine feste Basis für die Überzeugungsbildung des Senats, § 286 ZPO.
Soweit die Berufung erneut auf die in der medizinischen Literatur zum Teil geforderten zeitlich dichteren vaginalen Untersuchungen hinweist, ist daraus kein Fehlbehandlungsvorwurf herzuleiten. Abgesehen davon, dass diese Forderung wie ausgeführt nicht dem damaligen Behandlungsstandard entspricht, auf den bei der rechtlichen Beurteilung allein abzustellen ist, wird dabei nicht hinreichend beachtet, dass auch durch häufigere vaginale Untersuchungen die Chancen des früheren Erkennens einer Cervixinsuffizienz nicht entscheidend steigen. Laut Sachverständigengutachten kann ein Fruchtblasenprolaps innerhalb von Tagen auftreten; die Entdeckung einer Cervixinsuffizienz bei regelmäßiger vaginaler Untersuchung in einem für eine lückenlose Überwachung von Cervix und Muttermund ohnehin zu langen 4-Wochen-Rhythmus wäre eher zufällig.
Mit dem Landgericht ist daher insgesamt eine unzureichende Schwangerschaftsbetreuung, die den Vorwurf eines Behandlungsfehlers begründen könnte, nicht festzustellen.
Für Beweiserleichterungen im Hinblick auf den völlig ungeklärten haftungsbegründenden Ursachenzusammenhang etwa über elementare Behandlungsfehler wie durch unzureichende Feststellung des Schwangerschaftsstatus ist demgegenüber kein Raum. Die Nichtvornahme häufigerer Vaginaluntersuchungen bzw. deren Unterbleiben in der Zeit vom 16.10.1985 bis 13.1.1986 kann den Vorwurf eines elementaren Verstoßes gegen medizinische Behandlungsgebote in keinem Fall untermauern. Bleibt aber der Zusammenhang zwischen Schwangerschaftsbetreuung und Abwendbarkeit der Frühgeburt offen, kommen Ersatzansprüche auch aus diesem Grunde nicht in Betracht.
Zu Recht hat allerdings das Landgericht auf der Grundlage überzeugender sachverständiger Erläuterungen die Versorgung der Klägerin im Krankenhaus der Beklagten bis zum frühen Morgen des 3O.1.1991 als ordnungsgemäß beurteilt und das Unterlassen der bereits um 5.OO Uhr objektiv dringlich gebotenen chirurgischen Intervention wegen der ausgesprochenen Seltenheit des eingetretenen Kompartmentsyndroms, das nicht einmal in der medizinischen Standardliteratur erwähnt wird und nicht als Standardwissen chirurgischer Fachabteilungen anzusehen ist, nicht zum haftungsbegründenden Vorwurf erhoben.
Das wird auch von der Berufungserwiderung nicht mehr in Frage gestellt. Insoweit kann gemäß § 543 Abs. 1 2. Hs. ZPO von einer rein wiederholenden Darstellung abgesehen und auf die Entscheidungsgründe (LGU 5 letzter Absatz bis LGU 6 vorletzter Absatz) verwiesen werden.
Der vom Landgericht in der Verabreichung des Frühstücks gesehene Versorgungsfehler, der dann auch noch als grob eingestuft wird, entbehrt jedoch jeglicher verfahrensfehlerfrei zustandegekommener medizinischer Tatsachenfeststellungen.
Der erstinstanzlicher Parteivortrag befasst sich mit dahingehenden möglichen Pflichten des Behandlungs- und Pflegepersonals des Beklagten nicht. Ebensowenig wird dies von den medizinischen Sachverständigen erörtert. Der Schlichtungsgutachter hält im Gegenteil das therapeutische Vorgehen für fehlerfrei und auch der gerichtliche Sachverständige will im Zusammenhang mit der objektiv früher vorzunehmenden Operation keinen Behandlungsvorwurf erheben, weil dies das Erkennen des außerordentlich selteneren Kompartmentsyndroms vorausgesetzt hätte, was ihm nur aus der Retrospektive möglich gewesen sei.
Erstmalig das Landgericht stellt die Behauptung auf, die es sodann zugleich auch als medizinische Feststellung trifft, die beschriebene Ausweitung des Hämatoms habe für die behandelnden Ärzte am Morgen des 3O.1.1991 bereits um 5.OO Uhr die Pflicht begründet, wenigstens mit der Möglichkeit eines Kompartmentsyndroms zu rechnen; die "Ausfallerscheinungen belegten zu dieser Zeitpunkt die eventuelle Notwendigkeit einer chirurgischen Intervention (als) offenkundig".
Woher die Kammer die für die Beurteilung dieser medizinischen Ausgangsfrage nötige Sachkunde hat, wird nicht mitgeteilt und ist auch sonst nicht ersichtlich. Auf die sachverständige Beratung kann sie sich nicht stützen. Selbst der gerichtliche Sachverständige bestätigt insoweit, dass über Nacht eintretende und erst am Morgen zu bemerkende Arm-Plexus-Schädigungen ganz andere Ursachen haben können, die durch chirurgische Entlastungen nicht zu beeinflussen sind. Wann die für die Möglichkeit einer Operationsentscheidung wesentlichen Indikatoren der neurologischen Defizite und mit welcher Dringlichkeit aufgetreten sind, ist dagegen einer Klärung nicht mehr zugänglich. Selbst massive Weichteilschwellungen mit Schmerzzuständen führen nicht unbedingt zu einem operativen Eingriff. Lässt sich aber nicht mehr feststellen, ob bereits vor der Frühstücksausgabe solche für die Ärzte der Beklagten erkennbare Anzeichen vorlagen, die jedenfalls wie von der Berufung zu Recht an den Ausgang ihrer Erwägungen zum Haftungsgrund gestellt - die Möglichkeit einer Operation unter Narkose eröffneten und ggf. nahelegten und deren Übersehen den behandelnden Ärzten auch vorzuwerfen ist, scheidet eine Pflichtverletzung wegen nicht unterbundener Verteilung des Frühstücks aus.
Für die Würdigung dieses Verhaltens als Verstoß gegen elementare ärztliche Behandlungspflichten, das einem Arzt mit fachärztlichen Fähigkeitsstandard schlechterdings nicht passieren darf, fehlt darüber hinaus jeder Anhalt. Auch die Klägerin stellt dieses vom Landgericht herausgebildete Haftungsgeschehen nicht unter Beweis.
Der Senat hat ebenfalls nach den vorstehenden Ausführungen keinerlei Anlass, von sich aus insoweit zusätzliche sachverständige Beratung einzufordern.
Für den Nachweis des Zusammenhangs zwischen zu später chirurgischer Intervention und den jetzt beklagten Schäden stehen der Klägerin daher keine Beweiserleichterungen zur Verfügung. Da es dem gerichtlichen Sachverständigen zu Folge offen ist, ob eine Operation auch bereits um 8.OO Uhr die Nervenschädigung noch verhindert hätte, scheitert eine Haftung des Beklagten auch an dem der Patientenseite obliegenden Kausalitätsbeweis.
Auf Grund der bestehenden Beweissituation ist von einem versorgungsfehlerfreien Vorgehen des Behandlungsund Pflegepersonals der Beklagten auszugehen, das die Beschwerden der Klägerin auch nicht herbeigeführt hat, sodass der Berufung mit den Nebenfolgen aus §§ 91 Abs. 1, 7O8 Nr. 1O, 713, 546 ZPO insgesamt stattzugeben und die Klage abzuweisen war.