Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 10.12.2001, Az.: 6 A 1977/98

Abschiebungshindernis; Fonds Sozialhilfe Solidarität; Gesundheitssystem; Gesundheitszustand; Grundversorgung; Grüne Karte; medizinische; Minderwuchs; Strabismus; Türkei

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
10.12.2001
Aktenzeichen
6 A 1977/98
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 40204
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Die Klägerin ist am 31. Dezember 1995 in C. geboren und türkische Staatsgehörige kurdischer Volkszugehörigkeit.

2

Ihr Vater - geboren 15. Juni 1968 -, ihre Mutter - geboren 1. Juli 1969 - und ihr Bruder E. - geboren 25. März 1992 - reisten ihren Angaben zufolge im August 1994 in das Bundesgebiet ein. Im Februar 1995 stellten sie Asylanträge. Die Eltern der Klägerin wurden zu ihren Asylgründen am 10. Februar 1995 in Lüneburg angehört. Wegen des Ergebnisses wird auf die Anhörungsniederschriften vom gleichen Tage verwiesen.

3

Mit Bescheid vom 18. April 1995 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die Anträge der Eltern der Klägerin und ihres Bruders auf Anerkennung als Asylberechtigte ab und stellte fest, dass bei ihnen weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes - AuslG - noch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen. Daraufhin haben die Eltern und der Bruder der Klägerin am 24. April 1995 bei dem Verwaltungsgericht Lüneburg Klage erhoben.

4

Die auf Anerkennung als Asylberechtigte gerichtete Klage haben die Eltern und der Bruder der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 15. Juli 1998 zurückgenommen. Das Verwaltungsgericht Lüneburg hat die Eltern der Klägerin in der mündlichen Verhandlung informatorisch gehört und zu dem Beweis erhoben durch Vernehmung eines Zeugen. Wegen des Ergebnisses der informatorischen Anhörungen und der Zeugenvernehmung wird auf die Verhandlungsniederschrift verwiesen.

5

Mit Urteil vom 15. Juli 1998 - 5 A 580/95 - hat das Verwaltungsgericht Lüneburg das Verfahren eingestellt, soweit die Eltern und der Bruder der Klägerin ihre Klage bezüglich der Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte zurückgenommen haben. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Den Antrag der Eltern und des Bruders der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil hat das Nds. OVG mit Beschluss vom 11. August 1998 - 11 L 3636/98 - abgelehnt. Auf die Gründe der beiden Entscheidungen wird verwiesen.

6

Für die Klägerin hatten ihre Eltern nach ihrer Geburt zunächst einen Asylantrag nicht gestellt. Nachdem ihr eigenes Asylverfahren rechtskräftig negativ beendet war, stellten sie mit Schriftsatz des Rechtsanwalt K., S., vom 9. September 1998 nunmehr für die Klägerin einen Asylantrag. Zur Begründung verwiesen sie auf ihre eigenen Asylgründe; ihre Asylanträge seien zu Unrecht rechtskräftig abgelehnt worden. Wegen der weiteren Begründung wird auf den Schriftsatz vom 9. September 1998 verwiesen.

7

Mit Bescheid vom 9. November 1998, zugestellt am 12. November 1998, lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte als offensichtlich unbegründet ab. Zugleich stellte das Bundesamt fest, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG offensichtlich nicht vorliegen. Weiterhin stellte das Bundesamt fest, dass bei der Klägerin Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG ebenfalls nicht vorliegen, und forderte die Klägerin unter Abschiebungsandrohung zur Ausreise auf. Ferner sprach das Bundesamt aus, dass die Abschiebung gemäß § 43a Abs. 3 und 4 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG - nicht ausgesetzt wird.

8

Daraufhin hat die Klägerin am 20. November 1998 die vorliegende Klage erhoben und um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Abschiebungsandrohung nachgesucht. Zugleich hat sie beantragt, ihr gegen die Versäumung der Klage- und Antragsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Wegen der Begründung der Klage, des Eilantrages und des Wiedereinsetzungsantrages wird auf die Schriftsätze vom 18. und 20. November 1998 verwiesen.

9

Mit Beschluss vom 24. November 1998 - 4 B 1978/98 - hat das Verwaltungsgericht Stade den Antrag der Klägerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt. Auf die Gründe des Beschlusses wird Bezug genommen.

10

Die Klägerin hat das Klageverfahren weitergeführt.

11

Der Aufenthalt der Klägerin, ihrer Eltern sowie ihres Bruders wird von der Stadt Cuxhaven bisher geduldet, nachdem für die Klägerin geltend gemacht worden ist, dass bei ihr eine gestörte körperliche Entwicklung (Kleinwüchsigkeit, allgemeine sprachliche Entwicklungsverzögerung bei Zweisprachigkeit, Ernährungsstörung) vorliegt, und ein Strabismus convergens auf dem linken Auge festgestellt worden ist; insoweit ist im Januar 2001 eine Schieloperation im Zentralkrankenhaus S.-J.-S. durchgeführt worden.

12

Über die Anträge der Klägerin und ihrer Eltern und ihres Bruders auf Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen hat die Stadt Cuxhaven bislang noch nicht entschieden. Sie hat den Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit Schreiben vom 31. Oktober 2001 zu ihrer Absicht, die Anträge auf Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen abzulehnen, angehört.

13

In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin die Klage auf Anerkennung als Asylberechtigte und auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zurückgenommen.

14

Die Klägerin beantragt,

15

ihr wegen Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren,

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den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 9. November 1998, soweit dieser entgegensteht, aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass bei der Klägerin Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen.

17

Die Beklagte beantragt,

18

die Klage abzuweisen.

19

Der beteiligte Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hat sich zur Sache nicht geäußert.

20

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten 6 A 1977/98 (vormals: 4 A 1977/98) - 4 B 1978/98 und auf die beigezogenen Bundesamtsakten und Ausländerakten der Stadt Cuxhaven Bezug genommen. Außerdem haben dem Gericht die Gerichtsakten 1 B 241/00 VG Stade vorgelegen.

Entscheidungsgründe

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Soweit die Klägerin ihre Klage - hinsichtlich des Begehrens auf Anerkennung als Asylberechtigte und auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG - in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen hat, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

22

Die aufrechterhaltene Klage hat keinen Erfolg.

23

Zugunsten der Klägerin geht das Gericht davon aus, dass ihre Klage einer sachlichen Überprüfung zugänglich ist. Die Klage ist jedoch unbegründet.

24

Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG liegen bei der Klägerin nicht vor.

25

Ihrer Abschiebung in die Türkei stehen Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1 AuslG bzw. nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht entgegen. Nach diesen Vorschriften darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter (§ 53 Abs. 1 AuslG) bzw. der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (§ 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK) unterworfen zu werden. Insoweit muss eine konkrete Prognose im Hinblick auf eine individuelle Gefährdung des betroffenen Ausländers angestellt werden. Eine unmenschliche Behandlung muss aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte ernsthaft zu befürchten sein. Eine solche Gefahr ist im Falle der Klägerin - eines knapp 6 Jahre alten Mädchens - nicht feststellbar.

26

Für die Klägerin wird ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG geltend gemacht. Die Voraussetzungen für ein solches Abschiebungshindernis liegen bei ihr jedoch nicht vor.

27

Zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG reichen allgemeine Gefahren nicht aus (Amtliche Begründung, BT-Drs. 11/6321, S. 75). Es setzt vielmehr eine sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalles ergebende erhebliche individuell-konkrete Gefahr voraus (BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -). Eine solche Gefährdungssituation lässt sich bei der Klägerin nicht feststellen.

28

Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG sind bei ihr nicht im Hinblick auf ihren Gesundheitszustand anzunehmen. Zwar kann die Gefahr, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in dem Staat, in den er abgeschoben werden soll, verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind, ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG darstellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1997 - BVerwG 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383, 384 ff.; Urteil vom 21. September 1999 - BVerwGE 9 C 8.99 -). Ein solches zielstaatbezogenes Abschiebungshindernis liegt bei der Klägerin jedoch nicht vor.

29

In der Türkei garantiert das staatliche Gesundheitssystem eine medizinische Grundversorgung; daneben gibt es mehr und mehr leistungsfähige private Gesundheitseinrichtungen (vgl. hierzu und zum folgenden den Lagebericht des Auswärtigen Amtes - AA - vom 15. Juli 2001). Das türkische Gesundheitsministerium unterhält im ganzen Lande ein Netz staatlicher Krankenhäuser. Die Behandlung in diesen Krankenhäusern ist für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten unentgeltlich. Die Kosten mancher Medikamente werden teilweise von den Versicherten getragen. In der staatlichen Krankenversicherung sind Erwerbstätige und ihre Familienangehörigen versichert. Die Behandlung in den staatlichen Zentren für Mutter und Kind sowie Familienplanung ist generell unentgeltlich (AA, wie vor).

30

Bedürftige haben das Recht, sich von der Gesundheitsverwaltung eine "Grüne Karte (yesil kart) ausstellen zu lassen. Die Voraussetzungen, unter denen mittellose Personen in der Türkei die Grüne Karte erhalten, ergeben sich aus dem Gesetz Nr. 3816 vom 18. Juni 1992 (AA, wie vor; siehe auch das Gutachten von S. Kaya an das VG Bremen vom 10. Februar 2001). Diese Karte berechtigt zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung. Sie kann beantragt werden, wenn ein Wohnsitz in der Türkei besteht. Die Zeit, die zwischen Antragstellung und Erteilung der Karte verstreicht, beträgt normalerweise etwa 6 bis 8 Wochen (AA, wie vor). Das türkische Gesundheitsministerium hat dem Auswärtigen Amt bestätigt, dass bei akut erkrankten Personen eine Sofortbehandlung möglich ist (vgl. auch dazu den Lagebericht vom 15. Juli 2001).

31

Die yesil kart-Inhaber können sich bezüglich der Behandlungskosten, die nicht vom Staat getragen werden, an die Stiftung für Sozialhilfe und Solidarität wenden. In § 11 des Gesetzes Nr. 3816 ist festgelegt, dass die yesil kart-Inhaber die Honorare und Aufwendungen für Gesundheitsdienste, die nicht unter dieses Gesetz fallen, vom Fonds für Sozialhilfe und Solidarität finanziert erhalten (vgl. Kaya, a.a.O.). Die Stiftung für Sozialhilfe und Solidarität ist in jeder Provinz und jedem Kreis unter dem Vorsitz des jeweiligen Regierungsvertreters (Gouverneur bzw. Landrat) vertreten. Die Ausgaben und Zahlungen dieser Stiftungen werden vom Fonds für Sozialhilfe und Solidarität geleistet, der gemäß Gesetz Nr. 3294 - Gesetz für die Förderung sozialer Hilfe und Solidarität - eingerichtet wurde (Kaya, a.a.O.). Der Inhaber der yesil kart muss dort für nicht bezahlte Gesundheitsdienste sowie Rezepte für Medikamente und Orthoprothesen den ärztlichen Bericht und das Rezept sowie eine Rechnung vorlegen. Wie ein Mitarbeiter der Stiftung mitteilte, bleibt die Unterstützung eines yesil kart-Inhabers zwar dem Ermessen vorbehalten, und es werden auch nicht alle Kosten übernommen. Seinen Angaben zufolge trägt die Stiftung für Sozialhilfe und Solidarität jedoch den Großteil der Kosten für chronisch Kranke, die regelmäßig Medikamente einnehmen und regelmäßig kontrolliert werden müssen (Kaya, a.a.O.).

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Dabei ist in den großen Städten und für Personen mit den erforderlichen Mitteln in der Türkei eine medizinische Versorgung im Allgemeinen auf demselben Niveau möglich wie in Deutschland (AA, wie vor). Im Osten des Landes, außerhalb der Städte und/oder für mittellose Personen dagegen liegt das Versorgungsniveau unter dem deutschen (AA, wie vor; siehe auch den vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Bericht von Dr. Gisela Penteker - IPPNW - vom Mai 2001 Es geht um die Menschen - nicht um den Heiligen Staat). Deshalb ist bei der Frage, ob ein Abgeschobener nach seiner Ankunft in der Türkei adäquat medizinisch versorgt sein wird, nicht nur zu klären, welcher Versorgungsstandard zugrunde gelegt wird, sondern auch, an welchen Ort oder in welcher Region in der Türkei der Betroffene zurückkehren wird (AA, wie vor).

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Hier ist im Rahmen der anzustellenden Prognose davon auszugehen, dass die Klägerin nicht allein, sondern vielmehr zusammen mit ihren Eltern, deren Asylanträge rechtskräftig abgelehnt worden sind, in die Türkei einreisen wird. Die Eltern der Klägerin sind dabei nicht gezwungen, wieder in die Osttürkei zurückzukehren. Vielmehr steht ihnen, wie in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 15. Juli 1998 zutreffend festgestellt worden ist, die Möglichkeit offen, sich in der Westtürkei - etwa in den Großstädten Ankara oder Istanbul - niederzulassen.

34

Es ist nicht ersichtlich, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin bei einem Aufenthalt in der Türkei wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde.

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Ausweislich der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Stellungnahme des Zentralkrankenhauses S.-J.-S. in Bremen vom 10. September 2001 ist die Entwicklung der Klägerin sehr erfreulich verlaufen. Ihre Körperlänge beträgt jetzt 100 cm. Sie hat wesentlich schneller als perzentilenparallel zugenommen, was eine sehr erfreuliche Entwicklung ist. Dies gilt insbesondere, wenn man bedenkt, dass die Körperlängen der Eltern der Klägerin lediglich 161 cm - Mutter - bzw. 164 cm - Vater - betragen. Zwar muss das weitere Aufholwachstum der Klägerin nach dem Bericht des Zentralkrankenhauses Sankt-Jürgen-Straße vom 10. September 2001 kontrolliert werden, am besten in monatlichen Abständen kinderärztlicherseits. Hiernach gibt es schon keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass bei der Klägerin im Zusammenhang mit dem geltend gemachten Minderwuchs eine ernsthafte Erkrankung vorliegt. Die angesprochene ärztliche Kontrolle des weiteren Aufholwachstums kann auch in der Türkei durchgeführt werden. Der Strabismus kann ebenfalls in der Türkei behandelt werden.

36

Auch die gegen die Klägerin gerichtete Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung des Bundesamtes in dem angefochtenen Bescheid sind rechtlich nicht zu beanstanden. Sie finden ihre Rechtsgrundlage in den §§ 34, 36 Abs. 1 AsylVfG; 50 AuslG.